
Mit der Veröffentlichung seiner geographischen Dissertation bewegt sich Thomas Stinn in einem Forschungsfeld, das in den letzten Jahren in beachtenswerter Weise an Relevanz gewonnen hat. Die Problematik der Gestaltung und Aufrechterhaltung regionaler Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum, insbesondere im Kontext des demographischen Wandels, ist mittlerweile ein zentraler Diskussionsgegenstand sowohl in den originär raumbezogenen Wissenschaftsdisziplinen (vor allem Geographie und Raumplanung) als auch in der medizinischen Versorgungsforschung und den Pflegewissenschaften (vgl. z. B. Hilligardt 2010; Greß/Stegmüller 2011; Lessing/Herr 2015; Ried 2016). In der Geographie ist dieser Themenkomplex bisher vor allem Gegenstand der regionalen Versorgungsforschung, deren Ziel es ist, kleinräumige Versorgungsunterschiede zu analysieren (vgl. z. B. Augustin/Erasmi/Reusch et al. 2015; Stentzel/Berlin/Meinke-Franze et al. 2015; Wieland/Dittrich 2016). Die vorliegende Arbeit ist hingegen in einem
In seiner Untersuchung, die der Autor im einleitenden Kapitel des Buches als „angewandt-geographisch“ (S. 5) einordnet, beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit dem Konzept der Gesundheitsregionen und deren Rolle sowie der prinzipiellen Eignung des Konzepts für die Aufrechterhaltung medizinischer Versorgung in ländlichen Räumen. Es handelt sich kurzum um eine „Untersuchung und Evaluierung dieses Instruments“ (S. 6). Stinn fokussiert also ein informelles Regionalkonzept im Kontext des Gesundheitswesens und berührt somit Fragestellungen einerseits der Gesundheitssystemforschung und andererseits der Raumordnung und Wirtschaftsförderung.
Der übergeordnete Kontext wird im zweiten Kapitel erläutert, wobei der „ländliche Raum“ anhand der Siedlungsdichte (unter 150 Einwohner/km2) abgegrenzt wird. Das Hauptaugenmerk liegt hierbei auf dem festgestellten Widerspruch zwischen räumlichem Ausgleich im Sinne des Postulats gleichwertiger Lebensverhältnisse und der realen demographischen Entwicklung sowie der Entwicklung des Gesundheitswesens. Das dritte Kapitel stellt im Wesentlichen das theoretische Fundament der Untersuchung dar, wobei neben der Besprechung bisheriger Ansätze zur Sicherung der gesundheitsbezogenen Daseinsvorsorge und einer disziplingeschichtlichen und theoretischen Einordnung des Kontextes Geographie und Gesundheit auch eine Arbeitsdefinition und Typisierung des Konzeptes der Gesundheitsregionen vorgenommen wird. Im vierten Kapitel werden die Versorgungssituation im deutschen Gesundheitswesen und dessen raumwirksame Steuerungsinstrumente (z. B. Krankenhauspläne, kassenärztliche Bedarfsplanung) beschrieben.
Auf der Grundlage der vorherigen Überlegungen leitet Stinn im fünften Kapitel für seine empirische Arbeit vier Schlüsselthemen (Nachwuchsförderung, Akteurvernetzung, Telemedizin, Präventionsmaßnahmen) ab, die in Form von Bewertungskriterien operationalisiert werden. Anhand eines mehrstufigen Auswahlverfahrens werden drei Fallbeispiele identifiziert (Gesundheitsregionen Coburg, Göttingen und Carus Consilium Sachsen). Neben einer Auswertung von Sekundärdaten bilden leitfadengestützte Expertengespräche mit Akteuren aus dem regionalen Gesundheitswesen und eine standardisierte schriftlichpostalische Befragung niedergelassener Ärzte die empirische Basis. Nach einer Profildarstellung der Untersuchungsregionen im sechsten Kapitel erfolgt im siebten Kapitel die Auswertung der Ergebnisse, die in konkreten Handlungsempfehlungen (achtes Kapitel) münden. Die Ergebnisse werden themenspezifisch und teilweise regionsspezifisch bzw. regionübergreifend aufgegliedert dokumentiert, wobei qualitative und quantitative Erkenntnisse aufeinander bezogen werden.
Während sich die Gesundheitsregionen in ihrem Selbstverständnis, in der Beurteilung durch die Partnerakteure und – erwartungsgemäß – in der Beurteilung der regionalen Versorgungssituation unterscheiden, zeigt sich eine fallbeispielübergreifende Kritik an verschiedenen Aspekten des Gesundheitswesens (insbesondere Honorarpolitik für Ärzte, Bedarfsplanung), die aus der Sicht der Befragten hemmend für die ländliche Versorgung wirken. Es sind ebenso vorrangig harte und weiche Standortfaktoren (z. B. soziale Infrastruktur) sowie arbeits- bzw. betriebsspezifische Aspekte (z. B. Vergütungen), denen im Kontext der Nachwuchsförderung eine große Bedeutung beigemessen wird. Im Hinblick auf das Themenfeld der Vernetzung konstatiert Stinn, dass das Konzept der Gesundheitsregionen offensichtlich „ausbaufähig“ (S. 180) ist, jedoch ein großes diesbezügliches Potenzial hat. Die weiteren Schlüsselthemen (Telemedizin, Präventionsmaßnahmen) werden ambivalent eingeschätzt. Auffällig ist eine Diskrepanz zwischen den Zielen und Aufgaben einer Gesundheitsregion und ihrer Wahrnehmung durch die niedergelassenen Ärzte, z. B. hinsichtlich deren Relevanz in der Außendarstellung (S. 170) oder deren Vernetzungscharakter (S. 180).
Insgesamt ist Stinns Urteil bezüglich des Konzeptes der Gesundheitsregionen „als durchaus mehrwertstiftendes informelles Instrument in der Unterstützung der medizinischen Versorgungssicherung im ländlichen Raum“ (S. 213) positiv, wenngleich die regionale Präsenz beim Blick auf die Akteure des Gesundheitswesens noch nicht befriedigend ist. Weiterhin scheinen exogene Missstände im deutschen Gesundheitswesen die größten Hürden darzustellen. Aus diesen Problemen leitet Stinn eine Reihe von Handlungsempfehlungen außerhalb des operativen Rahmens von Gesundheitsregionen ab (S. 216 ff.), spricht diesen aber die Funktion zu, „genau diese Missstände an die entsprechenden Gremien und politischen Instanzen zu adressieren und mit diesen alternative Wege zu entwickeln“ (S. 212).
Der allgemeine bzw. theoretische Teil der Publikation ist akribisch recherchiert und zugleich sehr gut nachvollziehbar aufgebaut. Dies ist vor allem deshalb erfreulich, da das (noch relativ junge) Konzept der Gesundheitsregionen bisher noch nicht systematisch wissenschaftlich untersucht wurde. Stinn tut dies aus dem Blickwinkel einer
Die Ergebnisse werden allerdings dahingehend eingeschränkt, dass die als Untersuchungsziel formulierte Evaluation von Gesundheitsregionen bezüglich der „aus und mit diesem Konzept resultierenden Wirkungen bzw. angestoßenen Entwicklungsimpulse im Hinblick auf die medizinische Versorgungssicherung für ländliche Räume“ (S. 89) in der empirischen Untersuchung weitgehend anhand von Leistungserbringern (vor allem Ärzte), Akteuren aus Politik und Verwaltung und den Gesundheitsregionen selbst vorgenommen wird. Dies erklärt auch, dass vor allem betriebswirtschaftliche Aspekte der Angebotsseite (insbesondere Honorarpolitik) als Hemmnisse regionaler Versorgung identifiziert werden. Eine empirische Wirkungsuntersuchung zu den faktischen Erfolgen von Gesundheitsregionen im Sinne einer Verbesserung der Versorgung (z. B. tatsächliche Ansiedlung oder Aufrechterhaltung von Arztpraxen in ländlichen Gebieten) ist nicht Gegenstand der Studie.
Zusammenfassend leistet Thomas Stinn mit der vorliegenden Publikation einen wertvollen und interessanten Beitrag zum Themenfeld der regionalen Gesundheitsversorgung aus humangeographischer Perspektive. Auch der genannte Kritikpunkt darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Untersuchung ausdrücklich empfehlenswert für verschiedene Interessentengruppen ist: Erstens für diejenigen, die sich allgemein einen Überblick zur Problematik von medizinischer Versorgung in peripheren Räumen und deren Ausgangsbedingungen verschaffen wollen – denn die Aufarbeitung der Problematik und die breite, ausdifferenzierte Quellenlage sind in dieser Form einmalig. Zweitens für diejenigen, die sich für geographische Perspektiven auf Gesundheitsversorgung abseits der quantitativ-modellanalytischen Perspektive der regionalen Versorgungsforschung interessieren. Drittens sei die Publikation jenen ans Herz gelegt, die – z. B. aus der Perspektive der Wirtschaftsförderung – das bisher wissenschaftlich nicht aufgearbeitete Konzept der Gesundheitsregionen studieren, diskutieren und bewerten (und vielleicht verbessern?) möchten.