This paper deals with the so-called ‘Flugschrift’ (i. e. pamphlet) as a specific medial arrangement resp. form of communication in early modern age, which not only allowed a wide and rapid spread of popular texts, but also provided increased opportunities for follow-on communications and interactive debate. Interactivity is an essential dimension of invective communication. It is argued that the ‘Flugschriften’ afforded the escalative dynamics of invective, which shaped the early modern public sphere. These dynamics entailed furthermore distinctive connections and transformations of visual and rhetorical genres and practices in pamphlet literature. These correlations will be demonstrated by the examples of the Reuchlin-Pfefferkorn debate and Luthers invectives against the papal bull ‘Exsurge Domine’.
Keywords
- Invektivität
- Flugschrift
- Affordanz
- Mediengeschichte
- Kommunikationsform
- Interaktivität – invectivity
- pamphlet
- affordance
- forms of communication
- history of communication
- interactivity
Flugschriften werden für gewöhnlich über zeitbezogene und technische Merkmale definiert, d. h. als ungebundene, nicht-periodische und anlassbezogene Druckpublizistik im Quart- oder Oktavformat, die sich unter den medialen Bedingungen der Frühen Neuzeit herausbildete. Vgl. die Definition bei Bellingradt (2013) Flugpublizistik, S. 279: „Eine Flugschrift ist somit eine Publikation, die trotz handschriftlicher Ausnahmen in der Regel gedruckt ist, ursprünglich ohne Einband (ungebunden) hergestellt wurde, tendenziell geringen Blattumfang aufweist und nicht periodisch erscheint, sondern ‚ereignisabhängig‘“. Einschlägig und mit einem umfassenden Forschungsüberblick Schwitalla (1999) Flugschrift; des Weiteren Rosseaux (2001) Kipper, S. 23–29 sowie S. 74–79. Zur Differenz zum Flugblatt u. a. Schilling (1990). Erkennbar handelt es sich um weiche Kriterien, Bellingradt zufolge gilt sogar das Druckkriterium nicht absolut. Des Weiteren lassen sich bspw. Flugschriftenserien mit einer gewissen Periodizität rekonstruieren; ebenso kann auch das ‚Ereignis‘ erst durch die Flugschriften selbst konstituiert werden, eben als Medienereignis. Auch das Kriterium der fehlenden Bindung (der Broschürencharakter) gilt nur für die ursprüngliche Erscheinungsform der Flugschriften, in den Archiven und Bibliotheken werden die Flugschriften in der Regel gebunden und damit sozusagen in Bücher verwandelt. Für gewöhnlich wird diese Übersetzung C. F. D. Schubart zugeschrieben. Dazu Schwitalla (1999) Flugschrift, S. 2f.
Bei den Flugschriften handelt es sich nicht um eine literarische Gattung, sondern um eine Publikationsform bzw. allgemeiner um eine Mediengattung, die unterschiedliche literarische Gattungen und Textsorten aufnehmen und verknüpfen kann. Schwitalla (1999) Flugschrift, S. 2f.; außerdem Schwitalla (1999) Präsentationsformen. Vgl. Dahinden/Trappel (2010) Mediengattungen, insbesondere S. 439f. Vgl. Straßner (1999) Aufgaben, S. 795–799; Schwitalla (1999) Flugschrift, S. 4f., mit Verweis u. a. auf Köhler (1976) Flugschriften, S. 50. Köhler benennt als „Ziel“ der Flugschriften „Agitation“ und „Propaganda“. Der Terminus ‚Flugschrift‘ wird auch heute noch zur (Selbst-)Bezeichnung ‚engagierter‘ Schreibformen benutzt, analog zum Begriff ‚Pamphlet‘. Die Edition Nautilus etwa führt aktuell eine eigene Reihe unter der Bezeichnung Mirbt sprach in seinem Überblick zum Investiturstreit zunächst von „Streitschriften“; deren Kriterien „Parteinahme“ und „beabsichtigte Öffentlichkeit“ seien, woraus sich der Begriff der „Publizistik“ des Investiturstreits ableitet: Mirbt (1894), Publizistik, S. 4f. Flugschrift ist allerdings auch für ihn ein Gattungsbegriff: „Das Genre der modernen Flugschrift fehlt freilich noch fast ganz.“ (ebenda, S. 5); er verwendet den Begriff allerdings dennoch mehrfach (u. a. S. 50). Zum Begriff der Streitschrift zuletzt auch Heinrich (2016) Streitschrift, der darauf hinweist (ebenda, S. 92, Fn. 5), dass Streitschrift nicht selten als Subkategorie von Flugschrift verwendet wird, etwa von Fuhrmann (1975) Briefform. Für die Germanistik bzw. mittellateinische Philologie vgl. etwa Langosch (1964) Geschichte, S. 114, wo von den „Flugschriften des Investiturstreits“ die Rede ist. Grundsätzlich dazu Melve (2007) Inventing, der zeigt, dass sich im Verlauf des Investiturstreits eine spezifische Öffentlichkeit etabliert. Ott (2013) Philippica, S. 8–35. Vgl. die Kritik von Manuwald (2016) Rezension Ott. Zum Investiturstreit bemerkt Schwitalla 1999, S. 47, dass man die „Flugschriften“ des Investiturstreits „nur in einem entfernten Sinne“ so nennen könne: „Es fehlte der Wille zur systematischen Verbreitung über den Kreis der politisch Einflußreichen hinaus. Aber einige inhaltliche und formale Merkmale von Flugschriften sind vorhanden: Anklage und Selbstrechtfertigung; der Versuch, für die eigene Position zu werben; (entstellendes) Zitat und Gegenargument.“ Anzumerken wäre, dass ein solcher „Wille zur systematischen Verbreitung“ nicht mit den Maßstäben der Massenkommunikation zu messen ist; Cicero bspw. war an einer weiten Verbreitung seiner Texte gelegen, wofür schon die gute Überlieferungslage spricht. Des Weiteren sind die antiken und mittelalterlichen Kapazitäten der Textreproduktion auch nicht zu unterschätzen, etwa in den Schreibwerkstätten. (Ich danke Dennis Pausch für diese Hinweise.) Umgekehrt wäre zu fragen, ob nicht auch die moderne Kommunikationstechnologie auf bestimmten „Systemspannungen“ und „Wunschkonstellationen“ beruht, die sich historisch herausgebildet haben; vgl. im Hinblick auf die Genese der Computertechnik Winkler (1997) Docuverse, S. 48–52.
Auf der anderen Seite stehen Versuche, den notorisch unpräzisen Begriff der ‚Flugschriften‘ terminologisch einzuklammern. Im Blick auf die historische und fachwissenschaftliche Bezeichnungsvielfalt (Newe Zeitung, Famosschrift, Relation usw.) lässt sich in der Tat eine „babylonische Sprachverwirrung“ konstatieren. Bellingradt (2011) Flugpublizistik, S. 13. Bellingradt (2008) Quellen, S. 77f.; allgemein Bellingradt/Schilling (2013) Flugpublizistik, S. 273–289. Unter „Akzidenz“ versteht Bellingradt dabei die Anlassbezogenheit von Flugpublizistik. Vgl. Schilling (1990) Bildpublizistik, S. 53f.; Schilling (1999) Geschichte. Dafür spricht schon, dass nicht selten dieselben Texte einmal als Flugblatt, ein anderes Mal als Flugschrift publiziert wurden; ebenso erscheinen diese Texte in Flugschriften mit Illustrationen. Zu den vielfältigen Erscheinungsformen des Flugblatts vgl. etwa auch Münkner (2008) Eingreifen. Ott (2013) Philippica, S. 9. Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivität, S. 3. Vgl. Stöber (2014) Pressegeschichte, S. 47 mit Blick insbesondere auf das Flugblatt: „[A]ls Mittel der persönlichen Verunglimpfung waren Flugdrucke – im Unterschied zu den Zeitungen – gut geeignet; nicht zuletzt deshalb, weil sie auch an öffentlichen Orten – Toren, Rathaus- und Kirchentüren, Marktplätzen, Stadtmauern etc. – angeschlagen wurden und damit hohe Leserzahlen erreichten.“ Köhler (1986) Meinungsprofil, S. 261 und Schwitalla (1999) Flugschriften, S. 4 und verwahren sich allerdings dagegen, „Polemik, Spott und Verunglimpfung“ als zentrale Funktionen von Flugschriften zu beschreiben: „die meisten [Flugschriften] dienten zur argumentativ unterstützten Aufforderung oder Anklage“. Diese Einschätzung beruht allerdings auf einer Einschränkung des Invektiven auf vordergründige Polemik oder persönliche Beleidigungen. denn die Lautverschiebung von ‚Flug‘ zu ,Fluch‘ charakterisiert bereits den Inhalt eines wichtigen Typus jener Texte, nämlich diejenigen, in denen es darum geht, einen politischen, theologischen oder sonst wie gearteten Widerpart zu verspotten, zu beschimpfen oder zu schmähen. Rosseaux (2001) Kipper, S. 74.
In der Folge werde ich versuchen, die Affinität dieses ‚Formats‘ zur kommunikativen Modalität des Invektiven näher zu bestimmen. Dabei konzentriere ich mich auf das frühe 16. Jahrhundert, d. h. auf den Zeitraum der Herausbildung dieser Mediengattung. Köhler (1986) Meinungsprofil, S. 250.
Entgegen geläufiger Vorannahmen lässt sich den frühneuzeitlichen Quellen durchaus ein signifikanter Begriff für das Format entnehmen, der Aufschluss über seine Funktionen geben könnte: Die heute sogenannten ‚Flugschriften‘ (ungebunden, mehrblättrig, okkasionell, Quart- oder Oktavformat) werden von ihren Verfassern mit einer gewissen Regelmäßigkeit als Vgl. dazu weiter unten die Bezeichnungen bei Pfefferkorn, Luther und Eck. Ähnliche Belege ließen sich auch für andere Autoren des frühen 16. Jahrhunderts beibringen. Allerdings sind diese Kennzeichnungen natürlich nicht definitorisch, d. h. nicht jeder Luther, WA 21, 329,14f.; Flachmann (1996) Luther, S. 74. Ich unterscheide also in Anschluss u. a. an Holly (2011) Medien, zwischen ‚Medien‘ als materialen Bedingungen von Kommunikation und ‚Kommunikationsformen‘ als „strukturellen Arrangements“ (ebenda, S. 150). So ist bspw. zwischen dem Rundfunk als Medium und der Rundfunksendung als einer Kommunikationsform zu differenzieren, dementsprechend kann zwischen dem Buchdruck als Medium und dem Buch als Kommunikationsform unterschieden werden. Ein Ziel des Beitrags ist es, die Flugschrift als eigenständige Kommunikationsform zu plausibilisieren, anstatt sie unter das Buch zu subsumieren. Vgl. auch Bellingradt (2014), S. 274f. Zu den Intentionen Gutenbergs: Giesecke (1998) Buchdruck, S. 134. Pettegree/Hall (2004) Reformation, S. 788: „From the point of view of a new entrepreneurial industry, the Flugschriften were the ideal product: generally short, they were quick and simple to produce.“ Weyrauch (2001) Buch, S. 5. Vgl. des Weiteren etwa Wittmann (1999) Geschichte, S. 43f.; Burkhardt (2002) Reformationsjahrhundert, S. 25f.
Meine These ist, dass mit diesem Format des Büchleins bzw. mit den ‚Flugschriften‘ auch spezifisch invektive Affordanzen, d. h. Nutzungspotenziale und Handlungsoptionen verbunden sind. Ich stütze mich im Folgenden v. a. auf Zillien (2009) (Wieder-)Entdeckung. Der Begriff der Affordanz entstammt ursprünglich aus der Wahrnehmungspsychologie und der Designtheorie und beschreibt die mit bestimmten Artefakten nahegelegten Gebrauchsmöglichkeiten, hat aber mittlerweile auch in den Kultur- und Medienwissenschaften Resonanz gefunden. Vgl. die Übersicht bei Zillien (2019) Affordanz. Zur Affordanz literarischer Formen Levine (2015) Forms sowie den Beitrag von Katja Kanzler in diesem Band. Zillien (2009) (Wieder-)Entdeckung, S. 177f. In diese Richtung weisen schon die Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivität, S. 9, S. 15. Der invektive Kommunikationsmodus besteht in der Produktion einer invektiven Triade, d. h. invektive Kommunikation ist immer schon auf ein Publikum bezogen; Invektiven zielen daher in einem gewissen Sinne von vornherein darauf, ‚Öffentlichkeit‘ herzustellen. Der Öffentlichkeitsbegriff ist für sich genommen natürlich problematisch, im Groben lässt vielleicht ein normativer Öffentlichkeitsbegriff im Anschluss an Habermas von einem praxeologischen Ansatz unterscheiden, der auf Praktiken des Öffentlich-Machens bzw. der Herstellung und Aufrechterhaltung von Öffentlichkeit bezogen ist. Dieser zweite Ansatz ist auch für diesen Beitrag leitend. Vgl. auch Kästner/Voigt (2020) Jedermann. Creasman (2012) Censorship, insbesondere S. 23–62; darüber hinaus Oelke (1992) Konfessionsbildung, S. 110– 121; Eisenhardt (1970) Aufsicht, insbesondere S. 3–48. Vgl. auch der Beitrag von Gerd Schwerhoff in diesem Band. Vgl. die Tabellen in Köhler (1986) Meinungsprofil, S. 244–328.
Der historische Ereigniskomplex des Reuchlin-Pfefferkorn-Konflikts ist mittlerweile gut dokumentiert und aufgearbeitet, weshalb ich mich auf einige wenige Grundzüge beschränken und auf den kommunikativen Zusammenhang konzentrieren kann: Vgl. zum Folgenden Martin (1994) Schriften; Price (2011) Reuchlin and the Campaign; De Boer (2016) Absichten; des Weiteren die Rekonstruktionen bei Schwitalla (1983) Flugschriften, S. 251–272 sowie Lobenstein-Reichmann (2013) Ausgrenzung, S. 200–211.
Richtet sich der Zum diskursgeschichtlichen Hintergrund der Pfefferkorn’schen Büchlein gehören die mendikantischen Bestrebungen der Judenmission, die Ende des 15. Jahrhunderts Konjunktur hatten. Dazu u. a. Frey (2003) Judenspiegel; Price (2011) Reuchlin and the Campaign, S. 97f. Vgl. De Boer (2017) Pfefferkorn’s Books, S. 90. Zu diesem „Informationssystem“ Giesecke (1998) Buchdruck, S. 257. Vgl. den Beitrag von Heß (2017) Hatred, insbesondere S. 133: „The anti-Jewish campaign probably opened the printer’s eyes to a new market sector; Johannes Landen proceeded with the production of vernacular lay didactical books, and the Pfefferkorn texts were quickly translated and spread throughout the German lands in the South.“ Für einen konzisen Überblick über die Inhalte vgl. Kirn (2011) Pfefferkorn. Das betraf insbesondere den Dazu im Einzelnen u. a. Martin (1994) Schriften, S. 138–148. Zum Rechtsgutachten vgl. die Zusammenfassung bei Martin (1994) Schriften, S. 36–41. Martin (1994) Schriften, S. 165. Pfefferkorn (1511) Handt Spiegel, S. 284. De Boer (2016) Absichten, S. 955–1028 (Kap. „Polemik mit Zuschauer“). Zu einer solchen kommunikativen Konstellation aus invektivitätstheoretischer Sicht vgl. Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivität, S. 13. Vgl. Giesecke (1998) Buchdruck, S. 406. Vgl. die Definition von Dürscheid: „Kommunikationsformen sind also kommunikative Konstellationen, die über ein Hilfsmittel erst möglich gemacht werden, aber auch solche, die ohne ein Hilfsmittel auskommen. Beispiele wären das Telefongespräch, die Rundfunksendung oder der Internetchat.“ Dürscheid (2005) Medien, S. 5. Ausführlicher dazu Holly (2011) Medien, besonders S. 150–160. Dieser Beitrag versteht sich als ein Baustein zu der von Holly geforderten „Kommunikationsgeschichte unter dem Aspekt der Kommunikationsformen“ (ebenda, S. 160). Vgl. Pfefferkorn (1511) Handt Spiegel, S. 282 (136): „Allen und jedenn Geistlichen oder weltlichen – In was stats wirden oder wesenns die seind – den diß büchlin fürkumpt, Sehen, lesen oder horen lesen, Sey kundt und offenbare […].“ Zu dieser Formel u. a. Green (1990) Hören. In der Reformation ist die Formel gängig. Giesecke (1998) Buchdruck, S. 262, spricht von einem „Gewinn an Unmittelbarkeit“ durch die neue Technologie. Im Begriff der Debatte ist ohnehin eine gewisse Ambivalenz zwischen Sachorientierung und Demonstration rhetorischer Fähigkeiten angelegt, vgl. Schild (1994) Debatte, Sp. 413. Dazu des Weiteren die Beiträge in Kramer (2006) Rhetorik, etwa Kemmann (2006) Debatte. Besondere Brisanz erhält das Problem in Phasen medialer Verschiebungen. Im Hinblick darauf vgl. z. B. Tom Uhligs Twittereintrag vom 4.04.2020: „Leute, die immer fordern, „wir brauchen eine öffentliche Debatte über“, haben wohl noch nie eine öffentliche Debatte verfolgt.“ Zum polemogenen Charakter gesellschaftlicher Debatten Eder (1994) Paradox. Es lassen sich schon im 15. und frühen 16. Jahrhundert Protoformen öffentlicher Debatten beobachten: Giesecke verweist etwa auf die „öffentliche Diskussion“ im Kontext der Mainzer Stiftsfehde zwischen Diether von Isenberg und Adolf von Nassau (Giesecke [1998] Buchdruck., S. 264–266). Dazu eingehend Repgen (1994) Antimanifest. Entgrenzung vom „Gutachterstreit zum Gelehrtenkonflikt“ macht De Boer in den Auseinandersetzungen um die unbefleckte Empfängnis zwischen Thrithemius und Wirt und dem Berner Jetzerhandel aus (De Boer [2016] Absichten, S. 216– 258). Zu erinnern wäre auch an den Konflikt zwischen Murner und Wimpfeling; vgl. u. a. Israel (2019) Defensio. Pfefferkorn (1511) Handt Spiegel, S. 135. Reuchlin (1511) Augenspiegel, S. 189; Martin (1994) Schriften, S. 165, zum Reuchlin (1511) Augenspiegel, S. 193: „Will sich nunzu letst meinenthalb geburen warlich an tag zue legen, das mich der taufft iud Pfefferkorn mit der unwarhait hin geben und wider got, eer und recht uß geschriben und unzimlich alßo gegen mengklichem verunglimpfft hat, allain im selbs zue ainer unnotürfftigen, muettwilligen rach und von seiner geittigen art ab seinen elttern den iuden biß uff in kommen, das er mit mir als ain buechgrempler vil gelts moecht gewinnen, so er mich in getruckten büchlen inderwerts verkauffte […].“ Der Ausdruck „ab seinen elttern den iuden biß uff in kommen“ könnte auch als „von den Eltern vererbt“ übersetzt werden; Reuchlin beschreibt hier nicht nur einen Habitus, sondern einen ‚jüdischen Typus‘. Vgl. auch der Beitrag von Anja Lobenstein-Reichmann in diesem Band.
Mit der medial verstärkten interaktiven Invektivität verbindet sich eine Tendenz zur Eskalation, die die kaiserlichen Instanzen vergeblich einzudämmen versuchten. Vgl. dazu Schwitalla (2010) Flugschriften, S. 99: „Die Auseinandersetzung wird […] hier immer persönlicher und beleidigender.“ Zur Eskalationsdynamik invektiver Prozesse siehe Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivität, S. 13: „Prozessualität und Interaktivität sind somit wesentliche Dimensionen invektiver Kommunikation. Entsprechend ist häufig nicht von diskreten Einzelinvektiven auszugehen, sondern von kommunikativen Kaskaden wechselseitiger invektiver Adressierung, von Anschlusskommunikationen, die den invektiven Charakter einer Äußerung rekursiv aufnehmen, verstärken oder zuallererst erzeugen.“ Dörner (2011) Reuchlin, Sp. 619f. Der Rhythmus der Auseinandersetzungen war wesentlich von den halbjährlichen Buchmessen bestimmt. Von Tongern (1512) Articuli; Reuchlin (1513) Defensio. Vorausgegangen war dem ein Briefwechsel zwischen Reuchlin und Konrad Kollin auf Seiten der Kölner Dominikaner, der jedoch zu keinem Ergebnis führte. Dazu Martin (1994) Schriften, S. 170–175; Dörner (2011) Reuchlin, Sp. 621f. Martin (1994) Schriften, S. 175; ebenda, S. 183. Reuchlin (1514) epistolae (VD16 R 1241). Dazu u. a. Könneker (1991) Satire, S. 102–118; zur mimischen Satire als „Technik der literarischen Bloßstellung“ durch Nachahmung vgl. ebd., S. 105.
Die invektiven Strategien der Konfliktparteien können in diesem Rahmen nicht im Einzelnen analysiert werden, aber schon in diesem gerafften Überblick deutet sich an, dass diese Strategien nicht nur auf die technischen und ökonomischen, sondern auch auf den spezifisch medialen Affordanzen der ‚Büchlein‘ rekurrierten. Das ist nicht nur auf ihre Offenheit für unterschiedliche Kommunikationsmodi und Zeichensysteme zu beziehen, sondern auch auf die Gebrauchs- und Rezeptionsform, die durch die Büchlein nahegelegt wird, bieten sie doch ein handliches Format, das durchgeblättert, vorgelesen, intensiv studiert, aber auch überflogen und weitergereicht werden kann. Prinzipiell dazu die Beiträge in Meier/Ott/Sauer (2015) Textkulturen. Vgl. Matheson (1998) Rhetoric, S. 180. Zum Folgenden einschlägig (mit Fokus auf die Reformation) Scribner (1994) For the Sake.
Abb. 1:
Johannes Pfefferkorn: Der Juden Spiegel, [Nürnberg: Huber] 1507; VD16 P 2300, Titelblatt.

Abb. 2:
Johannes Pfefferkorn: Ajn mitleydliche claeg vber alle claeg, an unsern allergnedichsten Kayser und gantze deutsche Nacion, [Köln: Kruffter]1521; VD 16 P2317, Titelblatt.

Die wichtigste Strategie besteht in der intermedialen Verknüpfung von Texten und Bildern, wie sie in Pfefferkorns Büchlein zu beobachten ist: Für das Titelblatt des Vgl. Frey (2003) Juden Spiegel, S. 184, Fn 54. Vgl. zum Folgenden auch die Ausführungen von Volker Leppin (2015) Vorlesung: Die Pointe besteht natürlich in einer Umkehrung der Sachlage: Die missionarische Bewegung, die die Juden im Pfefferkorn (1521) clag, S. 436.
Die Holzschnitte visualisieren mithin wechselnde Konstellationen des Konflikts, wobei die Verfahren der Selbstlegitimation untrennbar mit Modalitäten der Herabsetzung verknüpft sind. Neben der bildlichen Evidenz lassen sich aber auch andere Behauptungs- und Geltungsstrategien ausmachen: Eine wichtige Rolle spielen die Selbstbeschreibungen der Texte, etwa der markante Begriff des ‚Spiegels‘ bzw. ‚Speculum‘: Pfefferkorn schließt damit an eine etablierte mittelalterliche Gattung der Erbauungs- und Lehrdichtung an: Ein ‚Spiegel‘ zeigt mit enzyklopädischem Anspruch die Welt, wie sie ist (Abbild), und zugleich, wie man sich in ihr verhalten soll (Vorbild). Röcke (1989) Lehrdichtung; Störmer-Caysa (2003) Spiegel; vgl. Frey (2003) Juden Spiegel, S. 182. Röcke (1989) Lehrdichtung, S. 443. Grundsätzlich dazu Ott (2010) Erfindung. Vgl. zur Spiegelmetapher O’Callaghan (2016) Preservation, S. 99–102; Reuchlin (1513) Defensio, S. 219, Übersetzung Ehlers 1999: „So habe ich beschlossen, im ,Augenspiegel‘ die Schmähungen dieses Mannes augenfällig zu machen, damit so alle Gutgesinnten klar, unverstellt und deutlich erkennen können, daß meine Gegner im ,Handspiegel‘, um mich zu verunglimpfen, mehr als 34 Lügen benutzt haben.“ Pfefferkorn (1512) Brantspiegell, S. 331.
Eine invektive Dynamisierung manifestiert sich nicht zuletzt auf der Diskursebene: Verschiedentlich ist in der Forschung darauf hingewiesen worden, dass Pfefferkorn auf Muster und Strategien mendikantischer Rhetorik zurückgreift. De Boer (2016) Absichten, S. 368 stellt fest, dass Pfefferkorn diese rhetorischen Muster und Adressierungsstrategien „geschickt für die Gattung Flugschrift“ adaptiert; im Anschluss an Martin (1994) Schriften, S. 60–63, sowie Frey (2003) Judenspiegel. Schwitalla (1983) Flugschriften, S. 271. Pfefferkorn (1507) Joeden Spiegel, S. 103: „Nu bit ich alle, do dis buchlin lesen oder hören lesen, mir in mynem schryben nichtz zo vngut annemen, sunder das bas dan ich es geseit habe, versten vnd ob etwas gebrechlichs darynne were, das gütlich zo corrigeren.“ Das gilt natürlich in erster Linie für volkssprachige Büchlein. Vgl. zu diesen Kriterien Schuster (2015) Einfachheit, S. 84f.; ebenso die exemplarische Analyse von Eberlins Pfefferkorn (1511) Handt Spiegel, S. 308f. Pfefferkorn (1516) Beschyrmung, fol. c vi; vgl. Pfefferkorn (1516) Defensio, S. 90; De Boer (2016) Absichten, S. 362f. Ich bin ain Buchlinn der juden veindt ist mein namen Ir schalckhait sag ich vnnd wil mich des nut schamenn Die lang zeyt verborgen gewest ist als ich thun bedeutenn Das wil ich yetz offenbarn allen Cristen leüten Dann ich bin mit yrem hebraischen schrifften wol verwart Und dem verkerten geschlecht die warhait nit gespart. Pfefferkorn (1509) Juden veindt, S. 166.
Kennzeichnend für die Büchlein sind schließlich Strategien der Mehrfachadressierung, die sich die mediale Stabilisierung und Erweiterung der Redesituation zunutze machen. Martin (1994) Schriften, S. 62. Systematisch zu diesem Thema Kühn (1995) Mehrfachadressierung. Pfefferkorn (1507) Joedenspiegel, S. 40: „ungezwyvelt eyme ycklichen krysten mynschen genoichlich zo vernemen, und tzo hoieren, und dair benenen, sich dair an spiegelen, gode danckber tzo syn, das er vur eyme anderen in der genaiden, van jongen dagen upgefoirt in dem cristen gelouven geboren.“ Frey (2003) Judenspiegel, S. 182. Pfefferkorn (1507) Joedenspiegel, S. 41: „Allen und yecklichen gunst und wailfart, sunderlich mynen affgescheiden broederen, wilche geboren synt uyss dem geslechte ysrahel […]“. Ebd., S. 86: „Es syn eyns deyls aus euch also hart verwüstet vnd verblent, das yr in keynem wege van vnseren glawben muget hören reden.“
Dass der Buchdruck und insbesondere die Flugschriftenpublizistik eine zentrale Rolle für den Verlauf und die Durchsetzung der Reformation spielte, ist ein seit langem gesicherter Grundkonsens der Forschung. Schon Kapp sprach in seiner 1886 erschienenen Kapp (1886) Geschichte, S. 408; vgl. Wittmann (1999) Geschichte, S. 44. Bündig bei Moeller (1992) Kommunikationsprozess, S. 162: „Ohne Buchdruck keine Reformation.“ Für die Diskussion vgl. u. a. Wohlfeil (1984) Öffentlichkeit, mit kritischem Hinweis auf die Vorarbeiten von Balzer (1973) Reformationspropaganda sowie Schutte (1973) Schympff red. Für die weitere Diskussion vgl. u. a. Scribner (1981) For the Sake; Köhler (1986) Meinungsprofil; Moeller (1992) Kommunikationsprozess; Talkenberger (1994) Kommunikation; Hamm (1996) Medienereignis; Hohenberger (1996) Rechtfertigungslehre; Matheson (1998) Rhetoric, S. 27–57; Burkhardt (2002) Reformationsjahrhundert; Pettegree/Hall (2004) Reformation; Kaufmann (2018) Anfang; Kaufmann (2019), Mitte; zuletzt Kästner/Voigt (2020) Jedermann. Vgl. Knape/Luppold (2008) Rhetorik: „Was dabei leicht übersehen wird, ist, dass der Buchdruck zwar eine Technologie ist, die prinzipiell Dimissivik, also Kommunikation über große Distanzen ermöglicht und Kommunikation mit vielen Kommunikatoren und Adressaten erlaubt […]; eine Druckerpresse allein vermag jedoch noch keine wie auch immer geartete ,Öffentlichkeit‘ herzustellen.“
Diese These will ich illustrieren anhand der medialen Interaktion um die gegen Luther gerichtete Bannandrohungsbulle Zu Vorgeschichte und Inhalt der Bulle ausführlich Roos (1957) Quellen sowie Fabisch/Iserloh (1991) Dokumente, S. 317–364; des Weiteren Grane (1994) Martinus, S. 232–237; Thaller (2020) Bannandrohungsbulle. Die Nachweise bei Roos (1957) Quellen, S. 919–926. Die Verfasser der Bulle haben dabei einige Sätze Luthers für ihre Zwecke modifiziert; dazu u. a. Hillerbrand (1969) Bull. Brecht (1990) Luther, S. 375. Das war innerhalb der Kommission aber durchaus umstritten, Cajetan bestand etwa auf einer qualifizierten Widerlegung der lutherischen Thesen, allerdings vergeblich. Vgl. Reinhardt (2016) Luther der Ketzer, S. 118f. Schwarz (2014) Luther, S. 114. Fabisch/Iserloh (1991) Dokumente, S. 394. Fabisch/Iserloh (1991) Dokumente, S. 402.
Die Fokussierung auf die Büchlein zeigt, dass eine wesentliche Funktion der Bulle darin besteht, die diskursive und mediale Dynamik der , Grane (1994) Martinus, S. 236. Spengler (1519) Schutzred, S. 100: „[…] das Got der almechtig wider dise ungeschickte, verdamliche yrrung [gemeint ist der Ablasshandel] durch doctor Luthern ainen Daniel im volck erweckt hab […].“ Zu Spengler ausführlich Kaufmann (2018) Anfang, S. 362–376.
Die Bulle wurde Ende September von den päpstlichen Nuntien Hieronymus Aleander und Johannes Eck in den Diözesen Meißen, Merseburg und Brandenburg öffentlich angeschlagen. Die Bulle wurde am 21.10. in Meißen, am 25.9. in Merseburg und am 29.9.1520 in Brandenburg veröffentlicht, womit sie zumindest aus Sicht der Kurie auch für Kursachsen als publiziert galt. Vgl. dazu Giesecke (1998) Buchdruck, S. 254–263, insbesondere die Diagramme S. 262f. Die Forschung geht von der exorbitanten Zahl von 6000 Exemplaren aus; vgl. Thaller (2020) Bannandrohungsbulle, S. 151: Rückert/Thaller (2017) Bulle, S. 117f.; Luther, WABr 2, S. 194; Luther, WA 6, 577; Schwarz (2014) Luther, S. 116. Anscheinend wagte sich Eck nicht nach Wittenberg; schon in Leipzig war er Anfeindungen von den Studenten ausgesetzt. Brecht (1990) Luther, S. 383. Rückert/Thaller (2017) Druck, S. 118: „Die gedruckten Exemplare trugen zwar keine Bleibulle, galten aber als dem Original gleichwertig, wenn sie von einem Prälaten beglaubigt wurden.“ Die Wittenberger bestanden allerdings darauf, dass die Bulle formgerecht persönlich zu übergeben sei. Brecht (1990) Luther, S. 382f.; Schwarz (2014) Luther, S. 116f. vgl. Giesecke (1998) Buchdruck, S. 262f. Vgl. Grane (1994) Martinus, S. 271: „The whole reform party will have agreed that the burning of the books was in itself a hateful act […].“
Luthers Reaktion lässt sich als Umkehrung dieser invektiven Konstellation beschreiben und diese Umkehrung ist durch die Kommunikationsform der Büchlein konstituiert. Giesecke (1998) Buchdruck, S. 262: „Die Verkürzung gilt natürlich auch für den umgekehrten Weg: Der einfache Augustinermönch M. Luther kann sich mit Hilfe des Drucks direkt an den Papst wenden – und es besteht die Chance, dass dieser eine Flugschrift in die Hand bekommt.“ Luther, WA 6, 579–594. Vgl. Kaufmann (2018) Anfang, S. 53. Luther, WA 6, 597–612. Luther, WA 6, 614–629. Luther, WA 7, 3–11; 20–38. Luther, WA 7, 75–82; 85–90. Luther, WA 7, 94–151. Luther, WA 7, 308–455. Dazu Schubert (2011) Lachen. Luther, WA 7, 161–186.
Schon die schiere Menge der lutherischen Büchlein ist beeindruckend: Dass Luther „ein Büchlein nach dem anderen“ ausgehen ließ, ist ein Standardvorwurf seiner Gegner in den ersten Reformationsjahren. So etwa Eck (1520) Costentz, fol. a: „Dan wolt er [Luther] gerne also ym alleine gelebt haben, doerfft er nith ein buechlein über das andern lassen ausgehen: dartzu yme sein widersacher nith geursacht haben […]“. Wohlfeil (1984) Öffentlichkeit, S. 47f.; Matheson (1998) Rhetoric, S. 40f. Hamm (1996) Medienereignis, S. 165f. Vgl. die Anmerkung von Moeller (1979) Stadt, S. 31, dass die Büchlein dafür eingesetzt wurden, „die wahre Wahrheit gegen die gültige Wahrheit zu verbreiten“. Vgl. dazu auch Münkler (2019) Rom, S. 222-227. Eck (1520) Entschuldigung, S. 134. Ecks kommunikative Taktiken verdienten eine eigene Analyse, die in diesem Rahmen nicht zu leisten ist. Luther, WA 6, 592: „[…] sie [die Leute] sollen glewben, es sey des Bapsts werck, so es sein [Ecks] lugen spiel ist“. Die Appellation an ein Konzil war bereits vorab vom Papst untersagt worden und wurde in der Bulle als Grund benannt, Luther zum Ketzer zu erklären. Vgl. Schwarz (2014) Luther, S. 114. Luther, WA 6, 593: „Darumb will ich der bullen bley, wachs, schnur, signatur, clausel und allis mit augen sehen odder nit ein harbreit geben auff alle andere geplerre.“ Die Kennzeichnung als Fälschung zielt rein strategisch auf die rechtlich fragwürdige Veröffentlichung der Bulle in Form einer Flugschrift; dass Luther sich über die Echtheit der Bulle im Klaren war, zeigt sein Brief an Spalatin vom 11.10.1520; Luther, WABr 2, 195.
Diese Argumentation entfaltete Luther gegen Ende Oktober/Anfang November in zwei Flugschriften, die sich gegen die Bulle selbst richten. Die Forschung hat sich, sofern sie diese Texte überhaupt näher zur Kenntnis genommen hat, meist auf die elaborierte lateinische Fassung Luther, WA 6, 597–612. So etwa Grane (1994) Martinus, S. 271; des Weiteren Bornkamm (1998) Christus, S. 125f.; Reinhardt (2016) Luther der Ketzer, S. 135f. Zum Folgenden Luther, WA 6, 614–629. Ein ausführlicher Vergleich der beiden Fassungen wäre lohnenswert, kann in diesem Rahmen aber nicht durchgeführt werden. Luther, WABr 2, 210f. Das VD 16 verzeichnet insgesamt 24 bzw. 25 überlieferte Exemplare des Lotter-Drucks, die über den gesamten deutschen Sprachraum verteilt sind; für die mit 4000 Exemplaren als exorbitant beurteilte Erstauflage der Das lag natürlich letztlich im Ermessen des Druckers, zumindest außerhalb Wittenbergs. Der Schürer-Druck Spengler (1519) Schutzred. In der lateinischen Fassung Zurecht haben Kästner und Voigt den pluralen Charakter und die Potenzialität der ‚reformatorischen Öffentlichkeit‘ hervorgehoben und u. a. den „Anschein von Universalität“ problematisiert, der sich mit diesem Begriff verbindet (Kästner/Voigt [2020] Jedermann, S. 143f.). Ohne diese komplexe Problematik von Zugänglichkeit und Teilhabe an den reformatorischen Kommunikationsprozessen hier im Einzelnen diskutieren zu können, bleibt allerdings doch anzumerken, dass die Kommunikationsform der Büchlein durchaus darauf ausgerichtet ist, Luther, WA 6, 614,10. Luther, WA 6, 615,17; 24. Luther, WA 6, 615. Der Diminutiv „buchle“ unterstreicht hier auch die unverhältnismäßige Reaktion der Kurie. Ubir das thar ich auff mein gewissen sagen, das ich nit liebers haben mocht, den aller meiner bucher untergang, wilch ich auch nur habe must lassen auszgahen, die leut vor solchen yrthumen zuwarnen, und in die Biblien zufuren, das man der selbenn vorstandt erlangt, und dan meine buchle vorschwinden liesz. Ach got, were der vorstandt der schrifft in uns, ann meinen buchle were nichts gelegen […]. Luther, WA 6, 616,5–10.
Abb. 3:
Martin Luther: Widder die Bullen des Endchrists, [Wittenberg: Lotter] 1520; VD16 L 7449, Titelblatt.

Die Büchlein haben also einen ephemeren, im doppelten Sinn transitorischen Charakter, der den spezifischen Affordanzen dieser Kommunikationsform entspricht: Die Büchlein mögen leicht zu verbrennen sein, sie sind aber auch, rasch entworfen und gedruckt, leicht zu ersetzen. Sie zielen nicht auf Festschreibung bzw. Aktualisierung eines tradierten Konsenses, sondern auf dessen Infragestellung und Transformation. Ihre Funktion besteht darin, eine Bewegung zu initiieren, in der sie selbst überflüssig werden. Die Büchlein sind insofern Kommunikationsform der christlichen Wahrheit, als sie gegen die vorherrschende falsche Lehre vom Ablass neu auf das göttliche Wort orientieren. Luther habe sie deswegen ausgehen lassen, um „die leut vor solchen yrthumen zuwarnen und in die Biblien zufuren, das man der selbenn vorstandt erlangt“. Luther, WA 6, 616,7f. Vgl. auch den Abschluss der Schrift, wo Luther darauf verweist, dass die inkriminierten Artikel in seinen anderen „buchle“ zu finden seien (Luther, WA 6, 629,4f.). Luther, WA 6, 617,10f. Zu einer ähnlichen Konstellation nach dem Wormser Edikt vgl. Kaufmann (2021) Hier stehe ich, S. 86. Zu dem hier deutlich hervortretenden antirömischen Moment vgl. Münkler (2019) Luthers Rom. Luther, WA 6, 616,23–617,11. Hier liegt im Übrigen die Differenz zu der mitunter als ‚Flugschrift‘ bezeichneten, allerdings nur handschriftlich verbreiteten Vgl. Reinhardt (2016) Luther der Ketzer, S. 136, der Luther in seiner öffentlichen Gegnerschaft zum römischen Antichristen in die Rolle eines „Gegenspielers“ eingerückt sieht. Dass Luther von seinen Parteigängern als Prophet wahrgenommen wurde, zeigt schon das Zitat Spenglers, Fn. 85. Luther hat jedoch die Prophetenrolle nie für sich in Anspruch genommen, ihr sogar explizit widersprochen (z. B. in seiner Einleitung zur Luther, WA 6, 621,32f. Deutsches Rechtswörterbuch (DRW): Retorsion. ( Luther, WA 6, 618,1. Vgl. WA 6, 617,12–23: „Sie schreyben in der selben Bullen, das die artikel, szo da auff eien hauffen ertzelet werden, etlich ketzrisch, etlich yrrisch, ettlich ergerlich, etlich vorfurisch, ettlich vor Christlichen oren unleydenlich sein, und alszo funfferley artickel machen. Aber so vortzagt ist yhr eigen strefflich schalckhafftig gewissen, das sie nit habenn dorfft klerlich unnd unterschiedlich die selben artickel orttern odder deutten, szondern stellen ein blind urteyl in denn gantzen hauffen, das niemandt wissen kann, wilche sie fur ketzrisch, odder yrrig, odder ergerlich, odder vorfurisch, odder unleydenlich wollen gehalten haben, unnd doch vordamnen, Damit sie ein solch narren spiel treyben, das sie wollen unterschid der artickel habenn, und doch niemant die unterschied lassen, szondern hoffen, sie sollen von yderman umb yhres vordammensz wegen on unterscheyd alle fur ketzer gehalten werden“. Luther bezieht sich offenbar auf diese Passage: „[…] omnes et singulos articulos seu errores tanquam, ut praemittitur, respective hereticos aut scandalosos aut falsos aut piarum aurium offensivos vel simplicium mentium seductivos et veritati Catholice obviantes damnamus, reprobamus atque omnino reiicimus ac pro damnatis, reprobatis et reiectis ab omnibus utriusque sexus Christi fidelibus haberi debere, harum serie decernimus et declaramus.“ Fabisch/Iserloh (1994) Dokumente, S. 388. Luther, WA 6, 619,3f.; 21f. Vgl. Luther, WA 6, 618,10f.: „Darumb, was nit ketzrisch wird gescholtenn, das ist schon Christlich gelobt, seyntemal kein yrthum schadet in der kirchenn, den allein der ketzrische.“ Luther, WA 6, 620,13f. In Bezug auf den 5. Artikel versuchten die Romanisten etwa die Unterteilung der Buße in Reue, Beichte und Genugtuung aus „geytz“ aufrechterhalten, um damit den Ablasshandel zu rechtfertigen (WA 6, 624,10).
Als eskalative Pointe ergibt sich die Verwerfung nicht nur der Bulle, sondern auch der „Bullisten“ und letztlich der Kurie: Da die Bulle den „christlichen glauben offentlich und unverschampt leugnet“, solle man sie dem „Romischen Endchrist und D. Ecken seinem Apostel, mit schwefel und fewr heym senden“. Luther, WA 6, 629,11f. Luther, WA 6, 629,18f. Vgl. die lateinische Fassung Luther, WA 6, 624: „Et sicut ipsi me excommunicant pro sacrilega haeresi sua, ita eos rursus ego excommunico pro sancta veritate Dei.“ In diesen Rahmen wäre auch die noch weitaus aggressivere Invektive
Die vorstehende Analyse ist von der Prämisse ausgegangen, dass invektive Kommunikation einerseits durch Form- und Medienaspekte konstituiert ist, Formen und Medien andererseits durch die Dynamiken invektiver Kommunikation transformiert und mitgeprägt werden. Zur Analyse dieses komplexen Wechselverhältnisses bietet sich das Affordanzkonzept an. Unter diesem Gesichtspunkt wird die Flugschrift bzw. das Büchlein als Kommunikationsform mit invektiven Affordanzen beschreibbar. Das bedeutet weder, dass Phänomene der Invektivität bloße Folgen einer neuen Medientechnik sind, noch, dass alle Büchlein Invektiven beinhalten, sondern dass invektive Kommunikation spezifische Nutzungspotentiale der neuen Kommunikationsform exploriert und in Dienst nimmt: Die hier herausgestellten invektiven Affordanzen der Kommunikationsform „Flugschrift“ lassen sich dabei mit den Begriffen „Publizität“, „Interaktivität“, „Eskalation“ und „Retorsion“ zusammenfassen. Die Büchlein ermöglichten nicht nur eine Beschleunigung der kommunikativen Prozesse und eine Inklusion neuer Rezipientenschichten, sondern auch neue Formen medialer Interaktion, die über die traditionelle Struktur einer Bekanntmachung hinaus ‚Öffentlichkeit‘ herstellen. Die Büchlein machen jedoch nicht nur etwas öffentlich, sondern bilden mediale Verstärker, die geeignet sind, soziokulturelle Barrieren zu überschreiten und den Wirkungsgrad der Invektiven zu erhöhen, indem sie die Anschluss- und Partizipationsmöglichkeiten erweitern und vervielfältigen. Zweitens ermöglichen die Büchlein durch die Beschleunigung der Kommunikation mediale Interaktionen. Diese medial gestützte Interaktivität korreliert mit der eskalativen Eigendynamik des Invektiven, die drittens in unabschließbare Kommunikationsprozesse emergieren, die mit den traditionellen Mechanismen der Diskurskontrolle nicht mehr ohne Weiteres einzuholen sind. Sie konstituieren eine öffentliche Sphäre, in der weitere Bezugnahmen und Interventionen möglich werden, bieten invektive Adressierungen doch kommunikative Anschlussmöglichkeiten für „Schutzreden“ und anderweitige Parteinahmen. Das ist vor allem für die reformatorischen Kommunikationsprozesse von entscheidender Bedeutung. Luthers Medienstrategie rechnet mit dieser selbstverstärkenden Dynamik invektiver Kommunikation und zwar sowohl hinsichtlich ihrer gemeinschaftsbildenden als auch ihrer polarisierenden Effekte. Zu den polarisierenden und inkludierenden Effekten von Invektivität vgl. Schwerhoff (2017) Radicalism, S. 50; des Weiteren Bremer (2005) Religionsstreitigkeiten, S. 213–221.
Welche dynamisierenden Effekte sich daraus für das Zusammenspiel von Diskursen, Gattungen und Medien ergeben, konnte hier nur angedeutet werden. Die Büchlein erproben nicht nur neue, z. B. intermediale oder diskursive Strategien, sondern orientieren auch auf die kalkulierte Nutzung und ggf. Umnutzung eines invektiven Formenrepertoires und bringen auf diese Weise neue Gattungen hervor. Unter diesem Gesichtspunkt wäre z. B. auch der sog. Reformationsdialog nochmals zu untersuchen. In jedem Fall stellen sich damit Aufgaben für künftige Analysen.
Abb. 1:
![Johannes Pfefferkorn: Der Juden Spiegel, [Nürnberg: Huber] 1507; VD16 P 2300, Titelblatt.](https://sciendo-parsed-data-feed.s3.eu-central-1.amazonaws.com/61d55dc5671b3610c035ea5c/kwg-2021-0010_fig1.jpg?X-Amz-Algorithm=AWS4-HMAC-SHA256&X-Amz-Date=20220816T031812Z&X-Amz-SignedHeaders=host&X-Amz-Expires=18000&X-Amz-Credential=AKIA6AP2G7AKP25APDM2%2F20220816%2Feu-central-1%2Fs3%2Faws4_request&X-Amz-Signature=b19834ac3ff23503ef9261608d4ef432bcbd4b64f3a35126ecf10410b6be5129)
Abb. 2:
![Johannes Pfefferkorn: Ajn mitleydliche claeg vber alle claeg, an unsern allergnedichsten Kayser und gantze deutsche Nacion, [Köln: Kruffter]1521; VD 16 P2317, Titelblatt.](https://sciendo-parsed-data-feed.s3.eu-central-1.amazonaws.com/61d55dc5671b3610c035ea5c/kwg-2021-0010_fig2.jpg?X-Amz-Algorithm=AWS4-HMAC-SHA256&X-Amz-Date=20220816T031812Z&X-Amz-SignedHeaders=host&X-Amz-Expires=18000&X-Amz-Credential=AKIA6AP2G7AKP25APDM2%2F20220816%2Feu-central-1%2Fs3%2Faws4_request&X-Amz-Signature=84139581aa7d9b53f4d8a622b73324d92334d493e150ef1cb2cad0e7822b9bde)
Abb. 3:
![Martin Luther: Widder die Bullen des Endchrists, [Wittenberg: Lotter] 1520; VD16 L 7449, Titelblatt.](https://sciendo-parsed-data-feed.s3.eu-central-1.amazonaws.com/61d55dc5671b3610c035ea5c/kwg-2021-0010_fig3.jpg?X-Amz-Algorithm=AWS4-HMAC-SHA256&X-Amz-Date=20220816T031812Z&X-Amz-SignedHeaders=host&X-Amz-Expires=18000&X-Amz-Credential=AKIA6AP2G7AKP25APDM2%2F20220816%2Feu-central-1%2Fs3%2Faws4_request&X-Amz-Signature=19993239ab8f0920ac28d8d1666e814c14ee73161fc57dfe3e8c04a5d1043aa3)
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