The German Orientation Course is considered as one of the most important measures of integration policy in Germany. It is a mandatory German language and cultural course dedicated to refugees and immigrants. It aims to provide knowledge about the German political system and certain ‘cultural’ German values. This article examines the Orientation Course as an intercultural encounter, as a place which is institutionally and politically framed and also as a hierarchically didactic arena where cultural mediation takes place. It illustrates also how invective communication happens through the establishment of certain communicative patterns which can degrade or disparage social groups. Based on participatory observation in the Orientation Course using the Genre Analysis, this article argues in which ways these communicative patterns can affect the social order and unite or shape groups.
Keywords
- invektive Kulturvergleiche
- kommunikative Muster
- Gattungsanalyse
- Integrationskurs
- Teilhabe; Othering
- Geflüchtete
- Integration – invective cultural comparisons
- communication patterns
- genre analysis
- Integration Course
- othering
- refugees
- integration
Mit dem Integrationskurs wurde im Jahr 2005 auf Basis des Zuwanderungsgesetzes ein neues deutsches integrationspolitisches Instrument geschaffen, das sich ausschließlich an Zugewanderte und Geflüchtete richtet und damit Integrationserwartungen und Desintegrationsbefürchtungen eng an Migrationsphänomene koppelt. Für die Durchführung und Kontrolle der Integrationskurse ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verantwortlich. Der Integrationskurs besteht aus einem Sprachkurs mit 600 bzw. 900 Unterrichtsstunden zu je 45 Minuten und einem Orientierungskurs mit 100 Stunden. Nach dem erfolgreichen Abschluss des Sprachkurses besuchen die Teilnehmenden den Orientierungskurs. Das ‚Zertifikat Integrationskurs‘ können Teilnehmende nur dann erlangen, wenn sie neben dem Sprachtest ‚Deutsch für Zuwanderer’ (DTZ) auch den Test ‚Leben in Deutschland‘ (LID) nach dem Orientierungskurs erfolgreich bestanden haben. BAMF (2017) Curriculum, S. 10.
Der Orientierungskurs führt Zugewanderte an die Grundprinzipien des deutschen Staates und der deutschen Gesellschaft heran und soll es den Teilnehmenden ermöglichen, darüber in einen Dialog miteinander zu treten. Die Teilnehmenden sollen befähigt werden, sich im Alltag zu orientieren und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Vgl. BAMF (2017) Curriculum, S. 7f.
Ergänzend formuliert das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Curriculum für einen bundesweiten Orientierungskurs dessen Funktion und Ziele: Die Zugewanderten sind gehalten, „sich auf ein näheres Kennenlernen des deutschen Staates und der deutschen Gesellschaft einzulassen und in einen positiven Dialog einzutreten, der den Weg für das längerfristige Ziel der Integration in Deutschland ebnet.“ BAMF (2017) Curriculum, S. 7.
Der Orientierungskurs ist in seiner Konzeption und Didaktik an die politische Bildung und den Fremdsprachunterricht in Deutschland angelehnt. Die Fremdsprachendidaktik unterscheidet je nach Erwerbsumgebung zwischen ‚Deutsch als Fremdsprache‘ (DaF) und ‚Deutsch als Zweitsprache‘ (DaZ). Der Orientierungskurs wird demnach dem DaZ-Bereich zugeordnet, weil Deutsch als Landessprache Vgl. Gehring (2018) Fremdsprache, S. 9. „Kommt ein Ausländer seiner Teilnahmepflicht aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht nach oder legt er den Abschlusstest nicht erfolgreich ab, weist ihn die zuständige Ausländerbehörde vor der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis auf die möglichen Auswirkungen seines Handelns (§ 8 Abs. 3, § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. Vgl. 3 des Staatsangehörigkeitsgesetzes) hin. Die Ausländerbehörde kann den Ausländer mit Mitteln des Verwaltungszwangs zur Erfüllung seiner Teilnahmepflicht anhalten. Bei Verletzung der Teilnahmepflicht kann der voraussichtliche Kostenbeitrag auch vorab in einer Summe durch Gebührenbescheid erhoben werden.“ AufenthG § 44a.
Während im DaF-Bereich kulturbezogenes Deutungswissen und kulturbezogene Deutungskompetenzen nur im Sinne ihrer Kenntnis und davon ausgehend ihrer möglichen Nutzung in inter- und transkulturellen Kommunikations-und Austauschprozessen angeeignet werden müssen, ihr Erwerb also zunächst einmal zu nichts verpflichtet, richtet sich das kulturbezogene Lernen im DaZ-Bereich insgesamt auf ein viel weitergehendes Ziel: nämlich auf die Integration der Lernenden in die deutsche Gesellschaft und damit auf einen Vorgang, der zwar auch wissensbasiert ist und Deutungskompetenzen verlangt, zugleich aber mit der Anerkennung von Werten und der Übernahme von Pflichten verbunden ist. Fornhoff (2018) Migration, S. 128f.
Für das kulturbezogene Lernen wird in beiden Bereichen auf die kulturvergleichende Didaktik zurückgegriffen. Dabei wird angenommen, dass Kulturvergleiche dazu dienen, kulturelle Fettnäpfchen zu vermeiden, das Fremdverstehen über andere ‚Kulturen‘ zu fördern, kulturelle Konfliktsituationen zu erklären und interkulturelle Kompetenz zu erwerben, indem Aspekte und Phänomene einer ‚Kultur‘ einer anderen vergleichend gegenübergestellt werden. Für den Orientierungskurs kommt allerdings ein weiteres Ziel hinzu. Der Vergleich zwischen Herkunfts- und Zielkultur soll somit im Idealfall dazu führen, dass die Zielkultur positiv bewertet wird. Es deuten sich also auf der konzeptionellen Ebene des Orientierungskurses einige Spannungsmomente an. So erscheint die generelle Zielvorstellung des ‚mündigen Schülers‘ gepaart mit dem ‚Indoktrinationsverbot‘ im Konzept der politischen Bildung ebenso wie die Idee der prinzipiellen Gleichwertigkeit von Kulturen im didaktischen Konzept des Kulturvergleichs nicht widerspruchsfrei zum Anliegen des Orientierungskurses zu sein, wenn dieser sich als Angebot der Wertebildung versteht und dieses Angebot mit der normativen (und sanktionierbaren) Erwartung an die Teilnehmenden verknüpft, eine „positive Bewertung des deutschen Staates [zu] entwickeln“. BAMF (2017) Curriculum S. 7.
Mit dem Invektivitätsbegriff wird Herabsetzung als ein sozial strukturierender Modus von Interaktions- und Kommunikationsprozessen mit identitäts- und machtpolitischer Funktion gefasst. Invektivität wird als spezifischer Modus von Interaktions- und Kommunikationsprozessen definiert, durch deren Beobachtung es erst möglich ist, die Konflikthaftigkeit, Konsensfähigkeit, Polemogenität und Reproduktion sozialer Ordnungen angemessen verstehen zu können. Es dient als Produktionsmechanismus und Transmissionsriemen sozialer In- und Exklusionsprozesse und produziert damit soziale Hierarchien und Ordnungen. Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivität, S. 6.
Im vorliegenden Beitrag konzentrieren wir uns auf die Frage, welche Formen und Funktionen der Kulturvergleich im Orientierungskurs aufweist, wie er sich koproduktiv vollzieht und welche kommunikativen Effekte sich dabei beobachten lassen. Um das invektive Potential des Kulturvergleichs und seine ordnungsbildende bzw. -transformierende Kraft zu ermitteln, bietet sich die Gattungsanalyse nach Bergmann und Luckmann an. Bergmann/Luckmann (1995) Reconstructive Genres. Vgl. Luckmann (1986) Grundformen.
Die Analyse stützt sich auf ethnografisch generiertes Datenmaterial aus vier Kursen. Die Daten wurden im laufenden Forschungsprojekt
Im Folgenden werden wir die Grundprämissen der Theorie kommunikativer Gattungen und der Gattungsanalyse kurz skizzieren und als theoretische und methodische Heuristik für die Untersuchung typischer kommunikativer Handlungen im Orientierungskurs entfalten. In seinem programmatischen Aufsatz von 1986 Luckmann (1986) Grundformen, S. 199. Luckmann (1986) Grundformen, S. 200. Knoblauch/Luckmann (2003) Gattungsanalyse, S. 546.
Mit „Verfestigung“ und „Formalisierung“ beschreiben Günthner und Knoblauch „die wesentlichen Merkmale kommunikativer Gattungen.“ Günthner/Knoblauch (1994) Gattungen, S. 702. Vgl. Günthner/Knoblauch (1994) Gattungen, S. 703. So sind Curriculum, Lehrmaterialen, die Befugnis, als Sprachschule Integrationskurse anzubieten und in ihnen zu lehren, durch zentrale Zulassungsverfahren geregelt, welche im Zuständigkeitsbereich des BAMF liegen.
Die Binnenstruktur umfasst jene sprachlichen Phänomene, die eine kommunikative Gattung als solche in ihrem performativen Akt intersubjektiv erkennbar machen. Hierzu zählen prosodische und verbale, mimische und gestische Elemente und ihre Verwendung in „Worten und Phrasen, rhetorischen Figuren und Tropen.“ Luckmann (1992) Rekonstruktive Gattungen, S. 39. In der Analyse der Unterrichtsgespräche werden im vorliegenden Beitrag prosodische, mimische und gestische Elemente nicht berücksichtigt, da für die ausgewählten Sequenzen keine Aufzeichnungen vorliegen und sich die Analyse allein auf Beobachtungsprotokolle und die Lehrmaterialen stützt.
Der Orientierungskurs ist gattungstheoretisch in mehrfacher Hinsicht ein interessanter Untersuchungsgegenstand. Er ist erstens ein Ort, an dem sich die für die Gegenwartsgesellschaft repräsentative sprachliche, ethnische, kulturelle und soziale Heterogenität abbildet. Im Orientierungskurs treffen einander individuell meist fremde Angehörige unterschiedlicher Sprach- und Kulturgemeinschaften aufeinander. Sie bilden in sozialer und kultureller Hinsicht heterogene Konstellationen, knüpfen wechselseitig an verschiedene, häufig unbekannte Verhaltensweisen und kulturelle Muster an. Jeder Kurs muss sich also selbst zunächst einmal als soziale Gruppe formieren und sich auf eine gemeinsame Unterrichtspraxis verständigen. Der Orientierungskurs kann in dieser Hinsicht als Gattungsschmiede betrachtet werden. Er stellt gleichzeitig selbst eine gesellschaftliche Institution zur Vermittlung und Tradierung von handlungsorientierendem Wissen dar. Er kann folglich daraufhin untersucht werden, welches kulturelle Wissen für eine selbstständige Lebensführung in Deutschland als maßgeblich erachtet und durch staatlich geregelte Zulassungs- und Prüfungsverfahren kanonisiert wird und wie dieses Wissen mit der im Kurs anwesenden Vielfalt an Wissenstraditionen vermittelbar ist. Schließlich greift der Orientierungskurs bei der Wissensvermittlung auf ein Repertoire an kommunikativen Mustern zurück, die ihrerseits gattungsanalytisch auf ihre Problemlösungsfunktionen hin untersucht werden können: Welche kommunikativen Probleme werden in diesen heterogenen Konstellationen von den Beteiligten bearbeitet? Welcher verfestigten Problemlösungsmuster bedienen sie sich dabei und auf welche Ordnungsstrukturen und normativen Orientierungen lassen die im Orientierungskurs verwendeten kommunikativen Gattungen schließen? Dies sind die Leitfragen unserer gattungsanalytischen Untersuchung des Orientierungskurses. Für den vorliegenden Beitrag konzentrieren wir uns zunächst auf das mit Abstand am häufigsten vorkommende kommunikative Muster des Kulturvergleichs, welches wir im Folgenden auf seine Formen und Funktionen untersuchen werden. In welchen thematischen Zusammenhängen taucht der Kulturvergleich im Orientierungskurs auf? Was ist überhaupt Gegenstand des Vergleichs und wie sind die zu vergleichenden Einheiten einander zugeordnet? Welche Teilnehmerkonstellationen werden in seinem sequenziellen Ablauf hergestellt? Es geht also einerseits um die Frage, welche als kulturell zu vergleichenden Einheiten auf welche Weise miteinander relationiert werden und sich dadurch wechselseitig Bedeutung zuweisen, und andererseits darum, wie die Teilnehmenden über die Praxis des Kulturvergleichs sich zueinander relationieren und positionieren. Wir fassen zunächst den Stand der Diskussion zum Kulturvergleich in der Fremdsprachendidaktik zusammen und fragen, welche Konzepte der Didaktik des Kulturvergleichs im Curriculum des Orientierungskurses aufgegriffen werden. Sodann beginnen wir mit einer deskriptiven Analyse der Variationen kulturvergleichender Kommunikation im Orientierungskurs. Der Kulturvergleich ist, wie eingangs angedeutet, als didaktische Methode für den DaZ- und DaF-Unterricht konzipiert und findet sich implizit auch im Curriculum des Orientierungskurses. In den Lehrmaterialen gibt es dementsprechend zahlreiche Übungen, die zum Vergleich zwischen Herkunfts- und Zielkultur bzw. den jeweils im Kurs repräsentierten Nationalkulturen auffordern. Noch häufiger finden wir spontane Kulturvergleiche in den Unterrichtsgesprächen, selbst dort, wo die Aufgabenstellung aus den Lehrmaterialien diese gar nicht vorsehen. Wir werden uns daher im zweiten Teil der Analyse auf diese spontanen Kulturvergleiche konzentrieren.
Bevor wir auf den kulturvergleichenden didaktischen Ansatz im Orientierungskurs eingehen, sollen die unterschiedlichen Ansätze im Fremdsprachenunterricht erläutert werden. Nach der Klassifizierung von Günter Weimann und Wolfram Hösch gibt es im Fremdsprachenunterricht drei didaktische Ansätze der Kulturvermittlung: den kognitiven, den kommunikativen und den interkulturellen Ansatz. Vgl. Weimann/Hösch (1993) Kulturverstehen. Vgl. Zeuner (2017) Landeskunde, S. 8. Zeuner (2017) Landeskunde, S. 11.
Das Ziel des kommunikativen Ansatzes ist
die sprachliche und kulturelle Handlungsfähigkeit in der Zielsprache und Zielkultur und die Entwicklung von Einstellungen wie Offenheit, Toleranz und Kommunikationsbereitschaft gegenüber der Zielkultur. Landeskunde in diesem Verständnis will vor allem das Gelingen sprachlicher Handlungen im Alltag und das Verstehen alltagskultureller Phänomene unterstützen. Sie ist sowohl informationsbezogen als auch handlungsbezogen konzipiert. Sie vermittelt also Wissen über die fremde Kultur als eine wesentliche Voraussetzung adäquater Sprachverwendung. Zeuner (2017) Landeskunde, S. 1
Das Wissen über die Zielkultur ist genauso ein wichtiges Lernziel des interkulturellen Ansatzes, allerdings geht der interkulturell ausgerichtete Fremdsprachenunterricht darüber hinaus und zielt nicht nur darauf ab, Informationen zu vermitteln. Vgl. Zeuner (2017) Landeskunde, S. 11. Thomas (1993) Kulturvergleichende Psychologie, S. 378.
Auch wenn die Ansätze unterschiedliche Akzente bei der Frage der Beschaffenheit des kulturellen Wissens setzen, folgen sie der gemeinsamen Überzeugung, dass beim Fremdspracherwerb auch ein Bewusstsein bzw. Wissen über kulturelle Differenzen erlangt und ein tieferes Verständnis für die eigene im Verhältnis zur fremden Kultur entwickelt werden sollte. Der Kulturvergleich steht hier notwendigerweise im Zentrum, wobei er unter der Maßgabe der Wertfreiheit und Gleichwertigkeit von Kulturen geschehen soll. Diese normative Positionierung wird in expliziter Abgrenzung zur Geschichte des ethnologischen Kulturvergleichs vorgenommen, welche bereits in den 1980er und 1990er Jahren wissenschaftskritisch auf ihre ethnozentrischen Vorannahmen und invektiven Effekte befragt worden war. Unter dem Stichwort der „Krise der ethnographischen Repräsentation“ (Berg/Fuchs [1993] Kultur) wurde die Funktion und Rolle der Ethnologie für die europäische Expansion und die Etablierung kolonialer Machtverhältnisse kritisch reflektiert, das Verhältnis von ethnografischer Autor*innenschaft und Autorität hinterfragt (Clifford/Marcus [1986] Writing Culture) und letztlich der Kulturbegriff selbst auf den Prüfstand gestellt (Abu-Lughod [1991] Writing Against Culture). Vgl. Chen (2013) Das Eigene, S. 52. Bollig (2003) Interkulturelle Vergleichsverfahren, S. 395. Bollig (2003) Interkulturelle Vergleichsverfahren, S. 395. Chen (2013) Das Eigene, S. 53. Vgl. Chen (2013) Das Eigene, S. 55f.
Kulturvergleich definiert Adelheid Hu als einen Vergleich zwischen Phänomenen der eigenen, bekannten, nachvollziehbaren und der neuen, fremden Kultur. Sie stellt fest, dass er als kognitiver Prozess im Kontext des Fremdsprachenunterrichtes ständig auftritt und dabei oft mit Wertungen verbunden sei. Vgl. Hu (2010) Kulturvergleich, S. 178. Vgl. Chen (2013) Das Eigene, S. 58. Ott (2020) Arbeitspapier, S. 12f. In den letzten Jahren mehren sich kritische Perspektiven auf die interkulturelle Landeskunde und deren normative Verortung im Fremdsprachunterricht. Es wird eine grundlegende Neuausrichtung der Kulturdidaktik gefordert, diese solle sich an neuen Ansätzen wie der „diskursiven Landeskunde“ nach Altmayer oder dem kulturreflexiven Lehren und Lernen nach Haase und Höller orientieren.; Haase/Höller (2017) Kulturelles Lernen; Dirim/Wegner (2018) Normative Grundlagen. Vgl. Hu (2010) Kulturvergleich, S. 178.
Der Orientierungskurs ist inhaltlich und didaktisch nach den folgenden Leitlinien konzipiert. Er soll erstens die Grundprinzipien der politischen Bildung nach dem Beutelsbacher Konsens Demnach soll politische Bildung als Zielvorstellung die „Mündigkeit des Schülers“ zugrunde legen, woraus sich ein Indoktrinationsverbot ebenso ergebe, wie ein offener Umgang mit politisch und wissenschaftlich kontroversen Themen. Ziel der politischen Bildung ist entsprechend zur Analyse einer politischen Situation zu befähigen und „nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen“ (Wehling 1977, S. 179f.), zit. nach Sutor (2011) APuZ B 45/2002, unter BAMF (2017) Curriculum, S. 14. echte oder auch nur scheinbare Gegensätze zwischen den Gepflogenheiten in Deutschland auf der einen und in den Herkunftsländern auf der anderen Seite hergestellt [werden]. Beispielhaft zu nennen sind hier Themen wie Kopftuch- oder Burkadebatte, Zwangsheirat, Gewalt in der Familie, Ehrenmord etc. BAMF (2017) Curriculum, S. 15
Zusammenfassend soll der Orientierungskurs also nicht nur ein lebensweltnahes Angebot der politischen Bildung an Migrierte sein, er soll die Teilnehmenden auch mit Topoi vertraut machen, von denen sie „unter Umständen selbst […] betroffen sein können“ BAMF (2017) Curriculum, S. 15
Neben den didaktischen Leitlinien, in denen sich noch kein expliziter Hinweis auf die Didaktik des Kulturvergleichs findet, sind im Curriculum auch die Ziele des Orientierungskurses festgelegt. Die Teilnehmenden sollen demnach u.a. Verständnis und eine positive Haltung zum deutschen Staatswesen entwickeln, sie sollen Kenntnis über die Rechte und Pflichten als Einwohner und Staatsbürger erlangen, zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben befähigt werden und interkulturelle Kompetenz erwerben. BAMF (2017) Curriculum, S. 7.
Im Lehrbuch gibt es zahlreiche Übungen, die zum Vergleich zwischen Herkunfts- und Zielkultur bzw. den jeweils im Kurs repräsentierten Nationalkulturen explizit oder implizit auffordern. Wie an den folgenden Beispielen aus zwei durch das BAMF für den Orientierungskurs zugelassenen Lehrbüchern „Sammeln Sie in der Gruppe Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den Systemen in ihren Heimatländern!“ Butler/Würtz/Kotas et al. (2017) 100 Stunden Deutschland, S. 19. „Vergleichen Sie die Situation in Deutschland mit Ihrem Heimatland. Welche Rechte haben Frauen und Männer? Wo gibt es Unterschiede und Gemeinsamkeiten?“ Schote (2017) Orientierungskurs, S. 73. „Kennen Sie andere politische Systeme? Was wissen Sie über diese Systeme?“ Butler/Würtz/Kotas et al. (2017) 100 Stunden Deutschland, S. 19.
Sie sind entweder als Entscheidungs- oder Bestätigungsfragen formuliert, die den Kursteilnehmenden keine offene Antwortmöglichkeit anbietet, als Imperativsatz, der die Kursteilnehmenden zu einer Handlung auffordert oder als Was-Konstruktion, die dazu dient die mögliche Antwort auf eine vorgängige geschlossene Frage „Ja“, „Nein“ oder „Weiß nicht“ zu vertiefen und zu erklären. Das Aufgabenziel legt den Fokus auf ein spezifisches Thema bzw. Phänomen als Tertium Comparationis, welches in Gruppenarbeit verglichen und danach im Unterricht präsentiert werden soll. Das Dritte des Vergleichs ist in der Aufgabe meist klar formuliert und vorgegeben, z.B. ‚Frauenrechte‘, ‚Politische Systeme‘ oder ‚Umgang mit der Zeit‘. Während der Gruppenarbeit beobachtet die Lehrperson die Kursteilnehmenden, wie sie miteinander agieren und greift ab und zu korrigierend ein oder beantwortet die Fragen der Kursteilnehmenden. Auffällig ist, dass die im Lehrbuch definierten Aufgabenstellungen im Unterricht eine Transformation erfahren. Sie werden selten so bearbeitet, wie es das Lehrbuch vorsieht, sondern von der Lehrkraft situativ abgewandelt, so dass sie sich gut in den laufenden Unterrichtsprozess einfügen. Dabei kommt es erstens häufig zum spontanen Einsatz kulturvergleichender Fragen auch dort, wo sie im Lehrbuch nicht vorgesehen sind. Wenn im Lehrbuch dazu aufgefordert wird, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Herkunfts- und Zielkultur bzw. zwischen verschiedenen Ländern zu sammeln, wird zweitens im Unterrichtsgespräch meist auf die Unterschiede fokussiert, wie sich in der nachfolgenden Analyse zeigen wird.
Neben diesen im Lehrmaterial formalisierten kulturvergleichenden Aufgabenstellungen ist damit der ‚spontane‘ Kulturvergleich eines der am häufigsten gebrauchten kommunikativen Muster im Orientierungskurs. Die häufigsten kulturvergleichenden Fragen im Orientierungskurs wurden durch eine lexikalische Suche in den ca. 70% der generierten erhobenen Daten im MAXQDA erfasst. Zit. nach Betz (2017) Diskursmarker, S. 193. Betz (2017) Diskursmarker, S. 193.
Die im Folgenden zu analysierende Sequenz stammt aus einem Unterrichtsgespräch des zweiten Tages eines Orientierungskurses in einer Sprachschule. Beobachtungsprotokoll – OK 3 – beobachtet am 07.12.2018. Alle hier verwendeten Namen sind Pseudonyme. Mann + Frau + Kinder
Nancy bemerkt dann, dass es in Deutschland noch andere Familienformen gäbe und fordert die Teilnehmenden mit der Frage „Welche Formen gibt es noch in Deutschland?“ auf, diese zu benennen. Die Teilnehmenden kommen dieser Aufforderung nach und nennen verschiedene Familienformen, die von Nancy sprachlich korrigiert als „gleichgeschlechtliche Beziehung/Paare mit/ohne Kind“ an der Tafel festgehalten werden. Sie beantwortet die Frage des Teilnehmers Hasib nach der Bedeutung des Worts ‚gleichgeschlechtlich‘ und fordert dann die Teilnehmenden dazu auf, darüber nachzudenken, wie es dazu gekommen ist, dass sich in Deutschland die Familienformen diversifiziert haben, „warum“ also, „dieses klassische Bild anders geworden ist in Deutschland“. Eine Nachfrage des Teilnehmenden Hasib und seine darauffolgende moralisch-wertende Äußerung bezüglich der in Deutschland verbreiteten Praxis nichtehelicher Lebensgemeinschaften („Nur Freunde, das ist falsch.“) wird von Nancy als „nicht verstanden“ kommentiert und von Hasib daraufhin nicht weiterverfolgt. Nancy kommt stattdessen zu ihrer Frage zurück, die sie nun selbst an der Tafel beantwortet: Demnach erodierte das traditionelle Familienmodell aufgrund veränderter gesellschaftlicher (und rechtlicher) Normen, die es erstens Frauen ermöglicht, selbstbestimmt einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und die es zweitens verheirateten Paaren erlaubt, sich zu trennen. Nun initiiert Hasib eine kulturvergleichende Kommunikation, die allerdings keine Resonanz findet: Er kommt auf die Frage des nichtehelichen Zusammenlebens zurück und möchte zunächst genauer wissen, wie weit diese Lebensform in Deutschland verbreitet ist. Seine Frage nach dem prozentualen Anteil an nicht-verheirateten Paaren kann Nancy nicht beantworten. Hasib wiederholt seine zuvor bereits geäußerte moralische Wertung nichtehelicher Lebensgemeinschaften, relativiert sie jedoch zugleich, in dem er die in Deutschland gültige Normalität von der in muslimischen Ländern gültigen Normalität unterscheidet: „In muslimischen Ländern, das ist falsch. Hier Mädchen und Jungen zusammenleben, aber in muslimischen Ländern nicht.“
An dieser Stelle des Unterrichtsgesprächs dient der seitens eines Kursteilnehmers initiierte Vergleich dazu, die Differenz zwischen normativen bzw. moralischen Orientierungen zu erfassen und ihre jeweilige Gültigkeit einzugrenzen. Das Tertium Comparationis, dasjenige Kriterium, welches die zu vergleichenden Einheiten vergleichbar macht, ist hier nicht, wie in der Übung angelegt, Formen des Zusammenlebens allgemein zu behandeln, sondern die Frage, wie und mittels welcher Instanzen Lebensformen ihre soziale Einbettung und Anerkennung erfahren (sollen). Als Einheiten des Vergleichs unterscheidet Hasib Deutschland von muslimischen Ländern. Er relationiert also einen einzelnen Nationalstaat und dessen angenommene kulturelle Verfasstheit mit einer unbestimmten Anzahl an Ländern, die sich seines Erachtens nach im Gegensatz zu Deutschland nicht über eine Nationalkultur, sondern über religiöse Wissenstraditionen definieren und in dieser Hinsicht als gleich angenommen werden können. Wir können hier nicht mit Sicherheit sagen, ob die Verwendung des Plurals „muslimische Länder“ beabsichtigt ist oder Hasib hier Plural mit Singular verwechselt. Er verwendet auch an anderer Stelle „muslimische Länder“ in einem Satz im Zusammenhang mit seinem Herkunftsland, in dem der Gebrauch des Singulars naheliegender wäre. Abgesehen davon, dass die Intention des Sprechers nicht allein ausschlaggebend für den sozialen Sinn einer Äußerung ist, könnte die Verwechslung von Singular und Plural, so sie denn vorliegt, dafürsprechen, dass „muslimische Länder“ eine für Hasib eingängigere Vokabel ist, als „muslimisches Land“; die Verallgemeinerung des Muslimischen durch die Verwendung des Plurals hier also offenbar eine diskursive Realität widerspiegelt, in welcher Hasib Deutsch lernt.
Wie zuvor bleibt auch dieser Redebeitrag von Hasib sozial folgenlos, insofern niemand daran anschließt. Auch Nancy reagiert nicht auf ihn, sondern wendet sich an eine andere Teilnehmerin, die unmittelbar im Anschluss an Hasib eine Frage stellt und wissen möchte, ob in Deutschland Männer mehrere Frauen heiraten dürfen. Nancy beantwortet die Frage, und gibt an, dass dieser Fall sehr selten in Deutschland sei und die Deutschen eher monogam lebten. Sie beendet dann den mündlichen Austausch und setzt das Thema mit einer Übung aus dem Lehrbuch fort. Unter der Überschrift „Wie leben die meisten Menschen in Deutschland zusammen?“ sind verschiedene Bilder zu sehen, die unterschiedliche Familienformen repräsentieren sollen. Die Teilnehmenden sollen sich zunächst die Bilder im Lehrbuch ansehen. Dann initiiert Nancy eine für den Orientierungskurs typische kulturvergleichende Kommunikation, die im Unterschied zur vorherigen, von Hasib initiierten, von den Teilnehmenden kooperativ vollendet wird.
Die Grundstruktur des von der Lehrkraft initiierten spontanen Kulturvergleichs im Unterrichtsgespräch folgt einer wiederkehrenden Dramaturgie. Die Lehrkraft greift ein kulturelles Phänomen oder einen normativen Wert aus dem behandelten Themenbereich heraus und fordert die Teilnehmenden dazu auf, diesen auf ihr Herkunftsland zu beziehen. Der Ablauf dieser Sequenzen weist, wie das übrige Unterrichtsgespräch auch, große Ähnlichkeiten zur Didaktik des fragend-entwickelnden Unterrichts auf. Die Lehrkraft hat einen narrativen Plot, den die Teilnehmenden nicht kennen. Sie versucht mit gezielten Fragen das Gespräch in diesen geplanten narrativen Plot zu kanalisieren. Die initiierende Frage beginnt meist mit „Wie ist das in ...“ oder wie im vorliegenden Fall mit „Gibt es das in ...“. Dann werden entweder die Länder nacheinander genannt, die in der Kurskonstellation vertreten sind oder die Teilnehmenden werden einzeln adressiert und sollen Auskunft darüber geben, wie sich der Sachverhalt in „ihrem Heimatland“ verhält. In beiden Fällen werden die Teilnehmenden als Repräsentant*innen und kulturelle Expert*innen des Landes angesprochen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen. Sie werden also nicht nach ihren individuellen Erfahrungen und Einschätzungen gefragt, sondern zu pauschalisierenden Äußerungen über die Gepflogenheiten in ‚ihrem‘ Land und damit der Konstruktion einer homogenen Nationalkultur aufgefordert.
Im vorliegenden Fall greift Nancy mit der ‚Regenbogenfamilie‘ zunächst eine Lebensform heraus, die in Deutschland seit einiger Zeit rechtlich möglich ist, jedoch quantitativ im Vergleich mit heterosexueller Elternschaft eher selten vorkommt. Auch wird gleichgeschlechtliche Elternschaft in Deutschland durchaus unterschiedlich bewertet, kann also kaum als uneingeschränkt gesellschaftlich akzeptiert gelten. Gleichzeitig sind mit der Bezeichnung ‚Regenbogenfamilie‘ und den diese Familienform legitimierenden Rechtsnormen bereits bedeutsame Symbole gesellschaftlicher Akzeptanz verbunden. Nancy greift mit anderen Worten aus der Vielzahl von in Deutschland legalen Familienformen eine heraus, deren moralische Legitimität umstritten ist und die quantitativ nicht den Status einer typischen Familienform hat. Sie bekräftigt damit allerdings den Deutungsrahmen, den die Übung im Lehrbuch offeriert, welche eine Klassifikation und visuelle Repräsentanz der Diversität an möglichen Familienformen unter der Überschrift „Wie leben die Vgl. Butler/Würtz/Kotas et al. (2017) 100 Stunden Deutschland, S. 19.
Betrachten wir die Struktur des Vergleichs nun etwas genauer. Wie ist ihr interaktiver Verlauf, welche Einheiten werden unter der Annahme der Vergleichbarkeit und Differenz miteinander relationiert und was wird als Tertium Comparationis eingeführt? Zunächst fällt auf, dass Nancy mit „Gibt es das in ...“ eine geschlossene Frageform wählt, die einen differenzierten Vergleich zwischen Familienformen in verschiedenen Ländern ausschließt. Die gesamte Sequenz enthält drei „Gibt es ...“-Fragen, deren Dramaturgie Auskunft über ihren narrativen Plot geben. Die erste bezieht sich auf die Existenz einer bestimmten Lebensform, die zweite und dritte auf die moralische Bewertung bzw. Bestrafung von Frauen, die gegen Traditionen verstoßen.
Statt die Vielfalt an Lebensformen in Deutschland mit jener in den Herkunftsländern der Teilnehmenden oder der den Teilnehmenden persönlich bekannten Lebensformen zu vergleichen, sollen die Befragten zunächst Auskunft darüber geben, ob es in dem jeweiligen Land die Familienform ‚Regenbogenfamilie‘ gibt. Auffällig ist hier, dass Nancy nicht fragt, ob es gleichgeschlechtliche Paare gibt, die gemeinsam Verantwortung für ein Kind übernehmen, sondern ganz explizit den ausschließlich in Deutschland bekannten Begriff ‚Regenbogenfamilie‘ verwendet. Diese Frage können und müssen die Teilnehmenden einhellig mit einem eindeutigen und teilweise durch Wortwiederholung bekräftigten ‚Nein‘ beantworten. Es ist zu vermuten, dass diese Antwort von Nancy erwartet wurde, zumindest bedarf sie offensichtlich keiner weiteren Erläuterung. Der Kommentar der Teilnehmerin Tatjana, die mit der Bemerkung, dass Frauen immer der Kopf der Familie seien (sie bezieht sich hier vermutlich auf russische Familien) einen anderen Aspekt zum Thema Familienformen einbringen möchte, wird nicht aufgegriffen. Stattdessen will Nancy daraufhin von Tatjana wissen, ob positiv oder negativ über Frauen gesprochen wird, die zum zweiten Mal heiraten, was Tatjana mit „negativ“ beantwortet. Daran schließt Nancys dritte Frage, die sich diesmal an Hasib richtet:
Auch diese Fragesequenz folgt dem gleichen Muster. Sie beginnt mit einer geschlossenen Frage, die mit „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten ist und sie geht von einer in Deutschland existierenden Norm aus, die daraufhin befragt wird, ob sie in Iran auch vorhanden ist. Interessant ist nun der weitere Verlauf der Gesprächssequenz. Anders als Tatjana zeigt Hasib nicht das von ihm erwartete Antwortverhalten. Zunächst weist er die Frage als „nicht verstanden“ zurück, so wie es Nancy zuvor mit seiner Frage getan hatte. Anders als Hasib zuvor gibt aber Nancy an dieser Stelle nicht auf, sondern paraphrasiert ihre Frage in einer weiteren „Gibt es ...“-Frage. Hasib kommt nun der Aufforderung nach und antwortet gemäß der geschlossenen Frage (und vermutlich auch der Erwartung der Lehrkraft) mit „Nein“, schränkt dieses „Nein“ jedoch ein, indem er ein „Aber“ hinzufügt. Demnach kommt es durchaus vor, dass unverheiratete Frauen Kinder bekommen, sie heiraten dann aber nach der Geburt. Diese Antwort scheint für Nancy nicht befriedigend zu sein, weshalb sie eine weitere Frage anschließt, die diesmal die Form einer Alternativfrage hat. Sie bietet Hasib zwei Antwortmöglichkeiten, zwischen denen er wählen kann, beide Antworten unterstellen eine grundsätzliche Strafbarkeit und massive Strafverfolgung nichtehelicher Mutterschaft in Iran: Freiheitsberaubung oder Tod. Hasib kann diese Frage im Horizont der angebotenen Antwortmöglichkeiten nicht beantworten. Er bietet eine dritte Alternative an, welche die Vermutung der Strafbarkeit und Strafverfolgung nicht bestätigt, wohl aber nichteheliche Mutterschaft als für die Betroffene problematische Lebenssituation bezeichnet.
Hasib bringt in dieser Gesprächssequenz ein Normalitätsverständnis zum Ausdruck, das sich von jenem unterscheidet, welches Nancy als in Deutschland realisiertes, jedoch im Prinzip universell gültiges annimmt. Hasib sagt, das kommt schon vor, dass Frauen in Iran ein Kind bekommen, ohne verheiratet zu sein, aber es steht für ihn ganz außer Frage, dass die Frau, wenn sie ein Kind hat, heiraten wird. Es ist also gar nicht vorgesehen und erscheint ihm auch einigermaßen unvorstellbar, dass man als Frau in Iran auf die Heirat verzichten würde, wenn man ein Kind bekommen hat. Hasib spricht also von einer gesellschaftlichen Konvention, von einer als kollektiv geteilt angenommenen moralischen Auffassung darüber, dass es richtig ist, verheiratet zu sein, wenn man Kinder hat und falsch, wenn man unverheiratet Kinder hat oder zusammenlebt (wie er zu einem früheren Zeitpunkt zu verstehen gab). Nancy hingegen geht von einer als kollektiv geteilt angenommenen moralischen Auffassung aus, dass individuelle Freiheitsrechte über allem anderen stehen, aus welchen sich ableiten lässt, dass Frauen sich individuell für ein Kind und gegen eine Heirat aussprechen können. Sie nimmt weiter an, dass diese individuellen Freiheitsbestrebungen in allen Menschen, auch in Iran vorhanden, dort aber staatlich unterdrückt und gesetzlich sanktioniert werden.
Befragt auf das Tertium Comparationis und die von den Beteiligten angenommenen Vergleichseinheiten lässt sich an dieser Gesprächssequenz zwischen Nancy und Hasib Folgendes feststellen. Die Vergleichseinheiten Deutschland und Iran werden von Nancy eingeführt und von Hasib widerspruchslos angenommen. Was aber ist das Tertium Comparationis in diesem Fall und wie wird es gebildet? Mit der Frage nach der rechtlichen Möglichkeit zur nichtehelichen Mutterschaft in Iran und der Art der daran anschließenden Folgefragen nach dem Straf Matthes (1992) Operation “Vergleichen”, S. 84. Castro Varela/Dhawan (2015) Postkoloniale Theorie, S. 164. Ivanova (2016) Umgang der Migrationsanderen, S. 42. Kunz (2016) Ungleichheit, S. 251.
Wir haben in diesem Beitrag den Kulturvergleich im Orientierungskurs als kommunikative Gattung auf seine außen- und binnenstrukturellen Merkmale und Variationen beschrieben und seine situative Realisierung exemplarisch in Augenschein genommen, um den Vergleichsvorgang und die jeweils eingeführten Tertia Comparationis zu bestimmen. Dabei konnten Einblicke in das kulturelle Wissen gewonnen werden, welches sich im Kulturvergleich als kommunikativer Gattung sedimentiert. Ebenfalls konnte nachvollzogen werden, wie sich dieses Wissen im Unterrichtsgespräch aktualisiert und mit sozialstrukturellem Ordnungswissen verknüpft. Während sich die narrativen Plots von Lehrkraft zu Lehrkraft unterscheiden mögen, so lässt sich doch eine übereinstimmende Grundstruktur ausmachen. Wir können damit mit relativ großer Sicherheit sagen, dass es sich bei der am exemplarischen Fall rekonstruierten Herstellung einer asymmetrischen Vergleichskonstellation zwischen abgewerteter Herkunfts- und aufgewerteter Zielkultur um ein ordnungskonstitutives Muster handelt, dass den Kulturvergleich im Orientierungskurs entgegen seiner erklärten didaktischen Zielsetzung zu einer invektiven Gattung macht. Seine konstitutive Bedeutung wird in der Häufigkeit seines Vorkommens und in der wiedererkennbaren Musterhaftigkeit seines Ablaufs deutlich. Darüber hinaus findet sie sich in metainvektiven Äußerungen von Teilnehmenden bestätigt. Hierzu ein Beispiel aus einem anderen Orientierungskurs: In einer Übung sollten die Kursteilnehmenden eine Situation daraufhin bewerten, ob sie zu den Grundwerten Demokratie und Rechtsstaat passt. In dem Fallbeispiel hatte ein fiktiver Bundespräsident seine Position dazu missbraucht, seinem Neffen eine Stelle zu verschaffen, die dieser ohne die Intervention seines Onkels nicht bekommen hätte. Die Lehrkraft initiierte eine kulturvergleichende Diskussion mit der Frage: „Passiert das in eurem Heimatland?” Reihum bestätigten die Teilnehmenden, dass dies in ihrem Heimatland sicher vorkomme, einer vermutete gar, dies würde für jedes Land gelten. Daraufhin widersprach ein Teilnehmender, in dem er Deutschland von dieser Regel ausnahm („Ja, außer in Deutschland“). Seine Aussage markierte er gestisch als ironischen Kommentar und unterstrich ihren spielerischen Charakter mit Lachen. Er gab damit zu erkennen, dass er die invektiven Konstitutionsmerkmale des Kulturvergleichs im Orientierungskurs durchschaut.
Der Kulturvergleich im Orientierungskurs kann folglich als invektive Gattung begriffen werden, insofern Kulturen primär als territorial in Staatswesen verfasste Nationalkollektive definiert werden, welche durch spezifische Vergleichsoperationen einander asymmetrisch zugeordnet werden. Dabei werden primär kulturelle Differenzen und kaum Gemeinsamkeiten thematisiert. Die Zielkultur wird mittels maximal kontrastierender und nostrifizierender Vergleiche als von der Herkunftskultur stark verschieden und ihr gleichzeitig überlegen hergestellt. Die Analyse hat gezeigt, dass die Teilnehmenden in der kulturvergleichenden Kommunikation nicht als Individuen, sondern als „Exemplare“ Hirschauer/Boll (2017) Un/doing Differences, S. 42.
Wir haben schließlich festgestellt, dass diese Praxis vom fremdsprachendidaktischen Konzept des wertfreien Kulturvergleichs abweicht. Damit ist jedoch das Ziel dieses Beitrags noch nicht erreicht. Unser primäres Anliegen besteht nicht darin, die gängige Praxis zu kritisieren oder zu problematisieren. Vielmehr wollen wir nun abschließend eine These zu der Frage formulieren, welche Probleme die kommunikative Gattung des Kulturvergleichs im Orientierungskurs löst. Diese Frage führt zurück zu den eingangs identifizierten Spannungsmomenten zwischen den didaktischen Leitlinien denen der Orientierungskurs folgt und seiner integrationspolitischen Funktion. Wir nehmen an, dass mit der Herstellung von asymmetrischen Kontrasten zwischen Herkunfts- und Zielkultur die Lehrkräfte das Problem lösen, das sich aus dem Verbot der Indoktrination einerseits und dem Auftrag zur Wertebildung andererseits ergibt. Die Teilnehmenden dürfen also in den Kursen nicht explizit dazu aufgefordert werden, ein positives Verhältnis zum deutschen Staat zu entwickeln, sie werden stattdessen dazu gebracht, die Wissenstraditionen und Werteorientierungen, die sie im bisherigen Lebenslauf erworben haben, durch die nostrifizierenden Augen der Zielkultur neu zu bewerten, wobei der Vergleich so angelegt ist, dass erstens die individuelle Erfahrung durch Stereotypen ersetzt wird und zweitens die Bewertung immer zugunsten der Zielkultur ausfällt.
Die Ergebnisse unserer bisherigen Analyse zeigen, dass der Kulturvergleich als invektive Gattung eine wichtige Funktion im Orientierungskurs hat. Dabei zeigen sich in den Kurskonstellationen durchaus Unterschiede, die in der weiteren Analyse näher in Augenschein genommen werden müssen. Welche Möglichkeiten des Widerspruchs oder des Widerstands haben etwa die Kursteilnehmenden? Welche unterschiedlichen narrativen Plots verfolgen die Lehrkräfte und inwieweit spiegeln diese die Vielfalt an Wissenstraditionen und moralischen Orientierungen innerhalb Deutschlands wider? Welche Bedeutung hat dabei das korrektive Feedback, das als typisches kommunikatives Muster des Fremdsprachenunterrichts auch im Orientierungskurs prominent ist, hier jedoch in Verbindung mit der Vermittlung von kulturellem Wissen auftritt? Für die Beantwortung der Frage, mit welchen institutionellen und kommunikativen Mitteln die Tradierung und Kanonisierung von Wissenstraditionen unter der Bedingung von sozialer Heterogenität und kultureller Diversität organisiert wird, ist der Orientierungskurs in jedem Fall ein aufschlussreiches Forschungsfeld.
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