Seit einigen Jahren ist zu beobachten, dass in der Politik, in der wissenschaftlichen Politikberatung wie auch in den Medien unter anderem zwei Debatten zu schrumpfenden ländlichen Regionen in Deutschland teils parallel, teils konvergierend geführt werden. Zum einen geht es um die Frage, wie auf Probleme reagiert werden kann, die in dünn besiedelten, von Bevölkerungsverlusten und einer Zunahme des Anteils alter und sehr alter Menschen betroffenen ländlichen Regionen registriert werden. Zum anderen geht es um die Entdeckung einer breiten Palette von Formen des Engagements Einzelner – adressiert als „bürgerschaftlich“, „zivilgesellschaftlich“ oder „ehrenamtlich“ – für eine Gemeinschaft. Auf den ersten Blick erscheint es plausibel, die letztgenannte Debatte als Reaktion auf die erstgenannte Problemlage zu verstehen: Leistungen, die aufgrund einer abnehmenden Bevölkerungszahl, logistischer, technischer und organisatorischer (und das heißt meistens auch finanzieller) Herausforderungen weder durch ,den Markt‘ noch durch ,den Staat‘ erbracht werden, werden delegiert an ,Engagierte‘, die sich für ihre Gemeinschaft einsetzen, an deren (Fort-)Bestand ihnen etwas liegt. Diese Zuspitzung zeigt, dass durch die Parallelführung beider Debatten Formen des Engagements zunehmend im Rahmen einer instrumentellen und funktionalen Logik wahrgenommen werden: ehrenamtliches Engagement als Substitut.
Was aber wird eigentlich substituiert? Ein ,Engagement des Marktes‘, dessen Akteure keine Profitmöglichkeiten sehen? Ein ,Engagement des Staates‘, dessen Akteure keine Finanzierungsmöglichkeit sehen? Erfasst eine (primär) instrumentell-funktionale Perspektive auf Formen des nichtmarktlichen und nichtstaatlichen Engagements überhaupt den Kern dessen, was „Engagement“ für den Einzelnen und die Gemeinschaft bedeuten? Und schließlich: Wie weit trägt eine kategoriale Orientierung an der Unterscheidung von Markt, Staat und etwas ,Drittem‘? Welche neuen Rollen und neuen Positionierungsmöglichkeiten ergeben sich für den Einzelnen im Kontext einer politischen Neubewertung ehrenamtlichen Engagements? Welche Erwartungen entstehen und auf welche Weise interferieren diese mit seit Langem bestehenden Formen des Engagements von Menschen in (lokalen) Vereinen, Nachbarschaften, religiösen Gruppierungen?
Das Thema Ehrenamt in ländlichen Regionen berührt aktuell eine Vielzahl von Themenfeldern in einem Spannungsfeld von staatlicher Aufgabenerfüllung im Kontext der Daseinsvorsorge, (fehlendem) unternehmerischem Handeln und dem alltäglichen Lebensvollzug von Menschen. Eine rein instrumentelle Sicht auf dieses soziale Feld liefe Gefahr, den Blick auf dessen komplexe Zusammenhänge, die Unwägbarkeiten und Inkonsistenzen zu verlieren und somit ein unrealistisch modellhaftes Bild zu projizieren. Für dieses Schwerpunktheft sind drei Aspekte dieses breiten Feldes von besonderem Interesse:
Regionalpolitische Dimension: In der Raumordnungs- und Demographiedebatte stellt ehrenamtliches Engagement in jenen Regionen, in denen staatliche oder staatsgestützte Dienstleistungen der Daseinsvorsorge wie zum Beispiel der ÖPNV Streichungen erfahren haben, eine Ressource der Aufrechterhaltung (oder des Gegensteuerns) in regional-ökonomisch und -demographisch prekären Zeiten dar. Ehrenamtliches Engagement hat demzufolge – jenseits der Selbstwahrnehmung der Akteure – eine regionalpolitische Bedeutung.
Diskursive Rahmungen: Die Debatte wird aktuell in politischer Hinsicht häufig instrumentell übersetzt in Erwartungen an und Anerkennung von Leistungen des Einzelnen für eine Gemeinschaft. Dies bedarf einer theoretischkonzeptionellen Rahmung: Ehrenamtliches Engagement in allen vorkommenden Formen und terminologischen Rahmungen ist im Kern eine soziale Praxis handelnder Personen und damit abhängig von ihren Einstellungen, Motivationen, Gefühlslagen, ihren Ressourcen und Restriktionen. Daher ist es notwendig, ehrenamtliches Engagement als Arena von (diskursiven) Aushandlungen in familiären, regionalen wie auch supraregionalen Kontexten zu verstehen.
Raumbezogene Identifikationen: Aus der Sicht der Forschung zu regionaler Identität verweist die Literatur zudem einerseits auf den Zusammenhang zwischen ehrenamtlichem Engagement und bestehender regionaler Identität, jedoch ebenso auf dessen produktiven Beitrag zur Kreierung regionaler Identität und der, darauf aufbauend, damit ermöglichten Nutzung endogener Potenziale.
Die Beiträge dieses Heftes befassen sich mit diesen Aspekten aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Ihnen ist gemeinsam, dass sie den Subjekten des ehrenamtlichen Engagements breiten Raum geben. Ausgehend von einer kritischen Reflexion der Substitutionslösung diskutiert
Insgesamt zeigt das Schwerpunktheft, wie komplex das Feld der unter dem Begriff „ehrenamtliches Engagement“ zusammengefassten sozialen Interaktionen ist, welches erst mit Hilfe des Zusammenspiels qualitativer wie auch quantitativer Sozialforschung verstanden werden kann.