The paper examines invective text types of the 16th century by means of rhetoric-historical considerations. The central question is which invective concern is claimed on the title page and how it relates to the rest of the text. The guiding idea is that the reconstruction of the rhetorical concern is possible by means of the genera doctrine of rhetoric and that it allows to describe potential patterns of reception in order to plausibilise potential effects. The following considerations are intended to be understood as a methodological contribution to the interpretation of the potential reception of invective writings of the 16th century against the background of the argumentation strategies articulated on the title page.
Die vorliegenden Ausführungen versuchen, das Spektrum der invektiven Textsorten des 16. Jahrhunderts rhetorikgeschichtlich zu strukturieren, um methodologische Vorschläge für deren Analyse vorzulegen. ‚Invektive Textsorten‘ bezeichnet dabei im Folgenden ausschließlich die Schriften, die eine primär invektive Funktion verfolgen. Nicht berücksichtigt werden hingegen Schriften, in denen Text und Bild gemeinsam invektiv agieren. Dieser Ausschluss betrifft insbesondere die Flugblattliteratur, in der die Invektivität vom Bild ausgeht und ergänzend etwa durch Unterschriften kommentiert oder erläutert wird. Von dieser Festlegung nicht betroffen sind allerdings graphische Darstellungen in Paratexten oder Graphiken im Text, die der Argumentation erkennbar dienen. Behandelt werden also primär die Textsorten, die mittels vermeintlicher Darstellung eines Sachverhalts oder eines Geschehens invektiv agieren. Die Festlegung schließt außerdem Textsorten aus, deren primäre Funktion nicht invektiv ist. Mit diesem Hinweis sind zum einen beispielsweise literarische Textsorten angesprochen, deren primäre Funktion etwa Unterhaltung ist oder die kunstvolle Vgl. dazu zuletzt u.a. Sablotny (2019) Metalegende; Münkler (2015) Legende/Lügende; Bremer (2011) Grenzen der Vgl. dazu exemplarisch Bremer (2005) Religionsstreitigkeiten, S. 225–284.
Diese Einschränkungen erfolgen aus pragmatischen Gründen und werden faktisch der Diversität des invektiven Schrifttums im 16. Jahrhundert nicht gerecht. Vielmehr wird so verfahren, um eine ungefähre Systematisierung zu ermöglichen. Dass dieser Versuch seine Grenzen hat, zeigen die gegen Ende beispielhaft erwähnten ‚Streitpredigten‘, die einerseits klar eine invektive Funktion verfolgen und andererseits ebenso eindeutig innerhalb des kirchlichen Schrifttums eine didaktische Funktion haben. Vgl. Frymire (2010) Primacy of the Postils; Werz (2020) Predigtmodi.
Die Einschränkungen führen zugleich vor, dass die Absicht, systematisch eine Vielzahl rhetorischer Zweckformen auszugrenzen, ein frommer Wunsch, wenn nicht gar naiv ist: Schon in der frühen Reformation setzen sich Verfahren durch, die das polemische Anliegen einer Schrift zu verschleiern versuchten und/oder ihren Verfasser als neutralen Beobachter oder als legitimen Richter auszuweisen, um eigene Parteilichkeit zu verbergen und Deutungshoheit zu gewinnen. Vgl. Bremer (2020) Emsers und Luthers Streit.
Wohl kein anderes Wort ist als Oberbegriff für invektive Textsorten besser geeignet als das Wort ‚Streitschrift‘. Allenfalls ähnlich weit verbreitet scheint das Wort ‚Polemik‘. Da es bekanntlich aber ein Doppelbegriff ist, der sowohl die Textsorte als auch den in ihr dominierenden Stil bezeichnen kann, wird ‚Polemik‘ in den folgenden Überlegungen nicht berücksichtigt. Die Ausführungen in diesem Kapitel 1 wiederholen zum Teil Überlegungen, die der Verf. bereits an anderer Stelle formuliert hat; vgl. Bremer (2009) Streitschrift. Vgl. Barner (2000) Was sind Literaturstreite. Die Frage, wann ein Initialtext invektiv wirkt und wann nicht, kann nicht vorab mit Sicherheit beantwortet werden, weil „Effekte des Invektiven als kontingent angesehen werden müssen und sich der Planbarkeit entziehen“: Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. 2017, S. 15.
Das reaktive Moment hat auch die linguistische Streitforschung hervorgehoben. Gloning hat Streitschriftenwechsel mit den Methoden der historischen Dialoganalyse untersucht und reaktive Streittechniken wie Antworten, Refutieren oder Negieren dargestellt. Gloning (1999) Pragmatic Form of Religious Controversies. Darauf aufbauend: Glüer (2001) Moves and Strategies. Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. 2017, bes. 3.2.
Zur historischen Rahmung des invektiven Anliegens sind Rekonstruktionen der angesprochenen (Teil-)Öffentlichkeiten, in denen sich der Streit ereignet, der Streitgegenstand und die Adressaten erforderlich. Dabei sollte mit Stenzel Stenzel (1986) Rhetorischer Manichäismus. Vgl. Goffman (1967) Stigma. Vgl. Barner (2000) Was sind Literaturstreite.
Die Rhetorik macht um invektive Schreibweisen gerne einen Bogen, obwohl sie ihr selbstverständlich nicht unbekannt sind. Trotzdem finden sich nur selten Hinweise auf polemische Verfahren in den rhetorischen Lehrbüchern der Frühen Neuzeit. Vgl. Braungart (1992) Zur Rhetorik der Polemik. Vgl. Lundström (2015) Polemik in den Schriften Melchior Hoffmanns. Vgl. Barner (1970) Barockrhetorik. Vgl. Steinbrink/Ueding (1994) Grundriß der Rhetorik, S. 256f. Vgl. Steinbrink/Ueding (1994) Grundriß der Rhetorik, S. 256.
Im Sinne der antiken Rhetorik ist die Tadelrede Die Ausführungen in diesem Kapitel 2.1. wiederholen z.T. Überlegungen, die der Verf. an anderer Stelle formuliert hat; vgl. Bremer (2009) Tadelrede.
Faktisch entstehen zwei Varianten der Tadelrede. Zunächst gibt es bei Quintilian progymnastische Redeübungen, die neben den Erzählübungen am Anfang der rhetorischen Ausbildung stehen. Sie sind eine nicht-argumentierende Redeform, die als leicht zu erlernen gilt. Auch wird ihr attestiert, sich zur sprachlichen Bildung junger Menschen besonders gut zu eignen, weil die Rhetorikschüler mit ihr als Erziehungsrede vertraut sind. Von dieser pädagogischen Variante ist die Tadelrede abzugrenzen, die sich an Adressaten wendet, die gesellschaftlich als gleichberechtigt gelten. Diesen Umstand berücksichtigend, wird im Lateinischen seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. auch nicht mehr nur von Vgl. grundlegend Neumann (1998) Invektive.
In der Nicht zu vergessen ist, dass den theologischen Autoren des 16. Jahrhunderts und auch anderen gelehrten Schriftstellern neben den antiken Hinweisen zur Tadelrede ein zweiter, regelrechter Wohlfeil (1984) Reformatorische Öffentlichkeit.
Begriffsgeschichtlich ist von Bedeutung, dass im Deutschen der lateinische Begriff Vgl. Robling (2009) Vir bonus.
These der vorliegenden Überlegungen ist, dass die Tadelrede zu Beginn der Neuzeit einen Aufschwung erfährt, der der Intensivierung kritischer Sprechweisen seit dem Humanismus geschuldet sein dürfte. Zeigen ließe sich das beispielsweise an Erasmus’
Diese Hinweise erklären den erwähnten Umstand, dass sich im VD 16 einerseits keine Schriften finden, die sich selbst als ‚Tadelbuch‘, ‚Schmähschrift‘ oder ‚Famos-Libel‘ bezeichnen, andererseits gegnerischen Schriften regelmäßig vorgeworfen wird, sie seien Tadelreden (bzw. ‚Schmäh- oder Famosschriften‘). Durch die Verankerung der Rhetorik in der akademischen Ausbildung sind die meisten Autoren des 16. Jahrhunderts mit der ‚Schattenseite‘ des Vgl. Bremer (2005) Religionsstreitigkeiten, S. 213–221.
Mit diesem Hinweis ist zugleich die Überleitung zu den beiden anderen rhetorischen
Zumindest dem Titel nach dürften die meisten invektiven Textsorten des 16. Jahrhunderts dem Vgl. Bremer (2005) Religionsstreitigkeiten, S. 134–140. Vgl. Paintner (2011) Des Papsts neue Creatur.; vgl. ergänzend auch Niemetz (2008) Antijesuitische Bildpublizistik. DIeweil durch Gottes Gnad die Lehr deß H. Euangelij in der Christenheit ettliche Jar widerumb rein vnd vnuerfelscht gepredigt/ […]/ Hat der laidig Sathan wol gesehen/ daß sollichs zu vndergang vnd verstörung seines Reichs gerhaten wölle. […] Zu disem seinem verderblichen fürnemen hat er ein newen Orden vor ettliche jaren gestifftet/ […]/ die sich Jesuiter/ oder auß der gesellschafft Jesu/ fälschlich nennen. Osiander (1568) Warnung, S. 1f.
Dieses Beispiel führt vor, warum derart viele Streitschriften des 16. Jahrhunderts dem Titel nach dem
Diese Diskrepanz wird insbesondere deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass im 16. Jahrhundert vielfach heute kaum mehr bekannte Textsorten erprobt wurden, die entschieden ihren Beratungsanspruch artikulieren, indem sie das Moment der ‚Entscheidung‘ ( Die folgenden Ausführungen in diesem Kapitel wiederholen z.T. Überlegungen, die der Verf. an anderer Stelle publiziert; vgl. Bremer (2021) Entscheidungstraktate. Vgl. außerdem Schicker (1994) Entscheidung.
Veranschaulichen lässt sich diese Ambivalenz mittels eines Buchs von Julius (von) Pflug. Er war der letzte Bischof von Naumburg und eine anerkannte Kapazität der alten Kirche, Teilnehmer an verschiedenen Religionsgesprächen und dem Trienter Konzil. Er starb 1564 in Zeitz, posthum erschien in Köln seine Schrift Auß diesem kurtzen Bericht/ hat mennigklich zu ermessen/ das die Augspurgische Confession/ nicht allein vnnöthig/ sondern auch sorglich vnnd nachtheilig/ weil sie mit so vilen groben irrsaln vnnd Gottes Wort/ vnnd der alten waren Christlichen Religion nicht allein vngemeß/ sondern auch widerwertig. Pflug (1571) Gründtlicher vnd Christlicher Bericht.
Pflug nimmt das Titelwort ‚Bericht‘ auf. Dabei zeigt sich, dass diese Textsortenbezeichnung eine stilistische Dimension hat. Die Polemik gegen die So versteht Zedler rund 150 Jahre später unter einem ‚Bericht‘ Nachrichten, die „die wahre Beschaffenheit einer Sache an den Landes=Herrn oder das höhere Gericht berichten.“ Zedler (1733) Bericht, S. 671.
So veröffentlichte der Jesuit Georg Scherer 1583 die Scherer (1583) Newe Zeytung; die folgenden Hinweise zu diesem Text bauen auf den Überlegungen des Verfassers in (2005) Religionsstreitigkeiten, S. 45–48 auf. Grundlegend Wendebourg (1986) Reformation und Orthodoxie.
Wie eingangs dargestellt, ist ein wichtiger Unterschied zwischen dem Vgl. dazu exemplarisch Bremer (2004) Umorientierung in der Kirchengeschichtsschreibung; Stader/Traninger (2016) Unparteilichkeit.
Das Beispiel, an dem das veranschaulicht werden soll, ist die 1573 veröffentlichte Schrift Frank (1573) PRODROMVS oder Vortrab.
Wie wenig aber letztlich diese Selbstbeschreibung durch das Titelblatt eine Selbstverpflichtung ist, führt ergänzend der Blick auf die beiden primären Titel-Begriffe
Berücksichtigt man bei dieser Analyse des Titelblatts zudem, dass Francks Buch eines der ersten ist, das sich selbst explizit als „streitschrifft“ Frank (1573) PRODROMVS oder Vortrab, fol. 56r. Barner (2000) Spielräume. Vgl. etwa Eisengrein (1575) Streittpredig.
Die vorliegenden Überlegungen führen damit zudem vor, dass eine systematische Typologie invektiver Textsorten für das 16. Jahrhundert kaum entwickelt werden kann. Das ist dem Umstand geschuldet, dass Streitschriften nicht nur Ausdruck eines Streits mit einer Oberflächen- und einer Tiefenstruktur sind (wie Barner bereits für Literaturstreite erklärt hat), sondern dass ihnen zudem eine mehrfache, durchaus widersprüchliche Aussagestruktur eigen ist. Dabei gilt es, sich zu vergegenwärtigen, dass die durch den Titel artikulierte Aussage keine zuverlässigen Rückschlüsse auf die Intention des Verfassers oder die Funktion des Textes erlaubt, sondern in erster Linie dazu genutzt werden kann, um die potentielle Rezeption zu beschreiben. Die im Titel auf der Grundlage der rhetorischen
Ars invectiva und artifizielle Mündlichkeit: Schmähungen in Rom zwischen Schulbuch und scheinbarer SpontaneitätÜber artivistische Interventionen. Invektivität, Medien, Moral Brüche einer Gattungsgeschichte. Karikatur zwischen Massani und Sulzer Wutreden und andere invektive Gattungen zwischen Rekonstruktion und Aneignung Das Pasquill im frühneuzeitlichen Deutschland. Ein Kommunikationsmedium zwischen Schmähung und Kritik Die Satire als invektive Gattung ‚Rasse‘ – zur sprachlichen Konstruktion einer Ausgrenzungsstrategie Invektive Affordanzen der Kommunikationsform Flugschrift Invective Form in Popular Media Culture: Genre – Mode – Affordance Framing in den innerevangelischen Kontroversen (1548–1580). Die Verwendung von Schimpfworten im Kampf um die Deutungshoheit innerhalb der reformatorischen Lehre in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Die deutsche Bildparodie im 16. Jahrhundert. Ihre Anfänge, Formen und Funktionen Inhalt „Das mustu gleuben, oder der Teufel bescheisset dich.“ Die invektiven Paratexte der protestantischen Lügenden und ihre gattungskommunikative Funktion Einige Grundüberlegungen zum Konzept und zur Reichweite invektiver Gattungen Invektive Anliegen. Wirkungs- und rhetorikgeschichtliche Überlegungen zur Streitschriften-Literatur des 16. Jahrhunderts „Wie ist das denn in deinem Heimatland?“ Kommunikative Muster invektiver Kulturvergleiche im Orientierungskurs