The article deals with the Protestant genre ‘Lügende’ (word combined from ‘Legende’ [legend] and ‘Lüge’ [lie]) as a disparagement of Roman Catholic legends in the 16th century. The investigation concentrates on paratextualisation as elementary invective mode of ‘Lügenden’. The analytical focus on titles, marginalia and so called ‘reminders’ (‘Erinnerungen’) shows the correlation between the generic term ‘Legende’ resp. ‘Lügende’ and the invective pattern of language use ‘Lügende’. According to this, the article discusses ‘Lügende’ as a communicative genre. Furthermore, by understanding ‘Lügende’ as a meta genre, whose paratexts are its basic elements of metaization, paratexts refer to text transgressions. Therefore, they are specified as secondary forms of religious communication during the denominational conflicts and negotiation processes in the 16th century.
Keywords
- Legende
- Lügende
- Luther
- Paratext
- Invektivität
- Sprachgebrauchsmuster
- kommunikative Gattung
- Metagattung
- religiöse Kommunikation – legendary tales
- ‚Lügende‘
- Luther
- paratext, invectivity
- patterns of language use
- communicative genre
- meta-genre
- religious communication
Innerhalb der reformatorischen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts sind Herabsetzungen von Texten und Gattungen, die für die religiöse Kommunikation grundsätzlich relevant sind, zentral. Hier kommen sehr unterschiedliche Praktiken zum Tragen; es lässt sich jedoch beobachten, dass die Paratextualisierung etwa von theologischen Traktaten, legendarischen Erzählungen oder päpstlichen Bullen eine signifikante Rolle innerhalb dieser invektiven Praktiken spielt. Im Falle der Legenden, welche im Ausgang des Mittelalters eine Hochzeit erlebten, bewirken invektive Paratexte sehr spezifische gattungsdynamische und zugleich religiös-kommunikative Aushandlungsprozesse, welche sich in der protestantischen Metagattung der ‚Lügende‘ verdichten. Mit Titel, Vor- und Nachwort, Marginalglossen und sogenannten Erinnerungen, die wiederum als etwas umfangreichere Kontextglossen aufgefasst werden können, versehen die Herausgeber der Lügenden altgläubige Mirakel- und Legendenerzählungen und setzen diese in ihrer Bedeutung und Funktion für die Heiligenverehrung und damit generell den Heiligenkult nachdrücklich herab.
Die Prägung des Begriffes ‚Paratext‘ sowie grundsätzliche Überlegungen zu Typologie und Funktionen des Paratextes gehen bekanntlich zurück auf den französischen Literaturwissenschaftler Gérard Genette: In seiner 1987 erschienenen Studie mit dem Titel Genette (2001) Paratexte. Paratextualität gehört neben Intertextualität, Metatextualität, Hypertextualität und Architextualität zu den fünf Formen textübergreifender Beziehungen im Rahmen von Genettes 1982 entwickelten Transtextualitätsmodells. Vgl. Genette (1993) Palimpseste. Der Paratext ist […] jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt. Dabei handelt es sich weniger um eine Schranke oder eine undurchlässige Grenze als um eine Genette (2001) Paratexte, S. 10.
Gleichsam sei diese Zone des Paratextes eine der ‚Transaktion‘, weil dort der Ort bzw. der Raum für die bei Genette stets auf Autor:in oder Verleger:in zurückgehende Beeinflussung der Lektüre ist. Paratexte sind hier nicht nur medial greifbare Formen der Textpräsentation, sondern auch Diskurse und Praktiken der Rezeptionssteuerung. Vgl. Genette (2001) Paratexte, S. 10. Vgl. Genette (2001) Paratexte, S. 15–18, hier S. 18: „Manche Elemente besitzen sogar jene Macht, die die Logiker als performativ bezeichnen, das heißt die Macht zum Vollzug des Beschriebenen (‚Ich eröffne die Sitzung‘): Das gilt für Widmungen. Bei der Zueignung oder der Widmung eines Buches an Sowieso geschieht natürlich nichts anderes, als daß man auf eine der Seiten eine Wendung schreibt oder druckt wie: ‚Für Sowieso‘. Hier liegt ein Grenzfall der paratextuellen Wirksamkeit vor, da das bloße Sagen bereits das Tun ist. Das haftet jedoch auch bereits der Entscheidung für einen Titel oder der Wahl eines Pseudonyms an, den mimetischen Handlungen jeder schöpferischen Fähigkeit.“ So hat schon Münkler (2000) Erfahrung, S. 244–266, in ihrer Arbeit zu den Orientreiseberichten des 13. und 14. Jahrhunderts die Übertragbarkeit von Genettes theoretischen Überlegungen zum Paratext auf mittelalterliche Handschriften thematisiert und dabei die Frage der Gattungskonstitution aufgeworfen. Sie konstatiert bspw. den elementaren Zusammenhang von Autornennungen bei der Beschreibung des Fremden nicht nur im Prolog, sondern schon im Incipit. Sie gehören zu den Gelingensbedingungen der Gattung des Augenzeugenberichts, der – so autorisiert – vom Fremden erzählen kann. Vgl. zur Anwendbarkeit von Genettes Konzept des Paratexts auf die frühneuzeitliche Literatur grundsätzlich auch der Band Stanitzek (2013) Paratextanalyse, S. 201. Zum Verdienst Genettes hinsichtlich der Paratextforschung vgl. auch Kuhn (2018) Wahre Geschichten, S. 20 und 25f. Vgl. Schlesier (1993) Art. Apotropäisch; siehe auch die Anwendung bei Münkler (2019) Luthers Rom. Eine ausführliche Analyse der paratextualisierten Bulle bietet Ammon (2006) „Bevor wir Dich hören, Heiligster.“ Vgl. Ammon (2006) „Bevor wir Dich hören, Heiligster.“, S. 32. Ammon (2006) „Bevor wir Dich hören, Heiligster.“, S. 32f. Luther (1522) Bulla vom Abendfressen. Vgl. dazu Ammon (2007) „Quis dubitat de illo?“, S. 285–291. Zur päpstlichen Generalexkommunikation vgl. Jaser (2016) Ostensio exclusionis.
Im Falle der paratextuellen Zurichtung legendarischer Erzählungen jedoch erreicht das herabsetzende Verfahren eine besondere Tragweite, die sich nicht zuletzt in der Ausbildung einer neuen Gattung, der Metagattung Lügende niederschlägt. Natürlich ist die massive Infragestellung mithin die Destruktion päpstlicher Autorität durch die paratextualisierten Bullen enorm, die Lügende aber setzt noch viel grundlegender an den Grundfesten religiöser Kommunikation und ihren Geltungsbedingungen an. Die Herabsetzung des legendarischen Erzählens zielt nämlich weiter als auf das Herabsetzen einer Erzählpraxis und ihrer Narrative. Sie stellt darüber hinaus die kirchliche Institution in Frage, insofern sie die Funktionalisierung des Heiligenkults im Rahmen von Ablass- und Wallfahrtswesen verurteilt und das kirchliche Recht am Gnadenschatz Christi entschieden zurückweist. Darüber hinaus diskreditiert die Lügende die Heiligenverehrung als eitle Werkgerechtigkeit, Fürbittgebete als Abgötterei und irritiert damit massiv die im Leben der Gläubigen stark verankerte Frömmigkeitspraxis. Dazu bedient sie sich fast ausschließlich invektiver Paratexte.
Dabei spielen Anmerkungen in den Marginalien eine besondere Rolle. Zwar sind ironische oder derb-provokative Textkommentierungen am Rande insbesondere in Form „visuelle[r] Tabubrüche“ vor der Reformation bekannt. Vgl. Kato (2015) Versehren, S. 284–287, hier S. 285. Vgl. auch Klein (2007) Rand- oder Schwellenphänomen. Vgl. Ammon (2007) „Quis dubitat de illo?“, S. 285; Ammon/Vögel (2008) Pluralisierung des Paratextes, S. XIV. „Die wilde und ungeordnete Usurpation der Ränder in der gotischen Buchmalerei geschieht ganz bewusst, jedoch immer im Bewusstsein, dass der Werktext – ‚the always already written Word‘ (Camille 1992: 22) – vorgegeben und in seiner Existenz, Lesart und Rezeption unumstößlich ist. Gerade deshalb können die Freiheiten, die sich der Illustrator mitunter nimmt, überhaupt so schamlos und unanständig sein, untergraben sie doch die Autorität des Werks, sei es geistlicher oder weltlicher Natur, in kein[]er Weise.“ Kato (2015) Versehren, S. 285. Carmassi/Heitzmann (2019) Marginalien/Einleitung, S. 9. Zu den ‚Symptomwerten der Marginalität‘ vgl. Moulin (2019) Rand und Band, S. 26–29. Moulin (2019) Rand und Band, S. 23. Vgl. Moulin (2019) Rand und Band, S. 38–58, hier werden die Zwischenüberschriften zitiert. Giuriato (2008) Prolegomena zur Marginalie, S. 178f. Vgl. auch Moulin (2019), S. 23. Zur ursprünglichen Bedeutung und zu eher pragmatischen Funktionen von leeren Seitenrändern und Zwischenräumen auf Schriftrollen und in Handschriften vgl. Kato (2015) Versehren, S. 282–284.
Die Affordanz Der Begriff der ‚affordance‘ stammt ursprünglich aus der Wahrnehmungspsychologie. Gibson versteht darunter ein nicht unmittelbar sichtbares Handlungsangebot von Objekten in der Umwelt für das Individuum. Diese Wahrnehmung von Handlungsoptionen bestimme die Relation zwischen Umwelt und individuellen Beobachtenden, so dass Affordanzen von Objekten invariant sein können. Das Affordanz-Konzept wurde vom Designtheoretiker Donald A. Norman weiterentwickelt und in dieser Form breit rezipiert und fand darüber Eingang in die kultur-, insbesondere in die sozial- und medienwissenschaftlichen Arbeiten. Vgl. den Überblick zu Ursprung, Definition, Weiterentwicklung und Kritik des Affordanz-Begriffes bei Zillien (2019) Affordanz, S. 226f. Vgl. zudem die Beiträge von Dröse und Kanzler im vorliegenden Sonderheft. Kato (2015) Versehren, S. 281. Zu mediengeschichtlichen Aspekten frühneuzeitlicher Paratextualität am Bsp. von Sebastian Brants Der Paratext kann seinen Bezugstext relativieren, ironisieren oder gar destruieren, seine poetologische Faktur offenlegen oder über so zentrale Kategorien wie Fiktionalität, Autorität und Autorschaft Auskunft geben. […] Gerade in der paratextuellen Zone, am vermeintlichen Rand des Textes, ereignet sich doch immer wieder Entscheidendes. Hamm (2017) Zu Paratextualität, S. 238f.
Dieser Befund von Hamm gilt in besonderem Maße für die protestantische Gattung der Lügende. Hier zeigt sich der Paratext als eine Arena des Invektiven. Vgl. Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivität, S. 12–15.
Meine Überlegungen zur ‚Lügende‘ sollen nicht nur zeigen, dass Paratexte in den konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts entscheidende kommunikative Formen des Invektiven darstellen. Mit der Paratextualisierung liegt vielmehr ein wirkmächtiges invektives Verfahren vor, weil mit ihr die Grenzen legendarischen Erzählens überschritten werden: Einerseits evozieren die Paratexte Gattungsreflexionen und haben Teil am Gattungsdiskurs der Legende. Andererseits etablieren sie einen spezifischen invektiven Umgang mit den durch das legendarische Erzählen tradierten Glaubensprämissen auch außerhalb ihrer genuinen Kommunikationssituation. Invektive Anschlusskommunikation wird so dynamisiert. Aus systemtheoretisch geprägter kommunikationstheoretischer Sicht: Die Lügenden übernehmen eine signifikante Funktion in der Re-Organisation des religiösen Systems während seiner Ausdifferenzierung im 16. Jahrhundert.
Nach einem knappen literaturgeschichtlichen Überblick zur ‚Lügende‘ (3.), der die Grundzüge der protestantischen Metagattung und das Textkorpus vorstellt, sollen zunächst thematische und rhematische Implikationen des Titels am Beispiel der lutherischen
In der Analyse nicht berücksichtigt werden die entweder wenig umfänglichen oder erst gar nicht enthaltenen Widmungen in den Lügenden, weil sie für die Gattungsfrage nicht relevant sind. In den Vor- bzw. Nachreden lassen sich dagegen durchaus auch rezeptionslenkende Gattungsreflexionen beobachten: Das lässt sich insbesondere für Luthers Nachrede zur Dazu Sablotny (2019) Metalegende, S. 180–183; ferner Münkler (2015) Legende/Lügende sowie Ziegeler (1999) Wahrheiten, S. 243–245.
In den nachlutherischen Lügenden-Vorreden indes werden über die Bezeichnung der Legenden als Lügenden hinaus, wie sie bereits die Titel vornehmen, keine weiteren signifikanten gattungsreflexiven Gedanken entwickelt. Sie werden daher keinen Analyseschwerpunkt bilden. Verwiesen sei hierfür zunächst auf die Vorrede zur ersten Lügenden-Ausgabe Hieronymus Rauschers, Rauscher (1562) Papistische Lügen I. Rauscher (1564) Papistische Lügen II. Rauscher (1564) Papistische Lügen IV. Sie sind aber bedeutsam für die kommunikative Praxis der Grenzziehung in den Lügenden. Vgl. Sablotny (im Erscheinen)
Um die Funktionen invektiver Paratexte in der protestantischen Lügende spezifizieren zu können, werden verschiedene gleichwohl miteinander verschränkte Gattungskonzepte mit kommunikationstheoretischen Überlegungen Luhmann’scher Prägung verknüpft. Gemeint ist zunächst der ‚klassische‘ textsortensystematische Gattungsbegriff, der literarische Texte nach inhaltlichen und formalen Kriterien unterscheidet. Die Rekonstruktion von Reihenbildungen orientieren sich bereits seit längerem nicht mehr an der von Aristoteles und Goethe geprägten Dreiteilung von Epik, Lyrik und Dramatik, die freilich im Hintergrund immer noch eine Rolle spielt – wie etwa bei Hempfer, der historisch konkrete Gattungen einerseits und transhistorische Schreibweisen andererseits unterscheidet und das Epische, Lyrische und Dramatische als primäre Schreibweisen versteht. Zum literaturwissenschaftlichen Gattungskonzept vgl. grundsätzlich Zymner (2003) Gattungstheorie; Hempfer (1973) Gattungstheorie. Voßkamp (1990) Utopie, S. 265, sowie Voßkamp (1977) Gattungen, S. 27. Siehe hierzu auch den einleitenden Beitrag von Marina Münkler. Keinesfalls ist die Lügende bloß als „eine Legende mit ‚poetologischen‘ Aspekten“ zu betrachten – so Ecker (1993) Legende, S. 243, in Anm. 902. Vgl. Wolf (1993) Ästhetische Illusion, sowie Wolf (2007) Metaisierung. Vgl. Sablotny (2019) Metalegende.
Bei der Lügende handelt es sich um eine relativ kurzlebige protestantische Metagattung von der ersten Hälfte des 16. bis zum beginnenden 17. Jahrhunderts, die aus der Herabsetzung des altgläubigen Heiligenkults hervorgeht. Diese äußert sich in der immer radikaler werdenden Ablehnung gegenüber der Auffassung der Werkgerechtigkeit, gegenüber Ablasshandel, Wallfahrten, Heiligendienst und insbesondere gegenüber der Funktion der Heiligen, zwischen Gott und den Menschen zur Erlangung des Seelenheils zu vermitteln. Vgl. Kaufmann (2015) Reformation der Heiligen, S. 216–223; Münkler (2015) Legende/Lügende, S. 125–129; Münkler (2008) Sündhaftigkeit, S. 40–46. Vgl. zu diesem Zusammenhang am Beispiel der Franziskuslegenden Münkler (2013) Amicus dei. Zur Lügende vgl. Sablotny (im Erscheinen) Vgl. Luther (1537) Die Lügend. Zum generischen Prototypenkonzept vgl. den Beitrag von Meier-Vieracker in diesem Sonderheft. Brand/Jung/Williams-Krapp (2004) Der Heiligen Leben, hier Nr. 82, S. 434–441. Vgl. Münkler (2015) Legende/Lügende, S. 134f. Luther (1537) Die Lügend, S. 57. Vgl. Münkler (2015) Legende/Lügende, S. 132. Der Transformationsprozess von Legende – Lügenlegende – Lügende wird im vierten Abschnitt näher erläutert.
Während von Luther selbst keine weiteren Lügenden überliefert sind, haben seine Anhänger eine Gattungstradition ausgeprägt: Der Lutherschüler Erasmus Alber(us) veröffentlichte 1542 seinen Vgl. Vergerio (1556) De Gregorio Papa. Vgl. dazu, gleichwohl abschätzig, Schenda (1974) Hieronymus Rauscher, S. 255–258.
Die Lügenden werden von zahlreichen paratextuellen Elementen begleitet: Neben Vorworten, Nachworten und Marginalglossen gibt es sogenannte Erinnerungen als invektive Paratextelemente, die mit einer Zwischenüberschrift hervorgehoben werden und die jede einzelne Erzählung beschließen. Die Erinnerungen haben vorrangig die Funktion, die erzählten Ereignisse als unglaubwürdig herabzusetzen und diejenigen moralisch zu verurteilen, die solche Legendenerzählungen verbreiten und funktionalisieren. Oft werden Bibelzitate oder auch Redensarten und Sprichwörter hierfür autoritativ angeführt, von einer argumentativen Vorgehensweise kann gleichwohl nicht die Rede sein. Mit Blick auf die Unwahrheitsbehauptungen, Verurteilungen, Abwertungen, Vorwürfen, Beleidigungen und Verwünschungen bestimmt das Feld verdiktiver und konduktiver Äußerungen das Invektiv-Register der Erinnerungen. Man kann die Redundanz, Undifferenziertheit oder argumentative Oberflächlichkeit in Rauschers Erinnerungen bemängeln. Vgl. Schenda (1974) Hieronymus Rauscher, S. 252–255. Im Kontext der Faustbuch-Transformationen durch Georg Rudolff Widman (1599) und Christian Nikolaus Pfitzer (1647), vgl. dazu Münkler (2011) Narrative Ambiguität, S. 178–181 und S. 184f. Zu den Quellen Rauschers vgl. Schenda (1974) Hieronymus Rauscher, S. 200–206. Vgl. ferner Holtzhauer (2020) Destruktion, Anm. 40 auf S. 103f.
Dieser Befund trifft schließlich auch für die weniger derb-plakativen Erinnerungen Caspar Fincks zu. Der Gießener Theologieprofessor hat Rauschers Vgl. Finck (1614/18) Papistische Lügen. „Im selben Jahr erschien übrigens auch eine Neuauflage von Albers Alcoran, ohne Ortsangabe. Sie enthält neben 595 Konformitäten-Exempeln ‚Der Barfüser Münch. Zehen Gebot‘, einen Konformitäten-Vergleich zwischen S. Benedict und Elias sowie Fischarts ‚Barfüsser Secten und Kuttenstreit‘.“ Schenda (1974) Hieronymus Rauscher, S. 198, Anm. 94. weil noch heutiges Tages die Papisten solche Lügen vor wahr halten / vnnd ihnen / Gott erbarms / mehr glauben / als der heiligen Schrifft. Darnach weil das Bapstthumb hin vnd wider einreisset / vnd vberhandt nehmen wil. Zum dritten / weil sie sich wol kitzeln mit den Tischreden deß Herrn Lutheri seliger / vnd dieselbige wol vor Narrentheidinge außruffen / da doch ire Legenda anders nicht als rechte Thorenbossen seyn. Zum vierdten auch / weil sie sich vber die Protestirende beschweren / daß sie in den Legenden vnerfahren seyen […]. Finck (1614) Legendorum Papisticorum, Bl. iiiv und iiiir, VD17 1:076768U. Anders als in den folgenden Ausgaben, die Rauschers Titel aufgreifen, ist auf dem Titelblatt hier von „verlegene[n] Papistische[n] Unwahrheiten“ die Rede.
Vor allem mit dem ersten Aspekt, die ‚Papisten‘ glaubten den Legenden mehr als der Heiligen Schrift, wird das für die Metagattung Lügende wesentliche Legitimationskontinuum aufgegriffen. Es ist fundiert in den theologischen Schon 1519, in der
Paratextelemente stehen grundlegend in einem engen Zusammenhang mit Gattungen, weil sie oft die Einschreibung des durch sie spezifizierten Textes in eine Gattung überhaupt erst herstellen, selbst wenn sie diese nur vortäuschen oder durch ihre kommunikativen Praktiken eine Gattung erst konstituieren: Vgl. zum letzten Aspekt der Gattungskonstituierung durch metapragmatische Rahmungen den Beitrag von Simon Meier-Vieracker im vorliegenden Sonderheft. „Der Gattungsvertrag entsteht, mehr oder minder kohärent, durch die Gesamtheit des Paratextes und, umfassender, durch die Beziehung zwischen Text und Paratext.“ Genette (2001) Paratexte, S. 45. Kritisch zur Metapher des Fiktionsvertrags Kuhn (2018) Wahre Geschichten, S. 41–43. „Das Titelblatt taucht erst in den Jahren 1475 bis 1480 auf und bleibt lange Zeit, bis zur Erfindung des gedruckten Umschlags, der einzige Anbringungsort für einen Titel, der […] oft mit verschiedenen, für uns beiläufigen Angaben überladen ist.“ Genette (2001) Paratexte, S. 67. „Während Kolophone und Vorreden bereits in vielen spätmittelalterlichen Handschriften auftreten und sich die Drucker oder Herausgeber, die ja vielfach früher als Schreiber tätig waren, an diesen Traditionen orientieren konnten, entstand das Titelblatt erst mit dem gedruckten Buch; seine Herausbildung erfolgte daher langsamer.“ Wagner (2008) An der Wiege, S. 133. Zur Entwicklung und zu den Funktionen des Titelblatts vgl. unter Verweis auf die Studien von Smith (2000) und Rautenberg (2004) ebd., S. 140–148, hier S. 146: „Festzuhalten ist, daß Titelseiten als Paratexte vielfältige Funktionen erfüllen konnten: Schon in ihrer rudimentärsten Form, als leere Seite, schützen sie das Buch im Distributionsprozeß. Als ‚label-title‘ informieren sie den Drucker und Buchhändler über den Inhalt des Buchs und fungieren damit vor allem als Hilfsmittel bei der Verwaltung gedruckter Bücher. Angereichert um Zusatzinformationen, dienen sie als Einladung zur Lektüre und damit als Anreiz zum Kauf, also als ‚Marketing‘-Instrument.“ Zu Titel-Charakteristika vgl. auch Sánchez (1999) Titel, S. 249–253.
Der zweite Teil des Titels, mit dem Luther seine Zur Differenzierung von thematischen und rhematischen Titelangaben und deren Funktionen vgl. Genette (2001) Paratexte, S. 77–102.
Invektive Namensverdrehungen und Wortspiele wie jene Verballhornung der Legende zur Lügende sind in den konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts populäre und wirkmächtige Verfahren zur Herabsetzung des jeweiligen konfessionellen Gegners: ‚Luther‘ wird zu ‚Lotter‘ oder (wieder) zu ‚Luder‘, die päpstlichen ‚Decretalen‘ zu ‚Drecktalen‘, die Augsburger ‚Konfession‘ zur ‚Konfusion‘. Vgl. Schenda (1974) Hieronymus Rauscher, S. 188 mit Anm. 19. Vgl. hierzu insbesondere den Beitrag von Jan Martin Lies in vorliegendem Band.
Zwar beruht der christliche Glauben grundsätzlich auf dem Gegensatz von Gut und Böse sowie der göttlichen Wahrheit bzw. der Wahrheit des Glaubens und der Erkenntnis gegen teuflische Lüge, Täuschung und Verführung zur Sünde. Zur ‚Wahrheit‘ und ihrer Bedeutung im Alten und Neuen Testaments vgl. den Überblick bei Herms (2003) Wahrheit/Wahrhaftigkeit, S. 337–345; vgl. zudem Dietzsch (2001) Lüge, S. 20f.; Behringer (2005–12) Lüge, Abschnitt 2. Religiöse Ablehnung; Großhans/Sparn (2005–12) Wahrheit, Abschnitt 3. Religion und Theologie. Vgl. Stollberg-Rilinger (2013) Einleitung, S. 9–15; Behringer (2005–12) Lüge, Abschnitte 3. Legitime Notwehr und 4. Verstellung als Gesellschaftsspiel; vgl. zudem Dietzsch (2001) Lüge, S. 21–24. Vgl. u.a. Stenzel (1986) Rhetorischer Manichäismus, S. 7–9. In Anschluss an Stenzel vgl. auch Dieckmann (2005) Streiten, S. 45–51. Entsprechend legt Luther in seiner in Anschluss an Augustinus entwickelten Lügentypologie im Nachwort zur
Die titelgebende ‚Lügende‘ ist darüber hinaus im rhematischen Sinne auf die Gattung bezogen: Einerseits wird mit ihr hypertextuell auf die religiöse Gattung der Legende zurückgegriffen; Zu hypertextuellen Verfahren vgl. Genette (1993) Palimpseste. Rauscher (1562) Papistische Lügen I. Erfolgreich ist auch der Gegen Ecker (1993) Legende, S. 243.
Das Potential der ‚Lügende‘ zur Textsortensignifizierung zeigt sich zweitens in den invektiven Anschlusskommunikationen von Seiten der Altgläubigen. Johannes Cochlaeus beispielsweise publiziert noch 1537 seinen Cochlaeus (1537) Bericht der warheit / auff die vnwaren Lügend S. Johannis Chrysostomi. Die religiösen Diskurse über Wahrheit und Lüge sind eng miteinander verwoben; vgl. Fn. 57 und 58. Finck (1614/18) Papistische Lügen, vgl. Fn. 50. Am Ende der Vorrede appelliert Nas daher an seine Leser: „Frommer hertzlicher Leser / liß mit gedult vnd mit auffmerckung / die nachfolgenden artickel / der vermeinten / vnd fälschlich genannten Euangeliums warhait / ich wedt du werst der sachen weyter nachsinnen / vnd bey den losen früchten erkennen das der bawm kein nutz sey / vnd werdst dich von den Secten abwenden / vnd wider zuor einigkait kehren / vnd die Engel im Himel erfröwen / das wir dir von hertzen wünschen“. Nas (1565) ‚Evangelische Wahrheiten‘, Vorrede. Nas (1565) ‚Evangelische Wahrheiten‘, Register, das nach der Vorrede direkt anschließt. Durchgezählt werden die hundert Artikel allerdings als ‚Evangelische Wahrheiten‘.
Sowohl die thematische als auch die rhematische Dimension des ersten Titelteils von Luthers Lügende bewegen sich nach der Taxonomie Genettes im Bereich der (Gattungs-)Konnotationen. Diese Konnotationen wiederum beruhen auf dem Wortspiel Lügende bzw. Lügenlegende als invektivem Sprachgebrauchsmuster. Vgl. ferner ohne Bezug auf soziolinguistische Überlegungen zu Sprachgebrauchsmustern Sánchez (1999) Titel, hier S. 246: „Generell stützen sich Titel häufig auf volkstümlich etablierte Formeln, Gemeinplätze, Sprachhülsen, Slogans, geflügelte Worte des Alltags, oder banale Redewendungen, die dann aber mehr oder weniger abgeändert, doch immer noch erkennbar nachhallend, der neuen Aussage angepasst werden (und so ästhetisches Potential freisetzen). Parodierende Wiederverwertung von Altbekanntem.“ Bubenhofer (2009) Sprachgebrauchsmuster, Titel und S. 6. Vgl. u.a. Luckmann (1986) Grundformen; Bergmann (1987) Klatsch; Günthner/Knoblauch (1994) Forms are the Food of Faith; Günthner (1995) Gattungen in der sozialen Praxis; Günthner/Knoblauch (1996) Die Analyse kommunikativer Gattungen. Günthner/Knoblauch (1994) Forms are the Food of Faith, S. 717, in Anschluss an Luckmann. Diejenigen kommunikativen Vorgänge, die typisch wiederkehrend und deren regelmäßige Bewältigung von gesellschaftlicher Relevanz ist, bilden typische Muster aus, an denen sich Handelnde orientieren können. Kommunikative Gattungen bezeichnen diejenigen kommunikativen Prozesse, die sich gesellschaftlich verfestigt haben. Günthner/Knoblauch (1994) Forms are the Food of Faith, S. 695f.
Im Sinne eines stets prozesshaften Sprachhandelns können einzelne Sprachgebrauchsmuster Textsorten etablieren und determinieren sowie „als Bausteine von kommunikativen Gattungen gelesen werden“. Vgl. Bubenhofer (2009) Sprachgebrauchsmuster, S. 45, hier S. 313. „Allerdings nehmen, wie gesagt, beileibe nicht alle kommunikativen Vorgänge die verfestigte Gestalt kommunikativer Gattungen an; einige sind gerade erst dabei, zu festen Gattungen zu gerinnen, wieder andere lösen sich in lockere, geregelte kommunikative Vorgänge auf.“ Günthner/Knoblauch (1994) Forms are the Food of Faith, S. 717. „Ein Muster kann nur auf einer analytischen Ebene im Nachhinein festgestellt werden. Auf der Ebene des Sprachgebrauchs ist diese Musterfunktion für die Sprecherinnen und Sprecher kaum sichtbar. Mit ‚musterhafter Sprachgebrauch‘ wird deshalb betont, dass anscheinend im untersuchten Sprachausschnitt immer wieder Instanzen einer bestimmten Phrase als Muster (als Vorbilder) für die Produktion weiterer Instanzen dienten. Im Nachhinein ist aber nicht mehr erkennbar, welche Instanzen je diese Musterfunktion übernahmen. Aber der Effekt dieser unzähligen Instanzen, die einerseits einem Muster folgten und andererseits Musterfunktion übernahmen, ist auf der Ebene der Analyse als Phänomen eines typischen, oder eben: musterhaften Sprachgebrauchs sichtbar.“ Bubenhofer (2009) Sprachgebrauchsmuster, S. 24. Die Legende als Lügengeschichte zu bezeichnen, war schon seit Beginn der 1530er Jahre im Protestantismus geläufig. So verwendete Justus Jonas für seine Übersetzung von Philipp Melanchthons Münkler (2015) Legende/Lügende, S. 132.
Griffigkeit und Einprägsamkeit sind Kennzeichen eines Sprachgebrauchsmusters, das hier in Bezug auf die ‚lutherische Verhandlung‘ der Sache ‚Legende‘ durch wiederholte Verwendung Erfolgswahrscheinlichkeit generiert. Wie zahlreiche Beispiele zeigen, wird der Begriff ‚Lügende‘ „zum Gemeinplatz in der protestantischen Polemik.“ Schenda (1974) Hieronymus Rauscher, S. 188. Vgl. Luther (1537) Donatio Constantini, S. 74; Luther (1542) Verlegung des Alcoran, S. 391f. Vgl. Goltwurm (1559) Kirchen Calender, Vorrede. Vgl. Fischart (1579) Binenkorb, 2. Teil, 14. Kap.; 4. Teil, 4. Kap.; 5. Teil, 1. Kap.
Avanciert nun das (damit etablierte) Sprachgebrauchsmuster des Titels ‚Lügende‘ zur Gattungsbezeichnung, so schließen die weiteren Paratexte der Lügende an seine Funktion zur Herabsetzung der Legende an. Sprachpragmatisch gesehen verfestigen sie so das Muster, indem sie permanent darauf zurückgreifen. Textintern veranschaulicht diesen Prozess die erste Vgl. auch Holtzhauer (2020) Destruktion, Anm. 12 auf S. 95f.
Für die kommunikative Funktion des Wortspiels Lügende gehe ich darüber hinaus von einer kommunikativen Gattung – im weiteren Sinne des kommunikativen Musters – nach Günthner und Knoblauch aus, das sich dann auf die Gattungskonstitution überträgt. Denn erstens wird mit den Paratexten ein dialogisches Prinzip entworfen, das zur Auseinandersetzung der Rezipient:innen mit Inhalten der Legenden- und Mirakelerzählungen und ihren glaubensrelevanten Handlungsanweisungen anhält. Damit verweist sie nicht nur auf primär mündliche Interaktionssituationen – wie etwa auf Predigten, in denen Exempel angeführt werden –, sondern stellt mit der Lektüre selbst eine solche zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit angesiedelte Interaktionssituation dar. Das zeigt sich besonders deutlich bei rhetorischen Fragen oder direkten Ansprachen an das Publikum in den Paratexten, Vgl. bspw. die Erinnerung zur 47. Lügend (Wie ein Vogel mit seinem gesang einen Mönich dreihundert Jar auff helt.) in Rauscher (1562) Papistische Lügen I: „ Vgl. Fn. 113.
Zweitens wird mit der Lügende eine schriftliche Textsorte etabliert, die starke Verfestigungen sowohl auf syntagmatischer Achse etwa mit der grundlegenden Folge von Erzählung und Erinnerung als auch in Hinblick auf ihre paradigmatische Textreihenbildung aufweist. Über eine komplexe Erzählform verfügt sie gleichwohl nicht. Über Grade und Qualitäten solcher Konventionalisierungen würde eine detaillierte Gattungsanalyse nach Günthner/Knoblauch (1994) Forms are the Food of Faith, Aufschluss geben. In Anschluss an Luckmann werden hier die analytischen Strukturebenen ‚Binnenstruktur‘, ‚Außenstruktur‘ und ‚strukturelle Zwischenebene‘ differenziert. Eine solche Gattungsanalyse würde für das Thema des vorliegenden Aufsatzes allerdings zu weit führen. Der heilige Franziskus (vgl. Rauscher-Beispiel im dritten Abschnitt) stellt dabei eine prominente Ausnahme dar, dessen Stigmata von den Protestanten wegen ihrer Gottähnlichkeit als besondere Anmaßung verstanden und energisch zurückgewiesen wurden. Trotz aller Evidenz der Lügenhaftigkeit der altgläubigen Legende haben sie – so Luther – das Potential, Zweifel zu schüren. Vgl. Luther (1537) Die Lügend, S. 62f. Vgl. auch Luthers Vorrede in Alber(us) (1542) Der Barfuser Münche Eulenspiegel vnd Alcoran, in der er an den Leser appelliert, Gott darum zu bitten, nicht erneut in Finsternis und Blindheit zu geraten und nicht daran zu glauben, „das ein Ochse / Hund / Fisch / Schlange / Wurm / ja auch Zippeln vnd Knoblauch / Götter weren.“ Vgl. Günthner/Knoblauch (1994) Forms are the Food of Faith, S. 693–696, S. 699f. Vgl. Günthner/Knoblauch (1994) Forms are the Food of Faith, S. 700, S. 702, hier S. 716: Es „neigen vor allem jene kommunikativen Vorgänge zur Sedimentierung als Gattungen, die für die sozialen Akteure von bestimmter Relevanz sind. D.h. die kommunikativen Probleme, für die vorgeprägte, gattungsartige Lösungen im gesellschaftlichen Wissensvorrat einer Kultur existieren, sind für den Bestand einer Gesellschaft zentral. Deswegen können die Verfestigungen und Formalisierungen kommunikativer Vorgänge als Anzeichen für die gesellschaftliche Relevanz der durch sie gelösten kommunikativen Probleme angesehen werden. Sie sind gleichsam die Knoten im dichten Netz der gesellschaftlichen Kommunikation.“
Neben der grundsätzlichen Problematisierung von Heiligenverehrung und Frömmigkeitspraxis rückt mit der Lügende konkret die Frage nach der religiösen Gattung Legende in den Fokus, nach ihren Möglichkeiten und Grenzen, im protestantischen Sinne angemessen von den Heiligen zu erzählen. Da die Lügende Gattungsreflexionen über die altgläubige Legende formuliert und beim Rezipienten auslösen will, ist sie als eine Metagattung, konkret als metalegendarisches Erzählen zu verstehen. Vgl. Sablotny (2019) Metalegende. Vgl. Wolf (2007) Metaisierung. Wolf (2007) Metaisierung, S. 38. Wolf (2007) Metaisierung, S. 38. Vgl. Wolf (2007) Metaisierung, S. 25.
Die protestantische Bloßstellung der Legenden als ‚papistische Lügen‘ bedient ganz offensichtlich das, was Wolf als Vgl. die Herausbildung von Bekennerhistorien und auch Historien von Märtyrern auf protestantischer Seite, welche die Heiligen als Glaubensvorbilder und Vermittler von Trost, nicht aber als Fürbitter in Szene setzen. Wie die Bezeichnungen Luther (1537) Die Lügend, S. 62. Luther (1537) Die Lügend, S. 57. Luther (1537) Die Lügend, S. 46. Für eine ausführliche Darstellung vgl. Sablotny (2019) Metalegende, v.a. S. 180–188. Luther (1537) Die Lügend, S. 61.
Diese funktionale Kopplung von Gattungsreflexion (Gattungskritik gegenüber der Legende) und Gattungstransformation (von der Legende zur Lügende und zur Unterhaltungsliteratur) wird durch die Paratextualisierung der Legenden- und Mirakelerzählungen geleistet. Das Verhältnis von Paratext(ualität) und Fiktion(alität) im Kontext literarischer Selbstreflexivität ist Schwerpunkt der Studie von Kuhn (2018) Wahre Geschichten, allerdings mit historischem Fokus auf das 18. und 20. Jahrhundert. „Fiktion und Paratext sind [...] parallele und zugleich wechselseitig verschränkte Phänomene: Ist der Paratext Teil der Fiktion, so ist er Teil des Werkes selbst, ist er letzteres nicht, so kann er nicht Teil der Fiktion sein.“ Ebd., S. 29f. Im Sinne der modernen Romantexte wird der ‚eigentliche Text‘ in der Regel mit Fiktion gleichgesetzt. Dagegen wird die Legende als Lügende mit ihren Paratexten erst zur Fiktion gemacht. Mit Bezug auf Stanitzek (2004) Texte, Paratexte, S. 8, siehe auch Schmidt (2008) Pluralisierung, S. 228: Für Thomas Mores literarischen Dialoge sei der Paratext „geradezu der bestimmende Faktor für die Identität des Textes selbst – ‚nicht bloß eine Zone des Übergangs, sondern der Transaktion‘, wie Genette auch selbst bereits erkannt hat.“ Zur Bedeutung des Rands für die Konstitution des Textes vgl. auch Menke (2015) Text-Oberfläche, S. 130f. Zur visuellen Unterscheidung von Vgl. Genette (1993) Palimpseste, S. 13. Vgl. vierten Abschnitt.
Die Randglossen und ‚Erinnerungen‘ gehen weit über die Eigenheiten und Funktionen der ‚Anmerkungen‘, wie sie Genette erläutert, Vgl. Genette (2001) Paratexte, S. 304–327. Vgl. Genette (2001) Paratexte, S. 308f., hier S. 308. Genette (2001) Paratexte, S. 321. Zur Differenzierung von allographen und autographen Marginalien vgl. Gioriato (2008) Prolegomena zur Marginalie. Genette (2001) Paratexte, S. 309. Vgl. Glauch (2014) Fiktionalität, S. 96, S. 111, S. 124. Vollmann (2002) Erlaubte Fiktionalität, S. 72. Glauch (2014) Fiktionalität, S. 112.
Im Modell der Metagattung ist die Paratextualisierung also das zentrale Metaisierungsverfahren in der Lügende. Mit ihm gelingt das Einziehen einer Metaebene, d.h. die Trennung zwischen dem Objekt ‚Legende‘ und dem reflektierenden Subjekt, das einerseits mit dem jeweiligen Herausgeber der Lügenden identifiziert werden kann, andererseits aber die Leser:innen adressiert. Indem die Paratexte als Interpretationssteuerung fungieren und in diesem Sinne eine die Legenden herabsetzende Lektürehaltung einüben sollen, „Das übliche Gegenüber von Autor und Rezipient tritt hier zurück, die späteren Leser schauen dem ersten Leser bei seinem Glossieren über die Schulter. So betrachtet enthalten die Glossen einen Appell ans Publikum, sich seine eigenen Glossen auf den Text zu finden“. Schnyder (1979) Legendenpolemik, S. 129f.
Weil bei der Lügende die metaisierenden Paratextelemente zu einem gattungskonstituierenden Merkmal avancieren, ist deren textuelle Zugehörigkeit nicht eindeutig bestimmbar. Auf das hohe Metaisierungspotential von Paratexten hat schon Struth hingewiesen. Ihr Fokus auf englischsprachige postmoderne Metaautobiographien mag erklären, dass sie gleichwohl die theoretische Trennung des Paratextes vom eigentlichen ‚Kerntext‘ voraussetzt. Vgl. Struth (2014) Metagattungen, S. 271f. sowie Struth (2016) Die Metaautobiographie, S. 84–98. Vgl. Assmann (2018) Zur Unterscheidung, S. 37–39. Die Problematisierung des Genette’schen Paratextkonzepts für Texte des Manuskriptzeitalters bei Cooper (2015) scheint mir auf eine eher simplifizierende Vorannahme von einer scharfen Trennung von Text und Paratext zu beruhen (vgl. ebd., S. 45), die ich bei Genette so nicht sehe. Die Betonung des (nicht nur) mittelalterlichen Paratextes als eine dynamische Größe, die sich aus Prozessen von (Re-)Kontextualisierungen von Texten ergibt, ist hingegen ganz richtig. Daraus ergeben sich in der Tat Herausforderungen für wissenschaftliche Texteditionen. Vgl. ebd., S. 46. Für das Verständnis mittelalterlicher Paratexte hat Kragl (2016) Die (Un-)Sichtbarkeit, die unfeste Grenze von Text und Peritext exemplarisch herausgearbeitet und unterscheidet ‚unsichtbare‘ von ‚sichtbaren‘ Elementen im handschriftlichen Buch. Diese funktional geleitete Differenzierung erweitert das paratextuelle Feld mittelalterlicher Literatur analytisch gewinnbringend. Vgl. schon Münkler (2000) Erfahrung, S. 240–266, hier S. 241: „In der Tat sind Paratext und Text in der handschriftlichen Überlieferung nicht in derselben Weise voneinander abgrenzbar wie in gedruckten Büchern. Die Grenzen zwischen beiden sind häufig verwischt, weil sie weniger deutlich durch eine festgelegte Anordnung, durch Seitenwechsel oder das Schriftbild voneinander abgetrennt sind. Dennoch kennt die handschriftliche Überlieferung zweifellos Paratexte in der Form von Rubriken, Mit Fokus auf Vorworterzählungen Jean Pauls können sich nach Wirth Paratexte – und hier besonders Vorworte – selbst „als Übergangszone in Szene setzen […], in der die Grenzen zwischen all dem, was fiktiver Text ist und all dem, was nicht fiktiver Text ist, verhandelt werden.“ Wirth (2009) Paratext, S. 167. Wirth beschreibt diesen Vorgang als ein „ Eine Zuordnung der Lügenden zu 'parasitären' Legendenparodien (vgl. Ecker [1996] Art. Legende, S. 858) verdeckt das innovative und kommunikative Gattungspotential der Lügende.
Greifen Text und Paratext, wie ich an der paratextuellen Überschreibung der Legende und ihrer Transformation zur Lügende gezeigt habe, funktional ineinander über, so wird das Transitorische bzw. Transaktive und Diskursive des Paratextes in die Gattung selbst implementiert. Die Paratextualisierung erweist sich als ein wirkmächtiger Modus des Invektiven, weil sie invektive Anschlusskommunikationen initiiert und potenziert: In der zur Lügende transformierten Legendenerzählung scheinen auch nicht glossierte Textelemente im Sog des Invektiven zu stehen. Das könnte erklären, warum das Paratextualisierungspotential offenbar nicht gänzlich ausgeschöpft wird. Luthers Marginalglossen beispielsweise kommentieren Erzählelemente vom Beginn bis zum zweiten Drittel der Chrysostomus-Legende; sie reduzieren sich dann auf zwei Anmerkungen bis zum Ende. Gleichwohl fungieren sie als Auslöser weiterer Invektiven. In den Drucken der Rauscher- Vgl. die 1562 in Neuburg an der Donau gedruckte erste
Die Paratextualisierung der Legenden- und Mirakelerzählungen schreibt zudem auf Ebene der Gattungsdynamik invektiv-kommunikative Prozesse fort: Die protestantischen und katholischen Transformationen der Legende in Lügende, ‚Gegenlügende‘ (Johannes Nas’ Zum gattungshistorischen bzw. gattungsdynamischen Zusammenhang der Lügende vgl. Sablotny (2019) Metalegende, S. 166–169; Münkler (2015) Legende/Lügende, S. 138–142; Münkler (2011) Narrative Ambiguität, S. 134–142; Münkler (2008) Sündhaftigkeit, S. 40–46; Ziegeler (1999) Wahrheiten; Ecker (1993) Legende, v.a. S. 238–243; Schnyder (1979) Legendenpolemik, S. 138f.; Schenda (1972) Hieronymus Rauscher, S. 187–199; Schenda (1970) Legendenpolemik, S. S. 40–44; Hieber (1970) Legende.
Im Sinne dieser funktionalen Dimension möchte ich Paratexte hier als Organisatoren bzw. sekundäre Formen von religiöser Kommunikation auffassen. In Anschluss an Stanitzek (2004) Texte, S. 12, bzw. Assmann (2018) Zur Unterscheidung, der sich mit Fokus auf das ausdifferenzierte Kunst- bzw. Literatursystem der Moderne an der vermeintlichen Autorzentriertheit Genettes abarbeitet. Zur religiösen Kommunikation vgl. Luhmann (2000) Religion der Gesellschaft. Vgl. Luhmann (2002) Kunst der Gesellschaft; Luhmann (2008) Medium der Kunst. Vgl. Fn. 7. Zur Deutung der Reformation als rituellem Prozess mit Kennzeichen von Liminalität im Sinne von Arnold van Gennep bzw. Victor Turner vgl. u.a. Pfrunder (1989) Pfaffen, S. 253f., oder von Bernuth (2009) Wunder, S. 74. „Die Selbstregulierung und Selbstkontrolle des Systems ergeben sich […] auf der Ebene der Programme, die die Beobachtung der Operationen durch das System selbst leiten (aufgrund anderer Unterscheidungen als denjenigen, an denen diese Operationen sich orientieren). Die Programme stellen die Bedingungen fest, die für die Realisierbarkeit einer bestimmten Operation gegeben sein müssen. Sie bestimmen zum Beispiel, daß die Zuschreibung des positiven Codewertes nur unter gewissen Bedingungen korrekt ist.“ Esposito (1997) Art. Programme, S. 139. Vgl. Koch (2017) Das Abenteuer, S. 56–62, hier S. 62: „Die Brandan-Legende steht weniger im Dienst protestantischer Kritik als vielmehr die protestantische Kritik im Dienst einer abenteuerlichen Lektüre von Brandans Meerfahrt zum Paradies.“
Begreift man die Lügende als diese in ein Gattungsformat gebrachte Übergängigkeit, als ein Kondensat der invektiv geführten Aushandlungsphase im 16. Jahrhundert und noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts, so wird erstens ihre außerordentliche Signifikanz während der religiösen Ausdifferenzierung, aber auch zweitens ihre damit zusammenhängende gattungshistorische Begrenztheit auf diese Zeit des Übergangs deutlich. Die Lügende ist daher im doppelten Sinne ein Schwellenphänomen.
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