The inner Protestant controversies after 1548 represent a public battle for the sovereign interpretation of Reformation doctrine. In the process, expletives were used in the sense of a political-theological framing. The terms used in the various controversies and their respective interpretations were intended to generate images and emotions in the minds of the recipients in order to influence the understanding of the texts and the classification of the events; or the recipients could feel confirmed in their already existing perception of the world and of events by the terms used and interpreted in the publications. Since words, taken from various contexts, were functionalised as expletives, an expansion of German can be observed, which made it necessary to improve the recipient’s education.
Keywords
- öffentliche Kontroversen
- Deutungshoheit
- framing
- Innovationspotenziale
- Wissenstransfer
- Schimpfwort – public controversies
- sovereign interpretation
- framing
- innovation potentials
- transfer of knowledge
- expletives
„Gleichwie die Biene ein Tierlein ist, das zum Honigsammeln geschaffen ist, aber doch einen Stachel hat, so ist auch kein Prediger eines so gütigen Geistes, der nicht bisweilen wegen der Bosheit und Undankbarkeit der Welt auch zürnen und stechen müsste“, formulierte Martin Luther in einer seiner Tischreden. Luther (1533) Tischreden (WA TR), Nr. 3293a, S. 254: „Sicut apis animal natum ad colligendum mel habet tamen stimulum, ita non est tam benigno animo praedicator, quem propter malitiam et ingratitudinem mundi non oporteat quandoque irasci et pungere.“ Die deutsche Übersetzung findet sich in: Luther deutsch (1960), Nr. 307, S. 138. Luther machte Zwingli und seinen Anhängern den Vorwurf, angeblich keine klare, eindeutige Auffassung von den Einsetzungsworten zu besitzen. Vgl. Luther (1528) Vom Abendmahl. Bekenntnis, S. 266, 8–25.
In der Reformation war es ein wesentliches Ziel von Streitbeteiligten, die eigene Position den Rezipienten möglichst klar, das heißt, bildlich einprägsam zu vermitteln. Gleichzeitig sollten die Standpunkte des Opponenten ebenso eindeutig als unsinnig, widersprüchlich, irrig, falsch usw. kategorisiert werden. Die Bildung und die bestimmte Verwendung von Ausdrücken und Worten mit Signalwirkung war somit ein Grundcharakteristikum von Streit. Invektiven, Parolen und Slogans erwiesen sich dabei als besonders geeignet, um argumentative Verdichtungen vorzunehmen und komplexe Streitgegenstände oder Problemlagen griffig zuzuspitzen und für die Rezipienten anschaulich zu illustrieren. Durch die Einprägsamkeit konnte das invektive Potenzial in Schlagworten, Schlüsselbegriffen und schimpflichen Bezeichnungen seine volle Wirkung entfalten. Es wurden auf diese Weise Frames entwickelt und verbreitet, die Deutungen im Streit – über Ursprung, Verlauf, Gegenstand, die jeweiligen Opponenten – vorgaben und die den Rezipienten in den unterschiedlichen Streitbeiträgen (in Flugschriften, Liedern, Predigten, Disputationsthesen usw.) wiederkehrend vermittelt wurden. Damit sollten die Rezipienten beeinflusst und emotionalisiert werden, um daraufhin eine Entscheidung für eine der jeweiligen Deutungen und damit für eine der durch die Reformation entstandenen verschiedenen theologischen Lehrpositionen zu fällen.
Dingel hat zur Erforschung der nachinterimistischen innerevangelischen Kontroversen des 16. Jahrhunderts den Terminus der ‚Streit- bzw. Kontroverskultur‘ als wissenschaftlich-heuristischen Begriff in die Forschungsdebatte eingebracht. Vgl. z.B. Dingel (2007) Streitkultur und Kontroversschrifttum; Dingel (2013) Zwischen Disputation und Polemik.
Vor dem Hintergrund solcher medien- und kommunikationstheoretischen Überlegungen sowie um unseren Forschungsgegenstand auf eine neue Weise zu präsentieren und zu veranschaulichen, haben Hans-Otto Schneider und ich im Jahr 2015 die Internetplattform unseres Projekts Vgl. www.controversia-et-confessio.de (letzter Zugriff: 28.11.2020). Vgl. auch Lies/Schneider (2021): 95 Schimpfwörter
In der germanistischen Forschung wurde bereits vor Jahrzehnten darauf verwiesen, welch eminente Bedeutung die Reformation für die Entwicklung des Deutschen besessen hat, denn „Bibelzitat und reformatorisches ‚Schlagwort‘ werden zum kulturellen Schibboleth Unter Rückgriff auf die alttestamentliche Erzählung im Buch der Richter (Ri 12,5f.), dass Gilead alle diejenigen von seinen Truppen niedermachen ließ, die das Wort Shibboleth nicht korrekt aussprechen konnten, wird Shibboleth heute im Sinne von ‚Kennwort‘ oder ‚Codewort‘ verstanden, mit dem sich der Sprecher als einer speziellen sozialen Gruppe oder aus einer spezifischen Region gebürtig zu erkennen gibt. Schmidt (1968) Drucksprache, S. 394. Vgl. z.B. Nelson (1992) Sprichwörtliches in der antilutherischen Polemik; Cornette (1997) Proverbs and Proverbial Expressions.
An der Kategorie ‚Schlagwort‘ In der Linguistik wird damit ein Ausdruck, ein Spruch oder auch ein Wort bezeichnet, der/das dazu dient, spezifische Sachverhalte zu verdichten und damit knapp, prägnant und überzeugend dem Publikum (Leserschaft, Hörerschaft) zu präsentieren. Vgl. dazu Niehr (2007) Art. Schlagwort; Kaempfert (1990) Schlagwörter. Ladendorf (1906) Historisches Schlagwörterbuch. Meyer (1900) Vierhundert Schlagworte. Lepp (1908) Schlagwörter des Reformationszeitalters, S. 1. Vgl. Guchmann (1974) Sprache; Diekmannshenke (1992) Schlagwörter der Radikalen; Wolter (2000) Schlagwörter; Honecker (2002) Vorreformatorische Schlagwörter.
Mit Blick auf die Arbeit von Lepp kritisierte Diekmannshenke, dass darin nicht nur Schlagworte, sondern auch Schimpfworte zusammen aufgelistet würden. Vgl. Diekmannshenke (1992) Schlagwörter der Radikalen, S. 10. Zur Definition der beiden Wortgattungen vgl. Baur (2012) Art. Beleidigung; Niehr (2007) Art. Schlagwort; Kaempfert (1990) Schlagwörter. Vgl. dazu Baur (2012) Art. Beleidigung; Schneider (1992) Art. Begriff: Antike, Mittelalter; Majetschak (1992) Art. Begriff III. Neuzeit.
Nach Erlass des kaiserlichen Religionsgesetzes (Augsburger Interim) 1548, das den Protestanten gebot, keine weiteren Veränderungen in Lehre und Kultus vorzunehmen, sondern ihnen allein Priesterehe und das Abendmahl unter beiderlei Gestalt (Nießung von Leib und Blut Christi durch Reichung von Brot und Wein) zugestand, Vgl. Mehlhausen (1970) Augsburger Interim. Vgl. Dingel (2012) Der Adiaphoristische Streit. Flacius (1558) Die vornehmlichsten adiaphoristischen Irrtümer. Menius (1557) Kurzer Bescheid, F 2v. Major (1562) Widmungsvorrede. Prima par homeliarum. So sieht z.B. Diekmannshenke die Rede vom ‚gemeinen Nutzen‘ als Beispiel für die Verwendung eines ‚Schlagwortes‘, während Seresse die Wendung ‚gemeiner Nutzen‘ als Schlüsselbegriff wertet. Vgl. Diekmannshenke (1992) Schlagwörter der Radikalen, S. 219–224; Seresse (2008) Einführung, S. 7. Vgl. dazu Matthes (2007) Framing-Effekte; ders. (2014) Framing; Dahinden (2018) Framing.
To frame is to select some aspects of a perceived reality and make them more salient in communicating text, in such way as to promote a particular problem definition, causal interpretation, moral evaluation, and/or treatment recommendation for the item described,
so lautet eine weit verbreitete Definition Entmans, Entman (1993) Framing, S. 52. Vgl. Schneider (2005) Das Buch als Wissensvermittler, S. 71. Vgl. die Veröffentlichungen des Mainzer Forschungs- und Editionsprojekts
Da Politiker und Theologen zwischen 1548 und 1580 unter Zuhilfenahme medialer Ressourcen um das theologische Erbe Martin Luthers stritten, wird hier in der Folge unter Framing ein strategisches Framing verstanden. Vgl. z.B. Fröhlich/Rüdiger (2006) Framing. Habermas (2006) Political communication, S. 417. Vgl. Köhler (Hg.) (1981) Flugschriften als Massenmedium. Dabei wurden Formen und Methoden von Anwesenheitskommunikation in eine durch Druckerzeugnisse geführte Distanzkommunikation aufgenommen. So wurde z.B. das in der Disputation angewendete Prinzip von Rede und Gegenrede in das Kontroversschriftum übertragen. Vgl. Dingel (2007) Streitkultur und Kontroversschrifttum; dies. (2013) Zwischen Disputation und Polemik. Zur Vorbildfunktion der Methodik von und der rhetorischen Techniken in Disputationen für die Streitigkeiten des 16. Jahrhunderts vgl. auch dies. (2018) Disputation. Vgl. Lies/Schneider (2016) Medienereignis und Bekenntnisbildung; Sandl (2011) Medialität und Ereignis. Vgl. dazu Matthes (2007) Framing-Effekte, besonders S. 35–38; Dahinden (2018) Framing, S. 61–67. Dahinden (2018) Framing, S. 65. Vgl. Matthes (2007) Framing-Effekte, S. 36. Matthes (2007) Framing-Effekte, S. 35. Matthes (2007) Framing-Effekte, S. 36. Matthes (2007) Framing-Effekte, S. 39 mit weiterführender Literatur.
Nach Dahinden lassen sich drei wesentliche Grundelemente von Framing aufzeigen. Dies ist zum einen eine Themenunabhängigkeit und Transferierbarkeit des Grundmusters, zum anderen die parteiische Darstellung von Konflikten, die Bewertungen provoziert und impliziert, zum dritten, dass die Frames jeweils selbst zum Streitgegenstand werden. Vgl. Dahinden (2018) Framing, S. 19.
Es ist unbestreitbar, dass klassische Invektiven der Zeit wie ‚Fuchsschwänzer‘, ‚Ohrenkrauer‘, ‚Pflaumenstreicher‘ und ‚Diltap‘ universell anwendbar waren. Sie dienten losgelöst vom Streitgegenstand zur Diskreditierung des Gegners als Opportunist oder Dummkopf, wobei durch die antagonistische Kommunikationssituation die Kommunikatoren sich selbst als aufrechte, standhafte, ehrliche, redliche Verteidiger der Wahrheit präsentierten, ohne dies ausdrücklich sagen zu müssen. Ebenso unabhängig vom Streitthema ließen sich Neologismen wie ‚Fladenweiher‘, ‚Akzidenzschmierer‘, ‚Saucerdos‘, ‚Drecktätlein‘, ‚Papagei-Theologe‘ usw. jederzeit verwenden, um Deutungen anzubieten, mit deren Hilfe die Behauptung einer objektiven Wahrheit auf der eigenen Seite sowie die Assoziation des Gegners mit Irrlehren, sogar dem Bösen schlechthin erfolgte.
Im Folgenden wird nach Übertragungen von pejorativ verwendeten Schlüsselbegriffen und Schlagworten und nach der Funktionsweise von Frames in den innerevangelischen Kontroversen gefragt, um die strategischen Ziele in der Verwendung von Schimpf- und Schlagworten in den Kontroversen zu veranschaulichen. Eigentlich wurden in den theologischen Streitigkeiten der Reformationszeit differenziert zu betrachtende Fragestellungen verhandelt. Mittels einer bildhaften Sprache sollte zum einen die je eigene Deutung des Streits gesteuert werden. Zum anderen erfüllten die von den Kontrahenten teils unterschiedlich verwendeten Worte im Streit die Funktion von konfessionellen‘ Markern, Vgl. Jörgensen (2014) Konfessionelle Selbst- und Fremdbezeichnungen.
In seiner Definition nennt Entman vier Elemente, die zu einer Konkretisierung des Begriffs Framing beitragen sollen. Es handelt sich dabei um eine Problemdefinition, eine Ursachenzuschreibung, eine moralische Bewertung und eine Handlungsempfehlung. Vgl. Entman (1993) Framing, S. 52; siehe auch Dahinden (2018) Framing, S. 14.
Allerdings wäre mit Blick auf die Umstände des 16. Jahrhunderts zu konkretisieren, dass die Zeitgenossen keineswegs nur eine moralische, sondern zusätzlich eine theologische Bewertung vornahmen. Das heißt, dass z.B. Flacius und seine Anhänger die Anwendung der Lehre von den Adiaphora nicht allein als ethisch verwerflich ansahen, sondern vor dem Hintergrund der damaligen apokalyptischen Zeit- und Weltdeutung Vgl. dazu Leppin (1998) Antichrist und Jüngster Tag.
Doch nicht nur Wortschöpfungen, um die Gegner in Gruppen zu fassen und damit zu kategorisieren und zu charakterisieren, lassen sich zum Nachweis von Framing in der Reformationszeit heranziehen. Auch zentrale theologische und politische Schlüsselbegriffe wurden im Sinne der jeweils eigenen Deutung interpretiert. Hierfür sei insbesondere auf das Wort ‚Interim‘ verwiesen. Zunächst ließe sich unter Rückgriff auf die Entman’sche Definition das Narrativ herausarbeiten: Die Bestimmungen des Augsburger Interims [
Die Evangelischen im Reich verbanden seit dem Erlass des kaiserlichen Religionsgesetzes im Jahr 1548, dem Augsburger Interim, die Vorstellung von Zwang, Bedrohung, politischer Anmaßung, Verrat am evangelischen Bekenntnis und Opferung der göttlichen Wahrheit. Vgl. dazu Dingel (Hg.) (2010) Reaktionen auf das Augsburger Interim. Vgl. dazu Herrmann (1962) Augsburg – Leipzig – Passau. Vgl. dazu Dingel (Hg.) (2012) Der Adiaphoristische Streit, besonders Nr. 4, S. 357–440. Vgl. Preger (1964) Matthias Flacius II
Schließlich lässt sich Framing anhand von schimpflichen Bezeichnungen wie ‚Ekelheiliger‘ nachweisen. Ein nicht näher bestimmbares Autorenkollektiv, das sich „Wittenberger Studenten“ nannte, bezeichnete Flacius auf diese Weise. Wittenberger Studenten (1560) Summa und kurzer Auszug, S. 934,18f.
Die in den verschiedenen Kontroversen verwendeten Bezeichnungen und ihre jeweilige Deutung sollten mithin dazu dienen, in der Gedankenwelt der Rezipienten Bilder und Emotionen zu erzeugen, um so das Verständnis der Texte und die Einordnung der Geschehnisse zu beeinflussen; bzw. konnten die Rezipienten sich durch die in den Publikationen verwendeten und gedeuteten Bezeichnungen in ihrer bereits vorhandenen Wahrnehmung von Welt und von Ereignissen bestätigt fühlen. So kam es unter den Streitbeteiligten zu erheblichen und durchaus gewollten Differenzen in den Bereichen der Semantik und der Pragmatik. Matthias Flacius verwendete z.B. das an sich zunächst unauffällige Wort ‚Dompropst‘ als Epitheton für seinen Kontrahenten Johann Pfeffinger. Er tat dies aber nicht, um den Lebenslauf Pfeffingers kenntnisreich darzulegen, und er intendierte damit ebenso wenig, die bekannte Funktion eines Propstes, als des Leiters der äußeren Geschäfte und Angelegenheiten eines Domkapitels, zu benennen. Vielmehr war es in der konkreten Kommunikationssituation Im Jahr 1550 befand sich der Streit um die Adiaphora auf einem Höhepunkt. Vgl. Matthias Flacius (1550) Widder die newe Reformation D. Pfeffingers.
Im Zuge der Vorgabe eines Deutungsmusters fungierte dann z.B. ein Wort wie ‚Fladenweiher‘ im Sinne einer Entsakralisierung, da die liturgischen Zeremonien der Gegner der Lächerlichkeit preisgegeben werden sollten. Ähnliches geschah, wenn Personen mit Epitheta belegt, in Verbindung mit negativ erinnerten Persönlichkeiten der Vergangenheit gebracht oder mit Charakteren aus der Mythologie und der Literatur parallelisiert wurden. Worte wie ‚Mameluck‘, ‚Ahitophel‘, ‚Gnatho‘, ‚Proteus‘ usw. sind hierfür beispielhaft. Denn die so bezeichneten Kontrahenten wurden der Leserschaft als Glaubensabtrünnige oder als schlechte, verschlagene Ratgeber vorgeführt und damit als unglaubwürdig denunziert. Ihre Meinungsäußerungen wurden somit nicht nur zurückgewiesen, sondern den Rezipienten wurde vermittelt, dass man die vergangenen sowie die zukünftig zu erwartenden Streitbeiträge der so angegriffenen Personen schlicht als unglaubwürdig und daher als irrelevant ansehen solle. Eben in dieses Deutungsraster fielen auch Bezeichnungen wie ‚Dr. Geitz‘ für Georg Major oder ‚Dr. Interim‘, wahrscheinlich für Joachim Camerarius d.Ä., die als Angriffe ad personam fungierten. Auf diese Weise sollte die gezielte Identifizierung einer speziellen Person mit negativen Attributen – bei ‚Dr. Interim‘ die Verbindung zu einer als widergöttlich angesehenen Machtpolitik, bei ‚Dr. Geitz‘ oder ‚Geldnarr‘ mit einem behaupteten korrupten Opportunismus – erfolgen und so der jeweilige Gegner verächtlich gemacht und als moralisch verwerflich diskreditiert werden. Streitschriften der so titulierten Gegner sollten demnach nicht als Produkte einer Wahrheitssuche, sondern als Erzeugnisse eines genuin weltlichen Machtstrebens bzw. der Korruption verstanden werden.
Besonders auffällig ist, dass für die Herabsetzung der Person des Flacius von seinen Gegnern immer wieder Tiermetaphern eingesetzt wurden. Damit ist nicht an ein eher klassisches Schimpfwort wie ‚Sauschwein‘ gedacht, dass sich an den biblischen Kontext des wilden Ebers anlehnt, der den Weinberg des Herrn verwüstet. Vgl. Ps 80,13f. Vgl. dazu z.B. die Angriffe des Justus Menius auf Flacius, abgedruckt in: Dingel (Hg.) (2014) Der Majoristische Streit, S. 393–438.
Für eine Betrachtung der verwendeten Kommunikationsstrategien der Streitbeteiligten im 16. Jahrhundert erweist sich die Zusammenstellung von Worten unterschiedlicher Gattungen unter dem Oberbegriff ‚Schimpfwort‘ somit als nützlich. Dies erscheint auch für eine Beschäftigung mit der Entwicklung der deutschen Sprache sinnvoll. Denn unter diesem Gesichtspunkt lässt sich die Erweiterung des Deutschen durch einen Wissenstransfer zwischen unterschiedlichen Wissensbereichen aufzeigen. In den theologischen Kontroversen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts war die Verwendung von biblischen Personen oder Worten aus der Bibel zur pejorativen Charakterisierung des jeweiligen Opponenten (z.B. ‚Mückensieber‘, ‚Kamelverschlinger‘, ‚Galater‘, ‚Perserfürst‘ usw.) selbstverständlich. Ebenso einleuchtend war die Übertragung von abwertenden Begriffen, vor allem Bezeichnungen von Ketzergruppen, aus der Kirchengeschichte auf die eigene Zeit (‚Pelagianer‘, ‚Katherer‘ usw.). Dieser theologisch und historisch motivierten Wahl von Worten und Gruppenbezeichnungen entsprach es, wenn in der Erinnerung negativ konnotierte Personen aus der antiken Philosophie oder der antiken Literatur bemüht wurden, um damit die eigenen Gegner zu attackieren (‚Epikur‘, ‚Sophisten‘, ‚Thraso‘ usw.). Gefährliche oder negativ dargestellte Gestalten der antiken Mythologie wurden aufgerufen (‚Proteus‘, ‚Empusa‘, ‚Centaurus‘) und auf die eigenen Gegner angewendet. Worte aus der griechischen Sprache (‚Pragmosiner‘) und aus volkstümlichen Erzählungen wie Schwankromanen wurden entlehnt, um Widersacher entweder als entscheidungslos und in ihren Ansichten schwankend (‚Markolf‘, der keinen Baum findet, um daran erhängt zu werden) oder als durch unsinnige Geschäftigkeit anderen nur ärgerliche Arbeit verursachend zu attackieren (‚Pragmosiner‘).
Zudem reflektierten die in den Streitigkeiten verwendeten Worte auch die Ereignisse und Prozesse der Reformation. Der unmittelbare, zeithistorische Kontext wurde somit in die Streitigkeiten einbezogen und es wurden Frames zum Umgang mit der Reformation und so mit der eigenen, erlebten Vergangenheit und Gegenwart gebildet. Dies gilt zum einen für die Verwendung von Gruppenbezeichnungen und den hinter deren Verwendung auffindbaren Intentionen (s.o. ‚Adiaphorist‘, ‚Flacianer‘). Zum anderen wurden Ereignisse aus der eigenen Zeitgeschichte aufgerufen, um den Gegner in negative Kontinuitätslinien zu rücken, z.B. ‚Schneiderkönig‘, womit auf Jan van Leiden, den ‚König der letzten Tage‘ in Münster 1534/35 angespielt wurde.
Damit wurden in der Reformationszeit Neologismen gebildet, für deren Verstehen es notwendig war, Hintergründe zu vermitteln, die zuvor eher in gelehrten Kreisen vorhanden waren. Die Sprache der Streitschriften, Vgl. Geisberg (Hg.) (1974) The German Single-Leaf Woodcut 1500–1550; Strauss (Hg.) (1975) The German Single-Leaf Woodcut 1550–1600. Vgl. Schade (1966) Satiren und Pasquille. Vgl. Liliencron (1966) Die historischen Volkslieder, hier besonders Bd. 4. Vgl. dazu die Veröffentlichungen von Vgl. Lies (2018) Autoritätenkonflikt und Identitätssuche. Luther (1524) An die Ratsherrn aller Städte deutschen Lands, S. 46, 12. Zur Bildungsfunktion des Buchs bei Luther vgl. Flachmann (1996) Martin Luther und das Buch, S. 119–174. Ickelsamer (1527) Die rechte weis aufs kürtzist lesen zu lernen, A 2r. Superskripte, Verkürzungen u.Ä. werden aufgelöst.
Doch der Erwerb der Schreib-, besonders aber der Lesekompetenz war auch für die Verwendung von Frames, die unter Rückbezug auf biblische, kirchenhistorische, mythologische Kontexte gebildet wurden, unerlässlich. Außerdem kam den Autoren der Streitbeiträge die Aufgabe zu, ‚Schimpfworte‘ so gezielt in ihren Texten einzusetzen, dass gegebenenfalls notwendige Verstehenshintergründe von den Rezipienten erschlossen werden konnten, oder die Verfasser mussten Erklärungen mitliefern. Dies geschah bei Schlagworten und Gruppenbezeichnungen (‚Adiaphorist‘, ‚Flacianer‘, ‚Synergist‘, ‚Interim‘ usw.) in allen Streitbeiträgen ohnehin, da die konkreten theologischen und politischen Streitgegenstände untrennbar mit solchen Worten verbunden waren. Sie bezeichneten den eigentlichen Streitgegenstand, ja stellten ihn in gewisser Weise dar. So wurde in den theologischen und politischen Kontroversen zum einem eine inhaltliche, thematische Auseinandersetzung und zum anderen ein davon nicht trennbarer medialer Kampf um Deutungshoheit über Begrifflichkeiten, Lehraussagen usw. sowie um Wirklichkeitskonstruktionen im Streit gerungen. Es wurden allerdings auch im Verwendungskontext explizit Erklärungen geliefert. So bezifferte Flacius z.B. die Höhe der Geldsumme auf 300 Gulden jährlich, die Pfeffinger für seine angebliche Willfährigkeit in der Frage der Adiaphora erhalten haben sollte, wenn er ihm Käuflichkeit unterstellte und ihn einen „Domprobst“ schalt. Vgl.
Die Streitigkeiten der Reformationszeit wie der nachinterimistischen Phase zeichnen sich durch den bewussten Einbezug der Rezipienten aus, da ihnen die Rolle einer Entscheidungsinstanz zugesprochen wurde. So publizierte Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt, bereits 1518 seine Karlstadt (1518) Defensio. Vgl. Hölscher (1978/2004) Art. Öffentlichkeit; speziell zur Reformationszeit vgl. Wohlfeil (1984) Reformatorische Öffentlichkeit; Talkenberger (1994) Kommunikation und Öffentlichkeit; vgl. zum Thema Öffentlichkeit und Nutzung von Medien im Zeitalter der Reformation: Sandl (2011) Medialität und Ereignis; Nieden (2012) Die Wittenberger Reformation als Medienereignis. Für die Etablierung einer „reformatorischen Öffentlichkeit“ war freilich nicht allein der Buchdruck sondern z.B. auch eine Beschleunigung im Nachrichtenaustausch maßgeblich mitverantwortlich. Vgl. dazu Behringer (2003) Im Zeichen des Merkur; ders. (2005) „Von der Gutenberg-Galaxis zur Taxis-Galaxis“. Forderten die Wittenberger zunächst eine ‚öffentliche‘ Begutachtung ihrer Lehren gegenüber den Romtreuen, so wurde diese Forderung wenig später von Thomas Müntzer gegen sie selbst erhoben. Vgl. Müntzer (1524) Protestation und Entbietung, besonders S. 286, 15–17; S. 286, 19–287, 2; S. 287, 12–14.
Nicht zuletzt daher leitete Martin Luther ab, dass
man mus nicht die buchstaben inn der lateinischen sprachen fragen, wie man sol Deutsch reden, wie diese esel thun, sondern, man mus die mutter jhm hause, die kinder auff der gassen, den gemeinen man auff dem markt drumb fragen, und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetzschen, so verstehen sie es den und mercken, das man Deutsch mit in redet. Luther (1530) Sendbrief vom Dolmetschen, S. 637, 17–23.
Es ging also darum, die eigenen Kommunikations- und Sprechakte an den Rezipienten zu orientieren. Dieser Hinweis galt keineswegs nur in Bezug auf die Bibelübersetzung, wie Luther hier anmahnte. Vielmehr stellte die Verwendung einfacher grammatikalischer Strukturen und von ‚Schimpfworten‘ einen allgemein zu beobachtenden Ausdruck von Popularisierung und damit der Einbeziehung der Rezipienten in Veröffentlichungsstrategien dar. Diese verfingen, denn gerade Publikationen mit einer an Invektiven reichen Sprache besaßen, unabhängig von der jeweiligen Textsorte, ein erhebliches Mobilisierungspotenzial und stießen offenbar auf ein großes Interesse, was Eberlin von Günzburg zu einer Kritik an den Druckern veranlasste:
Sihe zu, wie vnbedacht fallen die Drucker auff die Bͤucher oder exemplar, vngeacht ob ein ding bͤoß oder gut sey, gut oder besser, zimlich oder ergerlich, sie nehmen an schantbͤucher, bulbucher, ihufflieder [derbe Spottgesänge, J.M.L.] vnd was fur die hand kompt vnd scheinet zutreglich dem seckel […]. Eberlin von Günzburg (1524) Mich wundert das kein gelt ihm land ist, B 4v.
Abseits der topischen Kritik an Buchdruckern, dass sie einzig auf ihre finanziellen Vorteile bedacht seien, Vgl. Kaufmann (2019) Die Mitte der Reformation, S. 73–75. Vgl. die Forderungen der Bauern während des sogenannten Bauernkrieges, dazu: Blickle (1988) Der Bauernkrieg. Vgl. Arnold (1990) Handwerker als theologische Schriftsteller. Vgl. z.B. Ronner (1989) Hartmut XII. von Kronberg; Müller (2015) Hartmuth von Cronberg. Vgl. Kommer (2016) Flugschriftenautorinnen der frühen Reformationszeit. Vgl. Lies (2013) Zwischen Krieg und Frieden, S. 174f., mit Anm. 228. Vgl. Dingel (Hg.) (2016) Der Antinomistische Streit, S. 111–113, 303f., 323f., 351.
Es darf nämlich nicht vergessen werden, dass keineswegs nur der literate Teil der damaligen Bevölkerung Zugang zu diesen Formen von Öffentlichkeit besaß, sondern auch der illiterate Teil durch Vorlesen und Hören von Flugschriften, Liedern und Predigten sowie Betrachten publizistisch verbreiteter Bilder, Holzschnitte und Kupferstiche. Aufgrund des Einbezugs der Rezipienten durch Verbreiterung von Bildung und durch Vorlesen usw. entstand ein „Gered“, wie es Friedrich Myconius ausdrückte, Myconius (1542) Historia reformationis, S. 23.
Diese so von Myconius geschilderte Situation in der Frühzeit der Reformation wurde zu einem Charakteristikum der Kontroversen im 16. Jahrhundert. Auch in die innerevangelischen Kontroversen zwischen 1548 und 1580 wurden die Rezipienten bewusst einbezogen. Dies geschah durch die Verwendung intermedialer Formate (z.B. Flugblätter, die sich durch die Verbindung von Wort und Bild auszeichneten) Vgl. Oelke (1992) Konfessionsbildung. Vgl. Alber (1548) Dialogus. Vgl. Major (1553) Ein Sermon von S. Pauli … Bekehrung, S. 137–279. Vgl. zur Bedeutung und Verwendung von invektiven Paratexten speziell in den protestantischen Lügenden den Beitrag von Sablotny in diesem Sonderheft. Vgl. dazu Dingel (Hg.) (2012) Der Adiaphoristische Streit, besonders Nr. 4, S. 357–440.
Vor diesem Hintergrund erscheint für die Analyse eines politisch-theologischen Framings in der Reformationszeit nicht allein die Verwendung von Worten unterschiedlicher Gattungen unter der Rubrik ‚Schimpfwort‘ sinnvoll, sondern auch die Zusammenstellung von Worten aus verschiedenen Textsorten günstig. Denn keineswegs boten nur auf Zeichenverknappung zielende und damit Zuspitzung begünstigende Formate – Flugblätter, Flugschriften, und vor allem auch der für die Reformationszeit so wichtig werdende Druck von Liedern in Gesangbüchern – invektive Potenziale. Auch längere Formate, Predigten und Traktate, wurden genutzt, um die eigene Position als ‚wahre Lehre‘ zu erweisen und die Gegner unter Einsatz von ‚Schimpfworten‘ zu denunzieren, ihre Absichten zu diskreditieren und sie damit ins Unrecht zu setzen. Besonders eindrücklich sind hierfür die Vgl. Pfeffinger (1550) Gründlicher und wahrhaftiger Bericht, S. 655–730; Pfeffinger (1559) Nochmals gründlicher und wahrhaftiger Bericht, S. 221–265. Vgl. Alber (1548) Dialogus.
Die innerevangelischen Kontroversen nach 1548 können als ein öffentlich ausgetragener Kampf um Deutungshoheit über die reformatorische Lehre verstanden werden. Dabei gelangten Schimpfworte im Sinne eines politisch-theologischen Framings zum Einsatz. Die in den verschiedenen Kontroversen verwendeten schimpflichen Bezeichnungen und ihre jeweilige Deutung sollten dazu dienen, in der Gedankenwelt der Rezipienten Bilder und Emotionen zu erzeugen, um so das Verständnis der Texte und die Einordnung der Geschehnisse zu beeinflussen. Umgekehrt konnten die Rezipienten sich durch die in den Publikationen verwendeten und gedeuteten Bezeichnungen in ihrer bereits vorhandenen Wahrnehmung von Welt und von Ereignissen bestätigt fühlen. Die Verwendung von Schimpfworten aus diversen Kontexten besaß zugleich Innovationspotenziale für Sprache und Bildung, indem eine Erweiterung des Deutschen durch einen Wissenstransfer aus unterschiedlichen Wissensbereichen stattfand. Insofern fügte sich der für das Verständnis der Frames notwendige Wissenstransfer in die allgemeine Forderung der Reformatoren nach verbesserter Bildung ein und befeuerte diese zusätzlich. Denn Luther und andere Reformatoren drangen von Beginn der Reformation an auf eine Verbesserung der Bildung, um allen Menschen den Zugang zum Wort Gottes zu eröffnen, das sich in den biblischen Büchern mitteilte. Sie wollten daher die Bibel übersetzen und auch ihre, in diversen Schriften verbreitete Auslegung der biblischen Botschaft allen Menschen zugänglich machen, damit es jedermann möglich würde, sich entsprechend des im Wort ausgedrückten göttlichen Willens zu verhalten. In reformatorischem Verständnis bestand daher eine enge Verwobenheit von eigenen Lektüreerfahrungen (Bibel und reformatorisches Schrifttum) und Glaubenserfahrungen. Die aus solchen Überlegungen resultierenden Bildungsverbesserungen während der Reformationszeit und die sich wiederholenden Argumentationsgänge in den unterschiedlichen Veröffentlichungen eröffneten dann die Möglichkeit zum Verständnis der in den Kontroversen häufig verwendeten Frames, die mittels ‚Schimpfworten‘ verbreitet wurden. Die ‚Schimpfworte‘ avancierten damit zu Taktgebern, zu konfessionellen Markern im Streit und mit ihnen etablierte sich ein medial geführter Kampf um Deutungshoheit über die unterschiedlichen Lehraussagen neben und in den konkreten theologischen und politischen Kontroversen.
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