
Guldin, Rainer (2014): Politische Landschaften. Zum Verhältnis von Raum und nationaler Identität. Bielefeld: transcript Verlag. 292 S., kart., zahlr. Abb
1992 veröffentlichte der Hamburger Kunsthistoriker Martin Warnke ein Buch mit dem Titel „Politische Landschaft. Zur Kunstgeschichte der Natur“ (Warnke 1992). So ist man gespannt, wenn nun ein Buch mit fast identischem Obertitel auf den Markt kommt. Der Unterschied im Zugang erschließt sich erst durch die jeweiligen Untertitel. Warnkes Untersuchung ist als eher enzyklopädische Rundumschau angelegt, die an einer weit gespannten Serie von Beispielen der Frage nachgeht, wie Landschaften in politischen Zusammenhängen mit Bedeutung aufgeladen wurden und vor allem, mit welcher Symbolik dies geschah. In derselben Tradition sind zuletzt die von Matthias Krüger bearbeiteten Beiträge im Handbuch der politischen Ikonographie (Krüger 2011a; Krüger 2011b) zu sehen. Ausgehend von der ikonographischen Tradition Aby Warburgs werden hier zeichenhafte Landschaftsausschnitte und Zeichen in der Landschaft, schwerpunktmäßig also die künstlerische Bearbeitung und Sicht auf Landschaft und ihre politische Indienstnahme untersucht.
Rainer Guldins Ansatz ist dagegen fokussierter und auf die Frage ausgerichtet, welche Funktionen Landschaften im Formierungsprozess der Nationen als einer politischen Leitkategorie des 19. Jahrhunderts erfüllen. Dabei geht er explizit über die Untersuchung des Zeichenhaften hinaus: „Landschaften sind weder einfache Gegebenheiten, die es gilt, durch objektivierende Verfahren einzufangen, noch kodierte Texte, die es interpretierend zu lesen gilt, sondern sozial relevante Prozesse kollektiver und subjektiver Identitätshervorbringung. Ihnen haftet somit etwas Dynamisches, Performatives an.“ (S. 9)
Diese Absicht verknüpft er mit dem 1983 von dem Politikwissenschaftler Benedict Anderson formulierten und weithin rezipierten Konzept der „Imagined Communities“ (Anderson 1983). Guldin stellt fest, dass Landschaften und Landschaftstypologien in Andersons eher diskursivmedialer Untersuchungsperspektive keine Rolle spielen, obwohl sie gerade im europäischen Kontext vor allem durch ihre alltägliche Sichtbarkeit eine wichtige Rolle in den sozialen Prozessen nationaler Selbstversicherung gespielt haben. Mit dieser Aussage beruft er sich wiederum explizit auf François Walters grundlegende Untersuchung zu diesem Thema (Walter 2004). Zusätzlich aufbauend auf den bereits früher erschienenen Monographien von Simon Schama (1995) und W. J. T. Mitchell (2002) versucht Guldin, die hier aufgezeigten Perspektiven miteinander zu verknüpfen. An dieser Stelle ist unbedingt auf die epochale Untersuchung von Clarence Glacken (Glacken 1967) zur Entwicklung des Mensch-Natur-Verhältnisses in der westlichen Welt von der Antike bis ins 19. Jahrhundert zu verweisen, die viele Entwicklungsstränge auf einer längeren Zeitskala verfolgt. Hier wäre zu überlegen, inwieweit Glackens Ergebnisse mit Guldins Erkenntnissen verknüpft werden können.
Als Ziel seines Buches formuliert der Autor in drei Schritten ein sehr ambitioniertes Programm: „eine Rekonstruktion imaginärer politischer Landschaften innerhalb des deutschen Sprachraumes vom frühen 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, wobei eine ganze Reihe unterschiedlicher Varianten durchgespielt werden soll, nicht nur affirmative, sondern auch kritische Diskurse, die sich gegen nationale Verengungen und Vereinfachungen wenden; die Entwicklung einer möglichen Metaphorologie politischer Landschaften; und schließlich ein Versuch, Landschaften als kognitive Interpretationsmodelle soziopolitischer Zusammenhänge zu verstehen“ (S. 17–18). Das Buch löst diese Ziele ein, allerdings nicht als eine fortschreitende, stringent aufeinander aufbauende Darstellung, sondern in Form von zehn eher essayistisch angelegten Kapiteln, die in sich abgeschlossen sind und jeweils eine Perspektive, einen Gegenstand oder ein Naturelement zum Thema haben.
So ist das Buch auch mehr zur portionsweisen Lektüre geeignet. Sonst hat man etwas Probleme mit den unterschiedlichen Perspektiven, auch mit einigen Wiederholungen und Überschneidungen, die sich nicht immer stringent aus der Anlage des Buches ergeben. Guldins akademischer Wirkungsort hat einen erkennbaren Einfluss auf den räumlichen Schwerpunkt seiner Beispiele. So wird man sehr ausführlich über die verschiedenen Alpenperspektiven und die nationalen helvetischen Zuschreibungen informiert — die nicht so bekannten und wiederholten Vorstellungen mit eingeschlossen. Innovativ ist Guldin besonders an den Stellen, wo er die kritischen Stimmen, die negativen Konnotationen und Irritationen bespricht, die sich in Beziehung zur Landschaftswahrnehmung auch einstellen (Hoher Himmel, enges Tal, Wandlungen des alpinen Diskurses – siehe S. 67–93).
Guldin bringt viele Beispiele aus der Literatur, aus der Publizistik, aus Reden, die durchaus die Ambivalenz und Brüchigkeit von Naturbildern in ihrer nationalen Inanspruchnahme deutlich machen. In Anbetracht der vielen Beispiele an dieser und an vielen anderen Stellen in dem Buch stellt sich dem Leser manchmal schon die Frage, welche relevanten gesellschaftlichen Prozesse denn hier repräsentiert werden. Nimmt man zum Vergleich z. B. die Untersuchung von Gugerli und Speich (2002) zur Hand, dann wird der Unterschied klar. Gugerli und Speich untersuchen die Rolle der Kartierung der Schweiz und die Rolle der Karten im Gefolge des Sonderbundkrieges. Sie beschreiben im Detail die Prozesse der Benennung, Klärung, Grenzziehung und der erstmaligen Repräsentation der Schweiz als Nation durch die Dufour-Karte. Auch hier figuriert das Gebirge als ein mächtiges Symbol der Nation, es werden aber die gesellschaftlichen Konflikte und Aushandlungsprozesse sehr viel deutlicher als durch die einzelnen Beispiele Guldins.
In der fallweisen Auslotung der Interpretationsmöglichkeiten von Landschaften im nationalen Kontext und damit dem umrisshaften Entwurf eines breiten Panoramas der Möglichkeiten der politischen Inanspruchnahme – darin liegt dagegen die Stärke von Guldins Buch. Hervorzuheben ist hier z. B. der Abschnitt zu „Silvanismus und Saharismus. Überlegungen zum Landschaftsvergleich“ (S. 123–147). Gerade die so wirkmächtigen Prozesse der Selbst- und Fremdzuschreibungen, der Inklusion und Exklusion bedienen sich natürlich der Vergleiche, der exklusiven Auswahl und Verknüpfung bestimmter Landschaften. Innovativ ist auch Guldins Überlegung, die Luft und die Wolken zur landschaftlichen Betrachtungsweise mit hinzuzunehmen.
Manches andere hat man allerdings so ähnlich schon woanders gelesen, wenn es etwa um die Bedeutung des Waldes oder die Bedeutung von Flüssen für Grenzziehungen geht.