This paper deals with ‘Wutreden’ (rants) as an invective genre in digital media. It is argued that the generic aspects of rants are not due to the formal and functional features of the speech events alone, but should be described as the result of the practices of doing genre. Digital media with its affordances to recontextualization and serialization allow to reframe disparate speech events as instances of one generic scheme. As a result, the emerging concept of rants as a genre enables the production of new instances. In order to grasp this genre in the making, a discursive concept of genre is needed, which then can also be applied to other invective genres such as shitstorms and hate facts.
Thema des vorliegenden Aufsatzes ist die Frage nach der Ausbildung und Transformation invektiver Gattungen oder, etwas präziser formuliert, die Frage danach, wie insbesondere im Kontext digitaler Medien invektive Dynamiken durch sich herausbildende Gattungen geordnet und umstrukturiert werden. Empirischer Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung, dass in den letzten Jahren immer häufiger Redeereignisse eines bestimmten Typs mediale Aufmerksamkeit erlangen und dabei als „Wutreden“ bezeichnet werden. Damit einher geht aber auch eine zunehmende Subsumierung verschiedenster Redeereignisse unter diesen Terminus. Noch vor zwanzig Jahren haben nur Fußballtrainer Reden gehalten, die als „Wutreden“ bezeichnet worden sind; besonders prominent natürlich Giovanni Trapattoni in seiner berühmten Pressekonferenz im Jahr 1998, die mit ihren Formulierungen wie „Flasche leer“ oder „Was erlaube Strunz“ längst in das allgemein verfügbare Schimpfinventar übergegangen ist. Inzwischen halten aber auch Politiker wie Christian Lindner oder Cem Özdemir ‚Wutreden‘, und auch der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki und – wenn man den Schlagzeilen Glauben schenken mag – sogar Papst Franziskus haben sich als Wutredner hervorgetan. Tsp/rtr/epd/KNA (2014) Wutrede von Papst Franziskus. o.V. (2019) Thunberg hält Wutrede bei UN.
Mit dem Ausdruck ‚Wutrede‘ liegt also eine Ethnokategorie zur benennenden Klassifizierung verschiedenartiger, invektiv konturierter Redeereignisse vor. Diese Kategorie ist Produkt und Vollzugsform einer Typisierungspraxis, wie sie in neueren linguistischen Forschungen typischerweise auch für wissenschaftliche Textsorten- und Gattungstypologien den Ausgangspunkt bildet. Habscheid (2011) Das halbe Leben, S. 14–17. Reisigl (2014) Gattung; Knoblauch/Schnettler (2010) Sozialwissenschaftliche Gattungsforschung.
Ein solcher rezeptionsorientierter Gattungsbegriff hat sich besonders in neueren gattungstheoretischen Forschungen zu digitalen und sozialen Medien als hilfreich erwiesen. Lomborg (2011) Social Media. Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivität, S. 6.
Im Folgenden werde ich zunächst darstellen, was man unter Wutreden versteht (2) und inwiefern man Wutreden als invektive Gattung beschreiben kann (3). Die sich hier auftuenden Probleme werde ich dann zum Anlass nehmen, einen rezeptions- und diskursorientierten Gattungsbegriff zu entwickeln, der über die Gattungsexemplare hinaus vor allem Praktiken des
Im zeitgenössischen Sprachgebrauch werden als Wutreden typischerweise öffentliche Reden bezeichnet, meist von Funktionsträgern wie Trainern oder auch Politikern (und übrigens kaum je von Trainerinnen oder Politikerinnen), in denen diese in emotionaler Weise und meist spontanimpulsiv Kritik üben. Diese Kritik kann an das anwesende Publikum oder auch an abwesende Dritte adressiert sein. Sie richtet sich aber immer gegen Personen und nicht etwa gegen Strukturen oder Artefakte und hat nicht zuletzt wegen der meist derben Stillage invektives Potenzial.
Das Wort ‚Wutrede‘ wurde von Redakteur*innen der BILD-Zeitung in der Berichterstattung über Giovanni Trapattonis bereits erwähnte Pressekonferenz im Jahr 1998 geprägt, in der der italienische Trainer die Spieler der von ihm betreuten Mannschaft für mangelnde Disziplin öffentlich gerügt hatte. Das Wort blieb für die ersten Jahre gleichsam metonymisch an genau dieses Redeereignis gebunden, bis im Jahr 2003 der damalige Fußballbundestrainer Rudi Völler in einem berühmt gewordenen spielanschließenden Interview die TV-Experten Günther Netzer und Gerd Delling heftig angriff. Auch dieses Interview wurde in vielen Zeitungen als ‚Wutrede‘ bezeichnet. Seitdem nimmt die Verwendung des Wortes in deutschsprachigen Zeitungen stetig zu, wie sich etwa in einer Recherche in den Pressearchiven des Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) zeigen lässt. Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (2020) Deutsches Referenzkorpus. Weiß (2005) Thematische Erschließung von Sprachkorpora.
Betrachtet man nun die als Wutreden bezeichneten Redeereignisse genauer, fällt auf, dass damit mitnichten nur Reden im engeren Sinne des Wortes, also zu einem bestimmten Anlass vorbereitete und vor Publikum monologisch vorgetragene Reden bezeichnet werden. Schon das für die Wutrede prototypische Setting der Pressekonferenz ist durch eine grundlegende Frage-Antwort-Struktur charakterisiert und mit Radio- und TV-Interviews sind sogar genuin dialogische Formate vertreten. Auch heimlich mitgeschnittene Wutausbrüche, die überhaupt nicht vor größerem Publikum stattfanden (prominente Beispiele haben etwa der Fußballtrainer Claus-Dieter Wollitz und der Politiker Winfried Kretschmann geliefert), wurden als ‚Wutreden‘ verbreitet. Schon allein wegen der Vielfalt der Redeereignisse und -anlässe findet die Wutrede in klassisch rhetorischen Gattungstypologien, die etwa mit der polemischen Gattung der Invektive Koster (1980) Invektive; Neumann (1998) Invektive. Vgl. außerdem Pausch in diesem Band. Pichl (1998) Iracundia.
Gegenüber der klassischen Rhetorik und der engen Orientierung ihrer Typologisierungen am Modellfall der vorbereiteten Rede vor Publikum sind neuere Gattungstheorien weniger strikt und fassen Gattungen als „mehr oder weniger normierte, aber historisch variable Bündelungen familienähnlicher Konstellationen von formalen und funktionalen Elementen […], zu denen sich Einzeltexte mehr oder weniger prototypisch verhalten.“ Reisigl (2014) Gattung. Ayaß (2011) Kommunikative Gattungen. Eine vergleichbare Position nimmt aus literaturwissenschaftlicher Sicht Voßkamp ein, wenn er Gattungen als sinnstiftende Konstellationen definiert, „in denen […] bestimmte historische Problemstellungen bzw. Problemlösungen oder gesellschaftliche Widersprüche artikuliert und aufbewahrt sind.“ Voßkamp (1977) Gattungen, S. 32. Miller (1984) Genre as social action, S. 155.
Auf der Grundlage eines Datenkorpus von insgesamt 30 Wutreden (d.h. Videomit- und -zusammenschnitten von Reden, die in der Berichterstattung als solche bezeichnet wurden) im Umfang von 2:10 Stunden und in transkribierter Form von rund 20.000 Wörtern können folgende Merkmale einer prototypischen Wutrede herausgearbeitet werden, wobei der Prototypik entsprechend einzelne Exemplare mehr oder weniger stark davon abweichen können: Meier (2016) Wutreden, S. 44–51. Burger/Luginbühl (2014) Mediensprache, S. 21. Dies erinnert an die auf Aristoteles zurückgehende und die europäische Literaturgeschichte grundlegend prägende Theorie des Zorns (orgé) als „ein mit Schmerz verbundenes Streben nach einer vermeintlichen Vergeltung […] für eine vermeintliche Herabsetzung“ Aristoteles (2002), Rhetorik, Abs. 1978a. Vgl. Lehmann (2019) Zorn und Wut, S. 180. Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivität, S. 13. Vgl. hierzu auch Pausch in diesem Band.
In der Interaktionslinguistik, die ganz in diesem Sinne von der grundlegenden Interaktivität und Prozessualität von mündlicher Kommunikation ausgeht, Deppermann (2008) Gespräche analysieren, S. 8f. Spiegel (2011) Streit, S. 231f.
Eine interessante Eigenart von Wutreden, die abermals auf ihren responsiven Charakter verweist, sind auch die vielen direkten Redewiedergaben gerade der als unangemessen dargestellten Kritik von anderen. Die Redewiedergaben selbst sind meist prosodisch auffällig markiert, überzeichnen so die wiedergegebenen Sprechenden und geben sie ihrerseits der Lächerlichkeit preis. Günthner weist in ihrer Analyse von Redewiedergaben im Gespräch darauf hin, dass solche Stilisierungen „die Rezipierenden zur gemeinsamen Verurteilung des porträtierten Verhaltens ein[laden]“. Günthner (2002) Stimmenvielfalt im Diskurs, S. 66. Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivität, S. 10.
Der emotional aufgeladene Charakter der Wutreden zeigt sich auch an anderen oberflächensprachlichen Merkmalen. Prosodisch fällt zuvorderst die oft erhöhte Lautstärke auf, aber auch das von Fiehler beschriebene „insistierende Iterieren“ Fiehler (1993) Grenzfälle des Argumentierens, S. 161. Sell (2019) The Evolutionary Psychology of Anger, S. 179.
Obwohl sich Wutreden in dieser Weise als Bündelungen inhaltlicher, formaler und auch funktionaler Merkmale beschreiben lassen, führen derartige Beschreibungsansätze in diesem besonderen Fall nicht weiter. Das liegt weniger daran, dass nur ein Teil der Wutreden die beschriebenen Merkmale aufweist, zumal diese abgestufte Relevanz der Gattungsmerkmale durch die angenommene prototypische Struktur der Gattungen schon aufgefangen wird. Günthner/Knoblauch (1994) Forms are the food of faith, S. 705.
Ein solcher rezeptionsorientierter Gattungsbegriff ist etwa in der Rezeptionsästhetik mit ihrem Begriff des Erwartungshorizontes Jauß (1977) Theorie der Gattungen, S. 330. Hanks (1987) Discourse genres. Briggs/Bauman (1992) Genre, Intertextuality, and Social Power, S. 147.
In Anbetracht der Tatsache, dass Wutreden vor allem über digitale und Soziale Medien weiterverbreitet werden, ist ein solcher rezeptionsorientierte Gattungsbegriff besonders attraktiv. In diesen medialen Settings lassen sich vielfältige Praktiken der Neueinbettung, der Rekombination und der Rekontextualisierung von Diskursfragmenten beobachten, welche die ursprünglichen kommunikativen Zwecke dieser Fragmente tendenziell suspendieren. Meier/Viehhauser (2020) Rekontextualisierung, S. 6f.; Jones (2018) Surveillant media, S. 252; Krieger/Machnyk (2019) Das Internet ist für alle Neuland.
Eigens für den Anwendungsfall der Sozialen Medien hat Lomborg einen Gattungsbegriff vorgeschlagen, der ganz in diesem Sinne die metadiskursiven Bezugnahmen der Kommunizierenden und die hierdurch an die eigentlichen Texte herangetragenen Normen in den Fokus rückt:
[…] genre can be studied and analysed within an interactionist framework focusing on how users ‘do’ genre – that is, on how users accomplish meaningful communication by bringing interactional norms, conventions and tacit genre knowledge into play in the communicative process, and on how they demonstrate genre skills. Lomborg (2011) Social Media, S. 68.
Die Formulierung „how users ‚do‘ genre“ erinnert an die ethnomethodologische Doing-Terminologie, wie sie etwa im gendertheoretischen Ansatz des West/Zimmerman (1987) Doing Gender, S. 125; Goffman (1977) The Arrangement between the Sexes, S. 324. Vgl. hierzu auch Kanzler (in diesem Band), die ebenfalls den Zugang zu Genres und Genredefinitionen über textinhärente Eigenschaften ( Meier/Marx (2019) Doing genre.
Empirische Belege für solche Praktiken des Bitz (2014) Wutrede von Steinmeier wird zum Hit bei YouTube. Thomys (2018) Özdemirs Wutrede sorgt für Begeisterung. Pflaeging (2020) Diachronic perspectives. Brauer (2015) Wutredner und Choleriker.
Im Übrigen leistet schon die Bezeichnung ‚Wutrede‘ selbst durch ihre Semantik einen Beitrag zur metapragmatischen Rahmung, indem durch das Zweitglied ‚-rede‘ auch bei eigentlich dialogischen Settings vor allem der monologisch-performative Charakter der Redeereignisse hervorgehoben und geradezu ein Brokoff/Walter-Jochum (2019) Verachtung und Hass aus literaturwissenschaftlicher Sicht.
Eine weitere Praktik des o.V. (2014) Heißsporn Gattuso macht den Trappatoni. Lomborg (2011) Social Media, S. 62. Die Äußerung war im inzwischen deaktivierten Kommentarbereich zu diesem Artikel zu finden: Hiippala/Tseng (2017) Media evolution.
Man muss also zwischen den ursprünglichen Redeereignissen selbst und den medial rekontextualisierten, meist serialisiert präsentierten und damit auch metapragmatisch neu gerahmten Aufzeichnungen dieser Redeereignisse unterscheiden. Erst auf dieser zweiten Stufe werden sie aktiv in einen Gattungszusammenhang gestellt, und nur in Bezug auf diese medial rekontextualisierten Ereignisse ergibt die Rede von Wutreden als Gattung überhaupt Sinn. Das hat der amerikanische Blogger Travis Timmons im Übrigen klar erkannt, wenn er in einem Artikel „Wutrede Hall of Fame: Giovanni Trapattoni, the Original“ Timmons (2018) Wutrede Hall of Fame.
Der gattungsanalytische Perspektivenwechsel von den ursprünglichen Redeereignissen hin zu ihren medialen Rekontextualisierungen liefert dann auch Erklärungsmöglichkeiten für den eingangs beschriebenen Anstieg in der Häufigkeit von Wutreden. Öffentliche Wutausbrüche als solche sind ja mitnichten ein neues Phänomen. Aber das Internet und insbesondere die Sozialen Medien schaffen mit ihren Affordanzen der ‚persistence‘, ‚spreadability‘ und ‚visibility‘ Boyd (2014) It’s complicated, S. 11. Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivität, S. 6.
Das Gattungswissen über die Wutreden, wie es sich in den beschriebenen Praktiken des Jetzt möchte ich mal in aller Deutlichkeit was sagen: Mir reicht es! Wirklich! Wenn ich den Namen ______ ( Kuhlhoff (2017) „Da kotze ich doch im Strahl“ – Wie sieht die perfekte Wutrede aus?
Auch paraverbale sowie gestische und mimische Anweisungen wie etwa Schnaufen vor Wut, krachend auf den Tisch hauen und ein starrer Blick finden sich in dem Text, der deutlich macht, wie sehr sich die Gattungserwartungen an Wutreden bereits konsolidiert haben. Interessanterweise rückt gerade in dieser fingierten Wutrede, die als besonders verdichtetes Beispiel gesehen werden kann, vor allem ihr invektiver Charakter, die persönlich herabsetzende und affektiv grundierte Kritik
Auf YouTube und Facebook finden sich aber neuerdings auch Fälle, in denen einzelne Nutzer*innen ganz gezielt auch ausdrücklich als solche bezeichnete Wutreden produzieren, als geplante und für die Videokanalabonnenten inszenierte Wutausbrüche und Schimpftiraden. So beschimpft ein Fan den Trainer des von ihm favorisierten Vereins als „Absturztrainer“ und „Witz-Lauch-Typen“, der so „dumm, behindert, gehirnamputiert“ sei, dass er „wenn überhaupt“ für die „Bezirksliga“ geeignet sei.
Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch ein selbstproduziertes YouTube-Video der ehemaligen Pegida-Aktivistin Tatjana Festerling mit dem Titel „Wutrede: Es geht ums Überleben – tut endlich was!“. [0:05 – 1:29] Hallo ich lebe inzwischen nicht mehr in Deutschland das ermöglicht mir einen Blick mit Abstand und ich muss sagen was ich sehe ich könnte kotzen ich könnte kotzen über sag mal kriegt ihr überhaupt noch emp um euch passiert oder versucht ihr das alles nur noch irgendwie mit dem Verstand zu abstrahieren und euch an irgendwelche komischen schalen Illusionen an irgendwelche Gedanken zu klammern wird schon nichts passieren es is noch immer jot jejangen oder ach der Kelch geht schon an uns vorbei n gar nichts geht an euch vorbei Himmelherrgott fangt endlich an wirklich erwachen erwacht endlich und fangt nicht immer an im Verstand alles irgendwie zu rationalisieren Polizisten werden stranguliert Frauen sollen nicht mehr alleine joggen gehen was ist denn das bitteschön für ein ist doch n lach lachhaft weil Kinder werden in den Schulen drangsaliert zusammengeschlagen abgezogen ja wir schützen noch nicht mal unsere Kinder was ist denn das für ne be die sich nicht mehr um ihre Nachkommen kümmert […]
Bemerkenswert an dieser ‚Wutrede‘ ist die normativ unterlegte und durch den ganzen Auftritt einschließlich der Mimik auch performativ inszenierte Gegenüberstellung von ‚Verstand‘ und ‚Gefühl‘, von Rationalisierungsversuchen und dem Spüren der Verzweiflung – eine Gegenüberstellung, die in deutlicher Parallele zum Typus des ‚Wutbürgers‘ dann auch die eigene Wut legitimiert und geradezu als Zustand der Erweckung erscheinen lässt. Und so ist die vorgetragene Kritik, obwohl sie in der zweiten Person Plural vorgetragen wird, wohl auch nur zum Schein an die Kanal-Abonnent*innen adressiert. Eher ist sie an die Mehrheitsgesellschaft gerichtet, welche die angeblichen Missstände in Deutschland nicht wahrnehmen will.
Rein formal finden sich Parallelen zu den herkömmlichen Wutreden, wie sie auf YouTube zirkulieren. Die insistierenden Wiederholungen, das vulgäre Vokabular, das überartikulierte Sprechen in erhöhter Lautstärke und die typische Mimik verbinden Festerlings Wutrede etwa mit der von Uli Hoeneß, sind hier aber bis ins Detail geplant. Die Wut wird ganz gezielt als solche inszeniert und, anders als bei den Fußballfans, wo der Unterhaltungscharakter im Vordergrund steht, ist die ganze Inszenierung Teil einer agitatorischen Strategie, die Wut zum politischen Programm macht. Ähnlich wie bei Donald Trump und seinen affektgesättigten Auftritten on- und offline wird Wut zur Leitemotion der öffentlichen Selbstinszenierung und zielt dabei auf die „Schaffung exklusiver Solidarität“. Koch/Nanz/Rogers (2020) The Great Disruptor, S. 7.
Derartige Formen der Aneignung der Kategorie ‚Wutrede‘ zeigen, dass der Diskurs
Die eben nachgezeichnete Wendung von der Rezeption hin zur Produktion über die bewusste Aneignung einer primär rekonstruktiven Kategorie wird am Beispiel der Wutrede zwar besonders deutlich, lässt sich in ähnlicher Form aber auch an anderen Fällen aufzeigen, in denen sich Formen herabsetzender Rede zu Gattungen verdichten.
Zu nennen wäre etwa die Kategorie des Shitstorms, welche kollektive und allein schon deshalb höchst disparate Diskursereignisse rekonstruktiv ordnet. Das Neologismenwörterbuch OWID definiert Shitstorm als „unkontrollierte[n] virtuelle[n] Sturm der Entrüstung als Reaktion auf die Äußerung einer bekannten Person in Form von massenweise versendeten beleidigenden und bedrohlichen E-Mails oder Facebook-Nachrichten, der von den Medien aufgegriffen wird“. Meier/Marx (2019) Doing genre, S. 205; Marx (2019) Von Schafen im Wolfspelz, S. 146.
Neuere Entwicklungen zeigen nun, dass sich Akteure diese retrospektive und typischerweise anklagende Kategorisierung selbst zu eigen machen können. So wird das Verb Gogl/Lebersorger (2016) Shitstormen auf Österreichisch #oidaRP.
Eine andere Form der Aneignung zeigt sich dagegen in einem Facebook-Post des Grünen-Politikers Boris Palmer, in dem er einen Screenshot der Startseite der Deutschen Bahn, auf dem Fahrgäste verschiedener ethnischer Hintergründe abgebildet sind, postet und mit folgendem Kommentar versieht:
Der shitstorm wird nicht vermeidbar sein. Und dennoch: Ich finde es nicht nachvollziehbar, nach welchen Kriterien die „Deutsche Bahn“ die Personen auf der Eingangsseite ausgewählt hat. Welche Gesellschaft soll das abbilden?
Durch seine abschließende Frage scheint Palmer zu insinuieren, dass die Bebilderung der DB-Homepage einer identitätspolitischen Agenda folge, die in einer Überbetonung von Multikulturalität den eigentlichen ethnischen Charakter der deutschen Gesellschaft in den Hintergrund rückt – eine implizit rassistische Position, die so auch von rechtsextremen Akteuren wie der Identitären Bewegung vertreten wird. Bruns/Glösel/Strobl (2017) Die Identitären; Boehnke (2019) Rechter Kulturkampf heute. Niehr/Reissen-Kosch (2018) Volkes Stimme?, S. 127. PS: Eine Stunde später tobt der Shitstorm. Wie vorhergesehen. Alle, die mich jetzt fragen, warum ich dieses Thema aufgreife, frage ich zurück: Wenn die Auswahl dieser Bilder vollkommen belanglos, normal, unbedeutend ist, warum regt ihr euch dann so auf? Was wir hier diskutieren, ist Identitätspolitik. Und zwar von Recht [sic!] wie Links. Die einen sagen, man wisse nicht mehr, in welchem Land man lebt, die anderen bekämpfen alte weiße Männer. Und gemeinsam haben die Identitätspolitiker es ziemlich weit damit gebracht, uns zu spalten.
Die Formulierung „tobt der Shitstorm“ rahmt die in den Kommentaren vorgebrachte Kritik als ein blindes Wüten, das rationalen Argumenten kaum zugänglich ist, so wie auch die Frage „warum regt ihr euch dann so auf?“ kritische Kommentare als unbegründet zurückweist. Nicht der eigene Rassismus erscheint hier als das Problem, sondern seine Thematisierung, welche ‚uns‘ spalte. Zwar finden sich tatsächlich zahlreiche beleidigende und verhöhnende Kommentare, wenn Palmer etwa „verbaler Brechdurchfall“ attestiert wird. Dass aber viele der Kommentare sehr wohl ihre Kritik begründen, wird dabei ebenso ausgeblendet wie die vielen Kommentare, die sich um Vermittlung bemühen oder gar ausdrücklich unterstützend argumentieren. Die Kategorisierung als ‚Shitstorm‘ hat angesichts des sehr ausdifferenzierten kommunikativen Geschehens in den Kommentaren ordnende und akzentuierende Kraft und das
In eine ähnliche Richtung zielt der in Political Correctness-kritischen Kontexten etablierte Begriff der ‚Hate Facts‘ im Sinne von angeblich tabuisierten Wahrheiten, die aus der Perspektive des Mainstream-Diskurses als ‚Hate Speech‘ kategorisiert würden. Der rechtskonservative Blog Hate facts are truths that must not be spoken among the intelligentsia any more because doing so could offend some “protected” group. Academics (and anyone else who wants to survive in the public realm) learn to steer a safe course away from hate facts. Leef (2014) Hate Facts.
Auch Hate Speech ist zuvorderst eine rekonstruktive Kategorie, die sich nicht zuletzt in den Sozialen Medien durch metadiskursive Thematisierungen diskriminierender Rede in den und außerhalb der digitalen Medien etabliert hat. Der Terminus ‚Hate Speech‘ selbst ist dabei typischerweise „nicht Teil des sprachlichen Materials […], das er kategorisiert“. Marx (2017) Rekontextualisierung von Hate Speech, S. 132. Auer (2002) Political Correctness.
Wie nun gerade die Rede von Hate Facts diese vermeintliche Widerstandshaltung diskursiv umsetzt, lässt sich an der folgenden Passage aus Nils Wegners Editorial zur neurechten Zeitschrift Der Autor dieser Zeilen stellt die akademischen Ikonoklasten vor, die Aktivisten gegen Multikulturalismus-, Vielfalt- und Schmelztiegellügen auf der ganzen Welt mit (wie man heute so „schön“ sagt) Wegner (2017) Sezession, S. 79.
Die hier ganz offen vorgebrachte biologistischrassistische Anschauung einer „Human biodiversity“, welche die „natürlichen Unterschiede zwischen ethnischen […] Gruppen“ verteidigt, aber auch die Verächtlichmachung von Minderheitenschutzprogrammen und ihren Subventionen werden hier als ‚Hate Facts‘ eingeordnet. Im Vorgriff auf die erwartbare Stigmatisierung solcher Positionen als Hass, die aber nur um den Preis „fortlaufende[n] Ignorieren[s] und Wegdiskutieren[s]“ zu haben sei, werden sie als der Wahrheit verpflichtete Positionen in einer Welt der Lügen legitimiert. Meier (2020) Selbstlegitimationen von Hate Speech, S. 140 Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivität, S. 13.
Die in diesem Beitrag eingenommene Perspektive auf invektive Gattungen zeigt zum einen, wie die im Konzept der Invektivität so zentral gesetzten Anschlusskommunikationen und Deutungsmodi in einem diskurs- und rezeptionsorientierten Gattungsverständnis eingefangen werden können. Zum anderen veranschaulichen die besprochenen Fälle durch die prozessorientierte Perspektive auf Gattungskonstruktionen und -aneignungen auf empirisch detaillierte Weise, wie vielfältig die Deutungsmöglichkeiten von Invektiv-Geschehen sein können, wie sie sich zu Erwartungshorizonten verdichten und später auch produktive Aneignungen ermöglichen. Gerade in den digitalen und Sozialen Medien, wo Rezeptionszeugnisse verschriftlicht und dauerhaft sichtbar sind, lassen sich diese Prozesse präzise nachvollziehen, und die dort herrschenden medialen Bedingungen sind sicherlich prägend für die Ausbildung der hier diskutierten invektiven Gattungen.
Die diskutierten Beispiele repräsentieren dabei verschiedene Etappen oder auch Grade der Gattungskonstruktion. Bei der Wutrede ist sie schon weit fortgeschritten und durch den monologischen Charakter der Wut
Von den klar umrissenen und in detaillierten Gattungstaxonomien verorteten Gattungen, wie sie etwa in der Literaturwissenschaft typischerweise diskutiert werden, sind alle hier diskutierten Fälle weit entfernt. In der historisierenden Rückschau, womöglich auch vermittelt über gattungstypologische Traktate, Rhetoriken und ähnliche Schriften, mögen Gattungen wie einigermaßen stabile und formal-funktional bestimmbare Gebilde erscheinen, aus denen sich auch klare Taxonomien ableiten lassen, für die Wutreden, Shitstorms und erst recht Hate Facts viel zu unstet sind. Allerdings können gerade solche gattungstypologischen Traktate, auf die sich die Literaturgeschichte häufig beruft, als besonders wirkmächtige Formate des
Ars invectiva und artifizielle Mündlichkeit: Schmähungen in Rom zwischen Schulbuch und scheinbarer SpontaneitätÜber artivistische Interventionen. Invektivität, Medien, Moral Brüche einer Gattungsgeschichte. Karikatur zwischen Massani und Sulzer Wutreden und andere invektive Gattungen zwischen Rekonstruktion und Aneignung Das Pasquill im frühneuzeitlichen Deutschland. Ein Kommunikationsmedium zwischen Schmähung und Kritik Die Satire als invektive Gattung ‚Rasse‘ – zur sprachlichen Konstruktion einer Ausgrenzungsstrategie Invektive Affordanzen der Kommunikationsform Flugschrift Invective Form in Popular Media Culture: Genre – Mode – Affordance Framing in den innerevangelischen Kontroversen (1548–1580). Die Verwendung von Schimpfworten im Kampf um die Deutungshoheit innerhalb der reformatorischen Lehre in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Die deutsche Bildparodie im 16. Jahrhundert. Ihre Anfänge, Formen und Funktionen Inhalt „Das mustu gleuben, oder der Teufel bescheisset dich.“ Die invektiven Paratexte der protestantischen Lügenden und ihre gattungskommunikative Funktion Einige Grundüberlegungen zum Konzept und zur Reichweite invektiver Gattungen Invektive Anliegen. Wirkungs- und rhetorikgeschichtliche Überlegungen zur Streitschriften-Literatur des 16. Jahrhunderts „Wie ist das denn in deinem Heimatland?“ Kommunikative Muster invektiver Kulturvergleiche im Orientierungskurs