Die Bevölkerung in Deutschland entwickelt sich auf kleinräumiger Ebene durchaus gegensätzlich. Weiterhin wachsende Großstadtregionen stehen flächenhafter Schrumpfung in ohnehin schon dünn besiedelten Regionen gegenüber. In letzteren stehen die vorhandenen Strukturen und Standards der Daseinsvorsorge durch den demographischen Wandel unter erheblichem Anpassungsdruck. Neben Bevölkerungsrückgang sorgen Abwanderung und Alterung für eine sich verändernde Nachfrage nach technischen und sozialen Infrastrukturen sowie staatlichen Dienstleistungen. Gelingt es hier nicht, die Daseinsvorsorge neu zu gestalten, droht diesen Regionen eine Abwärtsspirale aus weiterer Abwanderung und ungesteuertem Rückbau von Infrastrukturen. Dabei ist die öffentliche Hand einem Spardruck ausgesetzt, in dessen Konsequenz bestehende Angebote ausgedünnt oder komplett eingestellt werden. Zudem ist in schrumpfenden Regionen für bestimmte Daseinsvorsorgebereiche mittlerweile die kritische Masse an Nachfragern nicht mehr vorhanden und Versuche der Privatisierung laufen ins Leere, da die Privatwirtschaft – ohne eine wirtschaftlich tragfähige Nachfrage – oft nicht mehr an einer Übernahme vormals staatlicher Leistungen interessiert ist.
Die Aktivierung zivilgesellschaftlichen Engagements wird in diesem Zusammenhang als ein „potenter Notnagel“ verstanden (Monheim 2005: 65), um in dünn besiedelten Räumen infrastrukturelle Defizite auszugleichen, bestehende Angebote zu erhalten und zu verbessern oder innovative Sonderlösungen zu entwickeln (Kocks 2005; Monheim 2005). Eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Chancen, Risiken und Grenzen dieser – wie ich es nennen werde – ,Substitutionslogik‘ steht jedoch weitgehend aus. In diesem Beitrag umreiße ich die derzeit bestehenden Probleme und Grenzen dieser Strategie und möchte damit zur kritischen Reflexion anregen. Ich gehe der zentralen Frage nach, ob eine Kompensierung vormals staatlich erbrachter Daseinsvorsorgeleistungen durch zivilgesellschaftliches Engagement eine tragfähige Lösung zur Abmilderung negativer Auswirkungen des demographischen Wandels darstellt. Dazu wird im nächsten Kapitel ein Überblick über die Definitionsversuche von zivilgesellschaftlichem Engagement und empirische Befunde zum Engagement in Deutschland gegeben. Das dritte Kapitel skizziert bestehende diskursive Verbindungslinien zwischen Daseinsvorsorge, demographischem Wandel und zivilgesellschaftlichem Engagement in Deutschland, in denen sich die Substitutionslogik artikuliert. Im vierten Kapitel findet eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Substitutionslogik statt. Abschließend werden die Erkenntnisse im Hinblick auf zukünftige Forschungsbedarfe zusammengefasst.
Der Begriff der Zivilgesellschaft beschreibt laut Westle und Gabriel (2008: 16) ein vermittelndes „Netz intermediärer Organisation zwischen der Makro-Ebene des Staates und der Wirtschaftsstruktur [sowie] der Mikro-Ebene des Individuums“. Adloff (2005: 8) erkennt drei kennzeichnende Elemente der Zivilgesellschaft: erstens gesellschaftliche Organisationen und Institutionen, zweitens zivile Umgangsformen (in der Regel Toleranz, Gewaltfreiheit, Verständigung sowie staatlicher Schutz der Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit) sowie drittens als utopisches Projekt das selbstregierte, demokratische Zusammenleben. Typisch für das erste Element sind Vereine, Verbände und soziale Bewegungen. Diese seien zu verstehen als „ein gesellschaftlicher Raum, [welcher] die plurale Gesamtheit der öffentlichen Assoziationen, Vereinigungen und Zusammenkünfte [umfasst], die auf dem freiwilligen Zusammenhandeln der Bürger und Bürgerinnen beruht“ (Adloff 2005: 8). Die Zivilgesellschaft wird damit als Teilbereich der Gesamtgesellschaft verstanden. Vom Staat ist sie abgegrenzt, da sie keine direkte politische Macht ausübt. Von der Wirtschaft unterscheidet sie sich, da keine private Aneignung von Arbeit und Produktion erfolgt, und von der Familie wird sie durch die prinzipielle Offenheit für jedermann unterschieden. Zwischen diesen Gesellschaftsteilen bestehen aber fließende Übergänge (Pollack 2004: 27 f.).
Nach Putnams Verständnis (Putnam 1993; Putnam 2000) ist die Zivilgesellschaft in Form von Netzwerken zivilen Engagements, neben dem sozialen Vertrauen und Reziprozitätsnormen, ein Bestandteil von Sozialkapital (vgl. auch Kern 2004). Kritisch wird diese Verwendung des Sozialkapital-Konzeptes im Zusammenhang mit Zivilgesellschaft von Mayer (2005: 592 f.) gesehen. Es lenke von den Ursachen sozialräumlicher Ausgrenzungsprozesse ab und führe dazu, dass die Zivilgesellschaft genutzt werden könne, um neoliberale Restrukturierungsprozesse zu verankern, Auswirkungen von Privatisierung abzufangen und wohlfahrtsstaatliche Leistungen zu ersetzen.
Sobald sich Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Aktivität im Zwischenbereich zwischen Familie, Staat und Wirtschaft bewegen, wird also von zivilgesellschaftlichem – oder bürgerschaftlichem – Engagement gesprochen. Laut Deutschem Bundestag (2002: 24 ff.) sind unter bürgerschaftlichem Engagement freiwillige, unbezahlte und gemeinwohlorientierte Tätigkeiten zu verstehen, die gemeinschaftlich durchgeführt werden und in der Öffentlichkeit stattfinden. Dieses Verständnis von bürgerschaftlichem Engagement vertritt auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen (BAGFA 2014: 2): „Bürgerschaftliches Engagement bedeutet für uns unentgeltliches Mitwirken und Mitgestalten, Übernehmen von Verantwortung für gesellschaftliche Belange in allen Bereichen sowie Einbringen und Realisieren von individuellen Ideen und Projekten.“ Weiterhin führt die BAGFA aus, dass bürgerschaftliches Engagement den Charakter einer freiwilligen Zeitspende hat und den Engagierten natürlich die für sie aus dem Engagement entstehenden Kosten erstattet werden können, jedoch darüber hinaus „Anerkennungsformen nur in begrenztem Umfang als geldwerte Leistungen“ erfolgen sollen (BAGFA 2014: 5).
Andere Autoren haben unterschiedliche Begriffsverständnisse. Laut Mai und Swiaczny (2008) kann bürgerschaftliches Engagement dem Begriff des ehrenamtlichen Engagements gegenübergestellt werden. So wird unter ehrenamtlichem Engagement bzw. Ehrenamt häufig eine unentgeltliche, auf das Gemeinwohl abzielende und nicht an beruflichen Qualifikationen orientierte Tätigkeit innerhalb bestehender zivilgesellschaftlicher Institutionen (z. B. von Vereinen und Verbänden) verstanden. Diesem eher traditionellen Begriff des Ehrenamtes werden im Zuge gesellschaftlicher Individualisierung die Begriffe bürgerschaftliches bzw. freiwilliges Engagement gegenübergestellt, die Tätigkeiten außerhalb etablierter Institutionen umfassen können. Zudem wird mit freiwilligem Engagement auch die Orientierung am individuellen Eigennutzen für die Aktiven betont. Laut Priller (2010: 200) ist aufgrund der verschiedenen Verständnisse der Begriff des zivilgesellschaftlichen Engagements am besten geeignet, die verschiedenen Formen von Engagement abzubilden. Da mein Beitrag nicht primär die Begriffsklärung verfolgt, werde ich dieser Einschätzung Prillers folgend ebenfalls von zivilgesellschaftlichem Engagement sprechen.
Als Gründe dafür, sich über zivilgesellschaftliches Engagement in der Mitgestaltung des gesellschaftlichen Lebens einzubringen, identifiziert Wade (2015: 136 ff.) die persönliche Betroffenheit der Bürgerinnen und Bürger hinsichtlich bestimmter Themen des stadtgesellschaftlichen Miteinanders, die Existenz persönlicher Kontakte und Verbindungen im Viertel (Sozialkapital), den persönlichen Bezug und Gestaltungswillen bezüglich des eigenen Wohn- und Lebensumfeldes, die Bewusstseinsarbeit und Aufklärung anderer Bewohner bezüglich sozialer Ungleichheiten innerhalb der Stadtgesellschaft, die Unterstützung Hilfebedürftiger und den Wunsch nach Solidarität sowie die Schaffung von Gemeinsamkeit und ,Gemeinsinn‘.
Zivilgesellschaftliches Engagement und die Bereitschaft, ehrenamtlich tätig zu werden, sind in Deutschland regional ungleich verteilt (Simonson/Ziegelmann/Vogel et al. 2017). So lassen sich ein ausgeprägtes West-Ost-Gefälle und ein etwas schwächer ausgeprägtes Süd-Nord-Gefälle hinsichtlich des Bevölkerungsanteils der Engagierten feststellen. Im ersten Engagementbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Enste/Neumann/Schare 2012: 13) wird darauf hingewiesen, dass das zivilgesellschaftliche Engagement in Ostdeutschland – hier sind 31 % der über 14-Jährigen engagiert – geringer ausgeprägt ist als in Westdeutschland (37%). Auch im Engagementatlas 2009 des Generali Zukunftsfonds verdeutlicht sich ein ähnliches Bild. Hier zeigen Prognos und Generali (2009: 20), dass die ostdeutschen Kreise und kreisfreien Städte weniger zivilgesellschaftliches Engagement verzeichnen können als die westdeutschen Regionen. Insbesondere in den am stärksten schrumpfenden Landkreisen in Deutschland ist der Anteil der zivilgesellschaftlich Engagierten mit am geringsten. Diese regionalen Unterschiede werden mit unterschiedlichen Rahmenbedingungen, etwa der Marginalisierung und Instrumentalisierung der Zivilgesellschaft in der DDR-Zeit, der seit der Wiedervereinigung in den neuen Ländern höheren Arbeitslosigkeit und selektiven Abwanderung junger Bevölkerungsgruppen erklärt (Prognos/Generali 2009: 23). Auch die Struktur der ehrenamtlichen Tätigkeit scheint sich zu unterscheiden – eher formell in Vereinsstrukturen im Westen, eher informell in weit verzweigten Netzwerken gegenseitiger Hilfeleistung im Osten (Reim/Schmithals 2008: 78).
Zudem engagieren sich einzelne Bevölkerungsgruppen unterschiedlich stark (Simonson/Ziegelmann/Vogel et al. 2017). Enste, Neumann und Schare (2012: 13) betonen, dass Personen mit einer Zuwanderungsgeschichte seltener längerfristig engagiert sind. Sie erklären dies mit sozialstrukturellen Merkmalen. So haben Engagierte tendenziell höhere Einkommen und höhere Bildungsniveaus. Darüber hinaus sind Frauen seltener engagiert als Männer. Hierzu beschreiben Enste, Neumann und Schare (2012: 13), dass Frauen gerade in Leitungspositionen sowie in auf Sport bezogenem Ehrenamt unterrepräsentiert sind, und sie erklären dies mit der immer noch ungleich verteilten Verantwortung für die Hausarbeit. So hätten junge Mütter, die in der Familiengründungsphase auch ihren Berufseinstieg organisieren müssten, deutlich weniger Zeit für zivilgesellschaftliches Engagement als junge Väter. Bezüglich des Engagements Jugendlicher schlussfolgern Enste, Neumann und Schare (2012: 13 f.), dass der „Rückgang des Engagements Jüngerer [...] mit der zunehmenden Mobilität, der Zeitknappheit und den steigenden Anforderungen an den Berufseinstieg erklärt“ werden kann. Gleichzeitig sind „Motive Jugendlicher und junger Erwachsener [...] heute häufiger mit der Erwartung verbunden, aus dem Engagement einen Vorteil für berufliche Kontexte zu ziehen, als dies noch vor zehn Jahren der Fall war“, so Enste, Neumann und Schare (2012: 13 f.).
Angesichts des demographischen Wandels lässt sich bundesweit beobachten, dass Engagierte seltener als früher langfristige Verbindlichkeiten eingehen wollen oder können (Enste/Neumann/Schare 2012: 15): „Veränderungen erfährt das bürgerschaftliche Engagement derzeit auch bei der Zusammenarbeit von Haupt- und Ehrenamtlichen sowie bei der Gewinnung von Funktionsträgerinnen und -trägern auf Vorstands- und Führungsebene. In einigen Bereichen des organisierten Engagements sinkt seit Jahren die Bereitschaft, Leitungsfunktionen oder Vorstandspositionen zu übernehmen. Gleichzeitig nehmen kurzfristige oder unregelmäßigere Engagementformen in den letzten zehn Jahren zu.“ Kritisch sehen viele Engagierte – zumindest laut einer Befragung in Sachsen –, dass die ehrenamtlichen Projekte häufig nicht ausreichend mit finanziellen Mitteln ausgestattet sind. Zunehmend werden auch eine verbesserte Bereitstellung von Räumen und Sachmitteln sowie eine unbürokratische Möglichkeit der Erstattung von Kosten gefordert (SMS 2005: 22).
Hinsichtlich der Themen und Inhalte des Engagements zeigt sich neben der Freiwilligen Feuerwehr seit Jahren ein klarer Fokus sowohl auf Sport und Bewegungsangebote, wodurch insbesondere Männer in das Ehrenamt gebracht werden, sowie Angebote für ältere Bürgerinnen und Bürger (Sittler 2015: 9). Prognos und Generali (2009: 11) konnten zudem aufzeigen, dass Frauen sich stärker in den Bereichen Kinder und Jugend, Kirche und Religion sowie Politik und Interessenvertretung engagieren. Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren engagieren sich am stärksten im Bereich Sport und Freizeit (Prognos/Generali 2009: 11).
Auch Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt haben zu weitreichenden Folgen für das zivilgesellschaftliche Engagement geführt. So kommt eine Auswertung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB 2016) zu dem Ergebnis, dass die berufliche Mobilität in Deutschland seit Jahren zunimmt und damit das Zeitbudget für Freizeitaktivitäten sinkt. Gerade das Langstreckenpendeln und damit einhergehende multilokale Lebensweisen verringern die Ressourcen vieler Bürgerinnen und Bürger für zivilgesellschaftliches Engagement in der Heimat.
Zukünftig werden sich die Engagementinhalte und -strukturen in Deutschland insbesondere durch die anhaltende Alterung der Gesellschaft, die sinkende Anzahl der Kinder und Jugendlichen, die steigenden Erwerbstätigenquoten angesichts von Fachkräfteengpässen, anhaltende Wanderung in die großstädtischen Zentren und die sich weiterhin einschränkenden finanziellen Handlungsspielräume der Kommunen verändern (Deutscher Bundestag 2016). Damit werden gerade Bürgerinnen und Bürger in ländlichen Gebieten und Klein- und Mittelstädten stärker selbst organisiert und selbstverantwortlich leben müssen (vgl. Prognos/Generali 2009: 30).
Voraussetzungen für das Entstehen und den Fortbestand einer aktiven Zivilgesellschaft sind ein Kern von überdurchschnittlich engagierten Akteuren, eine kooperationswillige Gemeindeverwaltung und eine lokale „Kultur der Eigenverantwortung“ (Neu 2007: 36). Neben erwünschten Effekten wie einer Stärkung der Identifikation mit dem Heimatort sind auch unerwünschte Folgen des Rückzugs des Staates denkbar. Ein Beispiel wäre die von rechtsextremen Parteien und Vereinigungen verfolgte Strategie, über das Organisieren von Freizeitangebote oder das Initiieren von Bürgerinitiativen einen „Weg in die Mitte der Gesellschaft“ zu finden (Heinrich 2005: 34 f.).
Es lässt sich festhalten, dass zivilgesellschaftliches Engagement den Charakter einer freiwilligen Zeitspende von Bürgerinnen und Bürgern hat, die zunehmend flexibler und unverbindlicher wird und in Deutschland regional ungleich verteilt ist. Demnach ist also nicht davon auszugehen, dass zivilgesellschaftliches Engagement in Zukunft automatisch und flächendeckend eine stärkere Rolle in der Ausgestaltung des gesellschaftlichen Miteinanders einnehmen wird. Gleichzeitig wird zivilgesellschaftliches Engagement verstärkt als Ressource für die Erbringung von Leistungen der Daseinsvorsorge diskutiert, wie ich im folgenden Abschnitt darstelle.
Der Begriff der Daseinsvorsorge ist in der Literatur sowie in den gesetzlichen Regelungen des Bundes und der Länder nicht einheitlich definiert. Entsprechend variiert das Verständnis darüber, welche Leistungen darunter zu verstehen sind (vgl. BMVBS 2013). In Anlehnung an die EU-Arbeitsbegriffe differenziert Neergard (2009: 20 ff.) Dienstleistungen der Daseinsvorsorge (
Bund, Länder und Kommunen verfolgen in Deutschland das raumplanerische Ziel, für die Bürger in allen Regionen gleichwertige Lebensverhältnisse über Daseinsvorsorgeleistungen sicherzustellen (vgl. Kommunalpolitisches Forum Mecklenburg-Vorpommern 2011; Wollmann 2013; Brandt 2015). Einige dafür notwendige Aufgaben werden den Kommunen von Bund und Ländern übertragen und zählen zu den Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung, da die Kommunen hier kaum Handlungsspielraum haben (z. B. Ausländerangelegenheiten, Ordnungsrecht, Katastrophenschutz, Unterhaltssicherung, Gesundheitsdienst). Bei Pflichtaufgaben ohne Weisung (Handlungsspielraum besteht in der Ausgestaltung; z. B. ÖPNV, Abfallwirtschaft, Sozialhilfe, Jugendhilfe, Brandschutz, Denkmalschutz) und bei freiwilligen Aufgaben (Handlungsspielraum besteht bezüglich der Erbringung; z. B. Sport und Erholung, Jugend- und Kulturarbeit) haben die Kommunen die Möglichkeit, Angebote der Daseinsvorsorge gezielt als ,weiche Standortfaktoren‘ und Instrumente zur Steigerung der lokalen Lebensqualität einzusetzen. Gleichzeitig besteht insbesondere in finanzschwachen, vom demographischen Wandel stark betroffenen Kommunen bei diesen freiwilligen kommunalen Aufgaben die Gefahr der Reduzierung bis ersatzlosen Einstellung.
Gerade die bereits dünn besiedelten ländlichen Räume sind in Deutschland in besonderem Maße vom demographischen Wandel betroffen. Insbesondere in Ostdeutschland sind das Ausmaß von Schrumpfung und Abwanderung sowie die Dynamik der Alterung im europäischen Vergleich außerordentlich hoch (Wiest/Leibert/Johansson et al. 2011; Leibert 2012;Wolff/Leibert 2016). In den kommenden zehn bis 15 Jahren wird sich die demographische Situation allerdings auch in vielen Regionen Westdeutschlands deutlich verändern (Leibert/Lentz 2011). Dadurch stehen die vorhandenen Strukturen und Standards der Daseinsvorsorge dort unter erheblichem Anpassungsdruck. Bevölkerungsrückgang und Alterung sorgen im Bereich der sozialen Infrastrukturen für eine sich verändernde Nachfrage (Mai/Swiaczny 2008: 12 ff.). Aber auch die Pro-Kopf-Kosten für die Daseinsvorsorge steigen und es kommt zunehmend zu Tragfähigkeitsproblemen (Winkler-Kühlken 2003). Gelingt es nicht, die Daseinsvorsorge neu zu gestalten, droht insbesondere dünn besiedelten Regionen außerhalb der Agglomerationen eine Abwärtsspirale aus Attraktivitätsverlusten durch den Rückbau von Angeboten, sinkender Lebensqualität und weiterer Abwanderung.
Zudem sieht sich die öffentliche Hand vielerorts einem Spardruck ausgesetzt, der dazu führt, dass insbesondere bestehende freiwillige Angebote der Daseinsvorsorge ausgedünnt oder eingestellt werden. Es steht zur Diskussion, inwieweit der Staat angesichts der hohen Kosten das bisherige Niveau der infrastrukturellen Versorgung noch aufrechterhalten kann und soll (Steinführer/Küpper/Tautz 2012; Hüther 2016). Damit verbunden ist eine Debatte um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, die als eines der Grundprinzipien des deutschen Föderalismus gilt (Lehmbruch 2000; ARL 2008; ARL 2016). Hinterfragt wird hier, ob der Staat als alleiniger Leistungsträger von Daseinsvorsorgeleistungen zu verstehen sei oder nicht doch auch andere Akteure in die Verantwortung genommen werden sollten. Dabei wird neben der Wirtschaft auch die Zivilgesellschaft als Leistungserbringer diskutiert.
Zivilgesellschaftliches Engagement wird neben der Wirtschaft und der öffentlichen Hand als eine der drei Säulen der Stadt- und Regionalentwicklung angesehen (Becker 2008). In Bezug auf die räumliche Planung und Entwicklung formuliert Becker (2008: 120) zwei Grundannahmen: Zivilgesellschaftliches Engagement muss, erstens, nicht zwangsläufig einen Gegenpol zum Staat darstellen und es kann, zweitens, finanziell und inhaltlich von der öffentlichen Hand beeinflusst (und damit nicht
Auch wenn diese Frage bisher in der Kommunalpraxis nicht klar beantwortet wird, wird zivilgesellschaftliches Engagement im Kontext der Stadt- und Regionalentwicklungspolitik als wichtiges Werkzeug bzw. als wichtiger Themenbereich verstanden (Becker 2015). So beschäftigen sich weite Teile in den Beschreibungen zur „Nationalen Stadtentwicklungspolitik“ (BMVBS 2008) und zum Programm „Soziale Stadt“ (BMVBS 2012) mit zivilgesellschaftlichem Engagement. Zu diesen Programmen wird aber auch festgestellt, dass in Bezug auf Zivilgesellschaft meist die Bürgerbeteiligung in Planungsprozessen betont und das zivilgesellschaftliche Engagement einer Top-Down-Logik unterworfen werden (Becker 2008: 122; Gualini 2010: 3).
Davon ausgehend betrachtet Siebel (2010) das Verhältnis von Planung (als hoheitlicher Aufgabe) und Zivilgesellschaft. Für ein Erstarken zivilgesellschaftlicher Akteure in räumlichen Planungs- und Entwicklungsprozessen führter verschiedene Gründe an. Einerseits sei die vermehrte Orientierung auf zivilgesellschaftliche Akteure einer neoliberalen Ideologie mit ihrer Privatisierungslogik und einer strukturellen Unterfinanzierung öffentlicher und kommunaler Akteure geschuldet (vgl. auch Brenner/Theodore 2002a; Brenner/Theodore 2002b). In diesem Zusammenhang soll zivilgesellschaftliches Engagement als neue Ressource für die Bereitstellung von Daseinsvorsorgeleistungen erschlossen werden. Andererseits seien neue Themen wie urbane Milieus, soziale Ungleichheit sowie Exklusions- und Marginalisierungsprozesse in der Stadtgesellschaft in den Fokus der Stadtentwicklung gerückt, bei denen die Instrumente der klassischen Angebotsplanung nicht mehr greifen (Siebel 2010).
Zivilgesellschaftliches Engagement wird auch im ländlichen Raum bzw. in dörflichen Kontexten betrachtet, wobei hervorgehoben wird, dass Engagement hier eher von Einzelpersonen als von Gruppen ausgeht und traditionelle Sport-, Kultur- und Faschingsvereine sowie die Freiwillige Feuerwehr eine besondere Bedeutung haben (Borstel 2010: 93). Im Gegensatz zu großstädtischen Gesellschaften ist die Zivilgesellschaft im dörflichen Kontext eher Ausdruck von konsensualen Meinungen und ermöglicht einen positiven Gemeinwesenbezug (Borstel 2010: 93 ff.). Die direkte Betroffenheit und ein hohes Verantwortungsbewusstsein im ländlichen Raum führten zu einer hohen Engagementbereitschaft. Allerdings wird ein Wandel von einem langfristigen, am Gemeinwesen orientierten hin zu einem stärker temporären und projektbezogenen Engagement beobachtet (vgl. Becker/Runkel 2010: 132 f.). Betont wird auch die Nähe der Zivilgesellschaft zu Politik und Verwaltung im ländlichen Raum (Becker/Runkel 2010: 139).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Zivilgesellschaft von öffentlichen Akteuren, die mit der Erbringung von Daseinsvorsorgeleistungen betraut sind, traditionell als wichtiger Partner wahrgenommen wird und der Wunsch besteht, zivilgesellschaftliche Akteure bei der Gestaltung des gesellschaftlichen Miteinanders gezielt einzubinden. Aus kritischer Perspektive kann die mit diesem Wunsch zunehmend verbundene Substitutionslogik als Bestandteil einer neoliberalen Agenda interpretiert werden, durch die vormals durch öffentliche Akteure in Erwerbsarbeit erbrachte Dienstleistungen im Bereich der Daseinsvorsorge perspektivisch stärker durch freiwillige Zeitspenden von Bürgerinnen und Bürgern erbracht werden sollen. Dabei riskieren zivilgesellschaftliche Akteure, teilweise zu Erfüllungsgehilfen von Politik und Verwaltung degradiert zu werden. Aus einer positiven Sichtweise können jedoch auch die neuen Formen der gesellschaftlichen Teilhabe durch Bürgerinnen und Bürger in hoheitlichen Planungs- und Daseinsvorsorgeaufgaben betont werden, die neben einer stärkeren Selbstverantwortung auch eine selbstbestimmtere Gestaltung auf lokaler Ebene ermöglichen könnten.
Um die Folgen der als unvermeidbar angesehenen Anpassungen in peripheren Schrumpfungsregionen abzumildern, wird dabei an die Selbstverantwortung und Eigeninitiative der dort lebenden Bürgerinnen und Bürger appelliert (z. B. Aring 2013). In Zeiten, in denen ein allumfassender Wohlfahrtsstaat als nicht mehr finanzierbar angesehen wird, gilt die Aktivierung zivilgesellschaftlichen Engagements scheinbar als erfolgversprechende Strategie (Monheim 2005: 65). Mittels der Nutzung zivilgesellschaftlichen Engagements wird gehofft, in dünn besiedelten Räumen strukturelle Defizite ausgleichen und bestehende Angebote erhalten oder gar verbessern zu können (Mai/Swiaczny 2008; Steinführer 2015; BMFSFJ 2017).
Im Zuge der skizzierten demographischen Veränderungen in den vergangenen Jahrzehnten, verändert sich demnach das Verhältnis von Zivilgesellschaft und staatlichen Akteuren in Bezug auf die Erbringung von Daseinsvorsorgeleistungen. Dazu werden in der Kommunalpolitikforschung zwei Diskurse prominent geführt: Einerseits steht die Übertragung kommunaler Leistungen an private Unternehmer im Vordergrund von Privatisierungsansätzen (vgl. Häußermann/Läpple/Siebel 2008: 279 ff.). Andererseits – und das ist hier für die Argumentation relevanter – wird die Kompensation entfallender staatlicher Leistungen durch zivilgesellschaftliches Engagement betont. Auf kommunaler Ebene spielt dabei das Konzept der Bürgerkommune eine wichtige Rolle, welches als Ergebnis eines veränderten Verhältnisses zwischen kommunaler Verwaltung und Politik auf der einen und Bürgerschaft auf der anderen Seite verstanden wird (Bogumil 2014). Wichtig ist hier, dass Bürgerinnen und Bürgern eine aktive Rolle in der kommunalpolitischen Zielfindung und Zielerreichung zukommt. So hat auch die Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ des Deutschen Bundestages in ihren Handlungsempfehlungen die Notwendigkeit einer Förderung, Qualifizierung und Verstetigung zivilgesellschaftlichen Engagements zur kooperativen und auf Eigeninitiative basierenden Erbringung von Leistungen in den Kommunen betont (Deutscher Bundestag 2002: 19 ff.). Im Rahmen des „Siebten Berichts zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland“ spricht die Bundesregierung von einer begrüßenswerten Auseinandersetzung mit dem Ordnungsprinzip der Subsidiarität und verweist auf die Aufgabe staatlicher Akteure, Möglichkeiten zu schaffen, um öffentliche Daseinsvorsorge durch die „eigenverantwortliche Sorge und Mitverantwortung von Bürgerinnen und Bürgern“ zu ergänzen (Deutscher Bundestag 2016: VIII).
Bereits seit den späten 1990er-Jahren intensivierte sich der Diskurs über die Potenziale des zivilgesellschaftlichen Engagements in der Wissenschaft ebenso wie in der Politik (Haus 2002). Gesellschaftliche Modernisierungsprozesse, wie die Auflösung tradierter kultureller, ökonomischer oder staatlicher Bindungen, wurden in Verbindung gebracht mit „Chancen [...] für die Entwicklung neuer oder für den Wandel alter zivilgesellschaftlicher Gemeinschaftsformen“ auf kommunaler Ebene (Schubert 2002: 18). Daher wird auch bisher weniger beteiligten Gruppen, wie jungen Frauen oder Migranten, eine positive Rolle bei der Gestaltung lokaler Gemeinschaft im demographischen Wandel zugeschrieben, die von Seiten der Politik entsprechend angeleitet und motiviert werden müsste (Nadler 2012; Wiest/Leibert 2013).
In der Raumplanung wird mehr und mehr akzeptiert, dass die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in der derzeitigen Form nicht mehr finanzierbar sei und die freiwilligen Aufgaben der Daseinsvorsorge kaum noch flächendeckend erfüllt werden können (ARL 2016). Damit einhergehend wird diskutiert, ob sich staatlich erbrachte Daseinsvorsorge aus der Fläche zurückziehen solle und anstelle der alten Förderpolitik nach dem Gießkannenprinzip eine wachstumsorientierte und räumlich differenzierte Alternative zu implementieren sei, die auf Wachstumsinseln konzentriert bliebe (Eich-Born 2009: 228), während für periphere Räume lediglich Auffang- und Stabilisierungsstrategien vorgesehen wären (Aring 2013). Um die Folgen des staatlichen Rückzugs abzumildern, sollen lokale Politik und Planung an der Steuerungs- und Gestaltungsphilosophie des „Ermöglichens“ (ARL 2008: 7) im Sinne einer eigenständigen und selbstverantwortlichen Regionalpolitik mit weitem Handlungsspielraum der kommunalen Ebene ausgerichtet werden. Ein zentraler und viel diskutierter Aspekt des „Ermöglichens“ ist dabei die Übernahme von Bereichen bisher staatlich organisierter Daseinsvorsorge durch zivilgesellschaftliche Akteure im Rahmen deren zivilgesellschaftlichen Engagements – also kurz gesagt: eine Substitutionslogik.
Es dürfte nachvollziehbar sein, dass die Konzepte wie „Selbstverantwortung“ und „Ermöglichen“ im Rahmen der Substitutionslogik keine Musterpläne darstellen, die in allen Teilräumen gleich gut funktionieren (vgl. Kapitel 2.2). Jedoch wird über die Grenzen der Substitutionslogik – ähnlich der Figur eines
Eisentraut (2009) betont die Verringerung des Ehrenamtspotenzials durch die schnell voranschreitende Alterung im ländlichen Raum und stellt fest, dass beispielsweise außerfamiliäre Generationenbeziehungen in diesem Zusammenhang von Politik und Planung bisher ungenügend als Ressource wahrgenommen werden. Auch Liebmann (2010) verweist auf die aus Schrumpfungsbedingungen resultierenden Probleme für das zivilgesellschaftliche Engagement, die sich in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren wie lokaler sozialer Lage, Wohlstand, Vereinsmitgliedschaften, Bevölkerungs- und Familienstrukturen ergeben können. Explizit wird durch Liebmann auf mögliche negative Folgen der mit dem demographischen Wandel einhergehenden Lücken in sozialen Netzwerken hingewiesen, die antidemokratischen Kräften neue Möglichkeiten eröffnen, sich in der Gestaltung der Gesellschaft vor Ort einzubringen (Liebmann 2010: 82). Gleichzeitig wurde in Kapitel 3 beschrieben, dass sich der demographische Wandel in einzelnen Teilräumen Deutschlands unterschiedlich auswirkt. Der demographische Wandel führt also zu einem – regional differenziert – steigenden Bedarf nach zivilgesellschaftlichem Engagement, um Daseinsvorsorge in „Koproduktion“ mit staatlichen Akteuren zu erbringen (ARL 2016: 33); er bedingt gleichzeitig jedoch in einzelnen Regionen die Verringerung des Bevölkerungspotenzials für zivilgesellschaftliches Engagement. Durch die massive Ausdünnung sozialer Netzwerke fehlen gerade den ländlichen Regionen die Menschen, die das selbstverantwortliche Organisieren der Daseinsvorsorge bewerkstelligen könnten (Swiaczny 2010; Burdack/Kriszan/Nadler 2011). Selbst in peripheren Mittelzentren wird bereits auf diese negativen Auswirkungen der Abwanderung und Schrumpfung hingewiesen (Burdack 2010; Bernt/Liebmann 2013: 229 f.). Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund bedeutsam, dass das Bevölkerungspotenzial für zivilgesellschaftliches Engagement aufgrund des demographischen Wandels in ländlich-peripheren Regionen besonders gering ist, wo gleichzeitig die Finanzierbarkeit und Tragfähigkeit der Daseinsvorsorge aufgrund der geringen Einwohnerdichte die größten Probleme bereiten (Mai/Swiaczny 2008: 52). Auch wird in Studien darauf hingewiesen, dass gerade in Gemeinden, in denen sozial schwache und bildungsferne Bevölkerungsgruppen leben, solche Appelle an das zivilgesellschaftliche Engagement sehr voraussetzungsvoll sind (Klatt/Walter 2011). Insbesondere die sozialräumliche Selektivität in Fragen zivilgesellschaftlichen Engagements ist bereits mehrfach hervorgehoben worden (vgl. Mai/Swiaczny 2008: 31 ff.). In der Summe zeigt sich also das geographische Dilemma der Substitutionslogik: Zivilgesellschaftliches Engagement ist eigentlich dort am nötigsten, wo das Bevölkerungs- und damit das Engagementpotenzial bereits gering und tendenziell rückläufig sind.
Staatlichen Akteuren wird bisher eine große Gestaltungsmacht zugeschrieben (vgl. Levin-Keitel/Lelong/Thaler 2017). Mit dem Verlust finanzieller Handlungsspielräume geht bei staatlichen Akteuren auch häufig ein Machtverlust einher. So werden Kommunen bei zu hoher Verschuldung unter die Finanzaufsicht der Landesbehörden gestellt und können häufig auch ihre Aufgabengestaltung und Personalangelegenheiten nicht mehr autonom bestimmen. Dieser Verlust von durch finanzielle und personelle Ressourcen abgesicherter Macht wird dann häufig über das Durchsetzen symbolischer Macht gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern kompensiert (vgl. Bourdieu 1992: 81 ff.). Anders ausgedrückt: Kommunale Akteure wollen zwar weiterhin Stadtentwicklung und Gemeinwesen definieren, aber sie haben nicht mehr die Ressourcen zur vollumfänglichen Umsetzung. Im Ergebnis entscheiden Akteure aus lokaler Politik und Verwaltung, welche Kernthemen mit den verbleibenden Ressourcen innerhalb der Verwaltung dem Machterhalt dienlich sind und welche Themen und Daseinsvorsorgebereiche in die Bürgerschaft ,entlassen‘ werden können und dort umgesetzt werden sollen. Hier findet also eine
Per Definition ist zivilgesellschaftliches Engagement über eine freiwillige und unentgeltliche Arbeitszeitspende charakterisiert, die sowohl durch das Verfolgen von Eigeninteressen als auch im Hinblick auf Gemeinwohlorientierung motiviert ist. Zudem konnten die empirischen Ergebnisse zum zivilgesellschaftlichen Engagement in Deutschland zeigen, dass Engagement sich hin zu flexibleren Formen entwickelt, zunehmend die institutionellen Rahmen von Vereinen und Verbänden verlässt und temporäre, problembezogene Formen annimmt (vgl. Kapitel 2.2). Damit ist klar, dass mit einer stärkeren Einbindung von zivilgesellschaftlichen Akteuren in die Erbringung von vormals staatlichen Leistungen auch ein motivationales Dilemma in Bezug auf die Verbindlichkeit von Engagement einhergeht. So müssen in der Erbringung von Daseinsvorsorgeleistungen bestimmte Aufgaben per Gesetz abgedeckt werden und dafür ist eine gewisse Verbindlichkeit erforderlich. Letztlich aber zeichnet sich zivilgesellschaftliches Engagement ja dadurch aus, dass damit keine Aneignung von Arbeitsleistung durch die Wirtschaft oder den Staat einhergeht und Ehrenamt selbstbestimmt erfolgen sollte. Denn sonst wird die Substitutionslogik im Sinne der Kritik Siebels (2010) oder Mayers (2005) tatsächlich Bestandteil einer neoliberalen Agenda. In der Konsequenz entziehen sich zivilgesellschaftliche Partner der verbindlichen Arbeitsleistungseinforderung durch staatliche Akteure. Hier sei wieder an die eingangs zitierte Frage von Becker (2008) erinnert, ob man Aufgaben auf Bürgerinnen und Bürger verteilen will oder deren eigenen Gestaltungswillen respektiert? Die Substitutionslogik berücksichtigt bisher kaum die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger, die als Engagierte Lebenszeit in die Gestaltung des lokalen Zusammenlebens spenden sollen. Entsprechend der in Kapitel 2 skizzierten Definition zeichnet sich zivilgesellschaftliches Engagement gerade dadurch aus, dass hierbei Bürgerinnen und Bürger selbstregiert und demokratisch ein eigenes Projekt verfolgen können. Die derzeit praktizierte Planungskultur jedoch nimmt diesen Punkt nicht ernst. Selbstbestimmtes Mitgestalten ist darin nicht vorgesehen, da Verwaltung und Politik sich bisher noch immer als die einzigen legitimen Gestalterinnen verstehen, die Recht und Ordnung durchsetzen. Bürgerinnen und Bürger haben darin lediglich die Rolle des Assistenten bei der Durchsetzung. Damit stehen staatlichen Akteuren ihre notwendigerweise langfristig verfügbaren Ansprechpartner in der Zivilgesellschaft nicht in ausreichend motivierter Weise zur Verfügung und die Substitutionslogik sieht sich mit dem Dilemma konfrontiert, dass Bürgerinnen und Bürger häufig im Ehrenamt Leistungen erbringen sollen, die teilweise gar nicht ihren Eigeninteressen entsprechen und zu deren Erbringung sie sich zunehmend weniger binden lassen wollen.
Angesichts der zuvor beschriebenen Dilemmata möchte ich an dieser Stelle den Versuch unternehmen, die Verbindungslinien zwischen demographischem Wandel, Daseinsvorsorge und zivilgesellschaftlichem Engagement realistischer zu zeichnen. Dem geographischen Dilemma müssen zwei zentrale Beobachtungen hinzugefügt werden. Zum einen ist das bestehende Ehrenamtspotenzial in seiner regionalen und sozialen Differenziertheit noch nicht ausreichend erforscht und kann entsprechend noch nicht effizient mobilisiert werden. Neben den aus dem demographischen Wandel resultierenden Nachteilen ländlicher Regionen können diese sich beispielsweise auch die Spezifika ihrer Ehrenamtsstrukturen – starke Konsensorientierung, große traditionelle Nähe zwischen Politik und Zivilgesellschaft (vgl. Kapitel 2) – zunutze machen. Hier besteht also ein mögliches Mobilisierungspotenzial für ländliche Räume. Zweitens ist zu konstatieren, dass – auch bei effizienterer Nutzung des bestehenden Ehrenamtspotenzials – durch die mit dem demographischen Wandel einhergehenden bevölkerungs- und siedlungsstrukturellen Ausdifferenzierungen gerade schrumpfende und schnell alternde Teilräume Deutschlands viel zu wenig Potenzial für eine Umsetzung der Substitutionslogik aufweisen. Gerade dort können staatliche Akteure keine Daseinsvorsorge in Selbstverantwortung erwarten und es ist zu diskutieren, ob ein raumdifferenzierender Ansatz in der Finanzierung von Daseinsvorsorge sinnvoller ist, der anhand des Ehrenamtspotenzials verschiedene Substitutionsstufen unterscheidet. So könnten Substitutionslogiken mit gezielten Unterstützungsprogrammen gerade in den Regionen weniger intensiv umgesetzt werden, wo das Ehrenamtspotenzial geringer ist. Damit würde sich auch artikulieren, dass am Grundprinzip der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse festgehalten wird.
In Bezug auf das politische Dilemma müssen Vertreterinnen und Vertreter staatlicher Organisationen ihr Selbstverständnis angesichts des durch die Verringerung personeller und finanzieller Handlungsspielräume ohnehin laufenden Machtverlustes im Bereich der Gestaltung und des Ausfüllens von Daseinsvorsorge – insbesondere in den freiwilligen Bereichen – verändern (vgl. Klemme 2010). Die bestehenden, eher asymmetrischen Relationen zwischen Politik und Verwaltung auf der einen Seite und zivilgesellschaftlichen Akteuren auf der anderen Seite müssen durch neue gleichberechtigtere Beziehungen ersetzt werden, in denen ehrenamtlich Engagierte als Partner auf Augenhöhe und ,Experten des Alltags‘ mit ihren Fähigkeiten und ihrem Wissen anerkannt und wertgeschätzt sowie in strategische Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Dies ist grundlegende Bedingung für eine Koproduktion von Daseinsvorsorge, in die Bürgerinnen und Bürger bereitwillig Zeitspenden geben würden. Dafür sind Ansätze aus dem Bereich der Planungskulturforschung aufschlussreich, die einen Einblick in die Prozesse der Veränderung hinsichtlich des kollektiven Selbstverständnisses von Akteuren aus Politik und Verwaltung gewähren (vgl. Reimer 2016) bzw. einen analytischen Zugang zu deren Umgang mit Macht ermöglichen (Levin-Keitel/Lelong/Thaler 2017). Ein möglicher Weg, diese neuen Rollenverständnisse in der Praxis zu testen, bestünde in der Schaffung von Modellregionen, in denen Bürger stärker in die Gestaltung der Substitution und Definition von Standards für die Daseinsvorsorge eingebunden werden.
Bezüglich des motivationalen Dilemmas müssen Anerkennungskulturen für zivilgesellschaftliches Engagement gestärkt werden. So sind die Eigeninteressen der zivilgesellschaftlich Engagierten stärker zu respektieren und von Seiten der Politik und Verwaltung zu berücksichtigen. Dafür ist jedoch ein viel grundlegenderes Verständnis dieser Eigeninteressen zu erarbeiten. Bisher ist dieses mangelhaft beforscht. Wenn jedoch gleichzeitig eine fortschreitende Individualisierung konstatiert wird, durch die Ehrenamt kurzfristiger, kleinteiliger und flexibler vonstattengeht, dann ist eine nach sozialen Gruppen und Milieus differenzierte Auswertung von Motiven und Bedürfnissen umso wichtiger. Sobald die Eigeninteressen ergründet sind, gilt es, aus den individuellen Motiven wiederum kollektive zivilgesellschaftliche Interessen zu abstrahieren. Denn nur wenn einzelne Bürgerinnen und Bürger ihre persönlichen Interessen mit anderen Bürgern teilen, kann es dauerhaft gelingen, zivilgesellschaftliche Gruppen zu bilden, die auf ein geteiltes Ziel hinarbeiten, solidarisch und am Gemeinwohl orientiert handeln. Hierfür sind Ansätze aus der Sozialpsychologie hilfreich. Der Ansatz des
Insgesamt zeichnet sich derzeit in Deutschland eine Situation ab, in der Kommunen zunehmend unter finanziellen Sparzwängen leiden und freiwillige Aufgaben der Daseinsvorsorge nicht mehr in Eigenleistung erbringen können. Darüber sind sowohl die Privatwirtschaft als auch die Zivilgesellschaft als mögliche Partner in den Blick gerückt. In wirtschaftsschwachen Regionen wird die Übernahme von Aufgabenerbringung in der Daseinsvorsorge durch die Privatwirtschaft kaum realistische Chancen haben. In der Konsequenz hoffen Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Verwaltung hier stärker auf zivilgesellschaftliches Engagement.
Angesichts der skizzierten Dilemmata – geographisch, politisch, motivational – stellt sich die derzeitige argumentative Verknüpfung von demographischem Wandel, zivilgesellschaftlichem Engagement und (der Umgestaltung von) Daseinsvorsorge zu einer Substitutionslogik in der deutschen Stadt- und Regionalentwicklung als
Aus der Dekonstruktion der gängigen Verbindungslinien zwischen demographischem Wandel, Daseinsvorsorge und zivilgesellschaftlichem Engagement wurden hier jedoch Ideen für eine Überarbeitung dieser Verbindungslinien skizziert, die weiterführender offener Diskussion und Forschungsarbeit bedürfen. So ist die Beforschung sozialgruppenspezifischer Motive und Hemmnisse für zivilgesellschaftliches Engagement notwendig. Des Weiteren fehlen Erkenntnisse über Aktivierungsmöglichkeiten bezüglich bisher ungenutzten Engagementpotenzials in der Bevölkerung. Es wird zwar teilweise auf ein zunehmendes Engagementpotenzial verwiesen, jedoch bedeutet dies nicht, dass sich das Potenzial in konkretem Handeln niederschlägt. Hierzu sind weitere Forschungen zu funktionierenden Aktivierungsmechanismen notwendig. Eine mögliche Stoßrichtung stellen dabei ermöglichende Rahmenbedingungen und die Beratung und Begleitung von Engagierten dar. In diesem Sinne empfiehlt beispielsweise Sittler (2015: 9), dass Engagementförderung haushaltsrechtlich als kommunale Pflichtaufgabe zu definieren sei.
Es zeigt sich in der bundesdeutschen Debatte und in den Forschungsergebnissen zum Thema zivilgesellschaftliches Engagement (ARL 2016; Romeu Gordo/Vogel 2017; Simonson/Vogel 2017), dass dieses mit einer adäquaten Anerkennungskultur unterstützt werden sollte. Offen ist hier jedoch, wie eine solche Anerkennungskultur aussehen kann. Hinsichtlich der Anerkennungskultur bemerken Bischoff, Hagedorn und Roscher (2015: 28), dass es neben Aufwandsentschädigungen durchaus andere Möglichkeiten wie gemeinsame Unternehmungen, Fortbildungen und Versicherungen für Engagierte gibt, aber „die alltägliche Wertschätzung der konkreten Arbeit der Freiwilligen und das ,Dankeschön dazwischen‘ werden von den [Engagierten] als wichtiger eingestuft als formale institutionalisierte Anerkennung“. Dennoch fehlen bisher vertiefende Forschungen zu den Perspektiven der Engagierten. Es gilt zu hinterfragen, welche Art von Anerkennung aus der Sicht der Engagierten als angemessen wahrgenommen wird.
Bisherige Forschungen zeigen thesenhaft, dass es durch die Aufgabenübertragung aus der Kommune (Politik und Verwaltung) an zivilgesellschaftliche Träger zu einer Neuaushandlung von Beziehungen und Positionen zwischen beiden gesellschaftlichen Teilbereichen kommen wird. Empirisch wenig fundiert ist jedoch, wie dieser Aushandlungsprozess von Vertreterinnen und Vertretern beider Seiten wahrgenommen und interpretiert wird. Diese Erkenntnisse sind jedoch essenziell, um erfolgreiche Modelle der Übertragung von Aufgaben entwickeln zu können. Mit dem bisherigen Wissensstand und der daraus abgeleiteten Substitutionslogik können seitens der Politik bestehende, aber überhöhte Hoffnungen und Erwartungen an zivilgesellschaftliches Engagement bisher fast nur enttäuscht werden. Zum Anstoß einer offenen Debatte über die realistischen Möglichkeiten der Substitution von staatlich erbrachter Daseinsvorsorge durch zivilgesellschaftliches Engagement ist zuallererst eine konsequente Hinwendung zu einem passenderen Engagementverständnis notwendig, bei dem die Eigeninteressen der Bürgerinnen und Bürger analysiert und berücksichtigt werden. Für ein Verständnis dieser Eigeninteressen ist weitere empirische Grundlagenforschung durchzuführen, die sich mit den Motiven und Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger und ihrer Selbstpositionierung gegenüber staatlichen Akteuren auseinandersetzt. Dabei sind auch die Dimensionen der Emotionalität, Kreativität, Intersubjektivität und Sozialethik stringenter in die Analyse von zivilgesellschaftlichem Engagement einzubinden (vgl. Hollstein 2015).
Dieser Beitrag verfolgte das Ziel, die bestehende Substitutionslogik auf ihre innere Konstitution hin zu prüfen. Es wurden zentrale Probleme aufgezeigt und Verbesserungen angeregt. Was der Beitrag allerdings nicht leistete, war ein grundsätzliches Hinterfragen der Substitutionslogik auf übergeordneter Ebene. Doch auch dies ist aus sozialwissenschaftlicher Sicht ein möglicher und wichtiger Weg für zukünftige Forschung. Gerade hinsichtlich der Erkenntnisse der Peripherisierungsforschung (Ehrlich/Kriszan/Lang 2012; Perrons 2012; Lang 2015; PoSCOPP 2015) lassen sich Rückzugsstrategien von Politik und Verwaltung vor dem Hintergrund neoliberaler Politiken kritisch reflektieren. Lang (2015) versteht Peripherisierung als multidimensionalen Prozess (sozial, politisch, wirtschaftlich), der sich auf verschiedenen räumlichen Maßstabsebenen abspielt und dialektisch mit Prozessen der Zentralisierung einhergeht. Aus dem Zusammenspiel von Peripherisierung und Zentralisierung ergeben sich sozialräumliche Polarisierungsprozesse, welche wiederum in Verbindung mit Diskursen über Räume stehen, woraus im Ergebnis einzelne Regionen symbolisch aufgewertet werden und andere Regionen eine Abwertung erfahren (vgl. auch Miggelbrink/Meyer 2015). Gleichzeitig sind peripherisierte Regionen und Orte nicht als handlungsunfähig anzusehen und Prozesse der Peripherisierung und Polarisierung können durch das Handeln verschiedener Akteure durchaus auch umgekehrt werden. Lang (2015: 176) formuliert: „All sorts of actors have their (implicit and explicit) shares in these processes, hence peripheralised regions cannot be seen as victims of some overarching processes beyond their control without any agency to them. Neither peripheries nor centres can be seen as static concepts with naturally given features and boundaries. Peripheralisation and centralisation are dynamic processes which can be reversed, rejected or redirected in the long run.“
Damit eröffnen sich im Hinblick auf die diskursiven Verbindungslinien zwischen demographischem Wandel, Daseinsvorsorge und zivilgesellschaftlichem Engagement neue Forschungsfragen nach der Rolle verschiedener Akteursgruppen im Diskurs über genau diese Verbindungslinien. Es ist also zukünftig auch näher zu untersuchen, mit welchen Motiven verschiedene Akteure Positionen für oder gegen die bestehende Substitutionslogik einnehmen.