Dieses Buch ist ein herausforderndes Werk – schon wegen der mehr als 600 Seiten und der sehr disparaten 30 Beiträge. Es ist aber auch herausfordernd, weil zwar angekündigt wird, primär „Versuchsanordnungen des Programms“, aber nicht „weitere Gegenwartsdiagnosen zu präsentieren“, obwohl es sie dann doch in großer Fülle gibt. Der Band analysiert auch nicht, wie versprochen, primär „das ‚Making‘ der Diagnosen“. Das kommt natürlich vor, aber man bekommt in sieben Kapiteln sehr viel mehr, eine erschöpfende Fülle an Denkanstößen und Material, Zeitphilosophie und Reflexionen über „Gegenwart“ (Augustinus bis Husserl, natürlich), Grundsatzüberlegungen zu den Formen und Möglichkeiten von Diagnose und Therapie, höchst diverse, aber immer unterhaltsam-belehrende Exempel diagnostischer Aktivitäten, Praxeologisches und Soziologisches, Historisches und Aktuelles, bis hin zur Analyse „sozialer Aushandlungen auditiver Emissionen“ – und da geht es schlicht um „Lärm“. Auch angesichts des hier und da nicht gemiedenen Jargons sehnt sich der Leser nach einem Leitfaden, um das Empirische und das Theoretische verbinden zu können und zu lernen, was Gegenwartsdiagnosen im Unterschied zu Gesellschafts- und Sozialtheorien sind, und wie sie, besser oder schlechter, gemacht werden, welchen Status dabei „Therapie“ und „Interventionen“ haben oder wie sich „Selbstproblematisierung“, Selbstbeschreibung und Selbstbeobachtung präzise unterscheiden. Register gibt es leider auch nicht, um die disparate Argumentation systematisch oder personenbezogen nachzuverfolgen. Philosophie könnte hilfreich sein. Hier und da wird, erwartbar, Hegel mit seinem Diktum aus der Rechtsphilosophie bemüht, das Philosophie als „ihre Zeit in Gedanken erfasst“ bestimmt. Aber schon die Lesart dieses Satzes ist kontrovers, ein neuer Hegel wird auch nicht präsentiert, allenfalls viel disparate Sozialphilosophie und -theorie, keineswegs konsensual rezipiert.
Ein alter weißhaariger männlicher Geisteswissenschaftler wie der Rezensent (um die Diagnose meiner Bemerkungen zu erleichtern), wird bei der Lektüre an die (im Band nicht präsenten) Vorlesungen Fichtes über „Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“ von 1805/06 erinnert. Irritiert und inspiriert durch Fichte sucht man dann bei seinen Nachfolgern (nicht Adepten!) nach neuen Perspektiven in der Diagnose der Gegenwart: Fichte versprach z. B., methodisch, „ein philosophisches Gemälde des gegenwärtigen Zeitalters“.
Johann Gottlieb Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. In: Johann Gottlieb Fichtes sämtliche Werke. Band 7, Berlin 1845/1846, S. 238–254, hier Zitate aus der ersten Vorlesung. (Ich zitiere Fichte nach dem handlichen Zugang in Zoran Terzić: Idiocracy. Denken und Handeln im Zeitalter des Idioten. Zürich 2020. Terzić erläutert im Übrigen seine Diagnose als Analyse einer „Figur“, als die man den Idioten sehen könnte („Sozialfiguren“ werden bei Alkemeyer
Liefern Alkemeyer
In der „Einleitung“ der Herausgeber werden die wesentlichen Merkmale resümiert, die solchen Argumentationsformen zukommen, ihre diagnostische Funktion, die eine Problematisierung der jeweiligen Gegenwart ebenso einschließt wie Therapie- und Interventionsangebote zur Abhilfe der Probleme. Der Band selbst thematisiert in den ersten drei Abteilungen in 13 Beiträgen zuerst die systematischen Fragen: „Gegenwart als Objekt der Diagnose“, das Zeitproblem (I), dann (II) „Sehen und zu-Sehen-geben“, die methodischen Ambitionen, und (III) „Soziologische Gegenwartsdiagnostik“, den Bezug zu und die Abgrenzung von vergleichbaren wissenschaftlichen Aktivitäten. Dann folgen drei Abteilungen und 17 Beiträge mit Exempla, für die (IV) „Historischen Formen“, für (V) „Felder des Diagnostischen“ und (VI) über „Medienwandel und Formenwandel des Diagnostischen“. Und es ist signifikant, dass hier vom „Diagnostischen“, nicht von der „Gegenwartsdiagnose“ die Rede ist; denn der Rückbezug auf die eingangs eingeführten Merkmale ist weder immer gesucht noch durchgängig gegeben – ohne dass die Lesefreude darunter leidet. Am Ende stehen metatheoretische Bemerkungen, rhetorisch in einer Permutation eingeführt, „Diagnose als Kritik – Kritik der Diagnose“, um höchst heterogene Referenzen zu bündeln. Neben der bereits erwähnten Apologie, die Gegenwartsdiagnosen als „zeitdiagnostisches Wissen“ qualifiziert (Vogelmann) – aber nicht (wie vorne bei Knoblauch) in präziser Unterscheidung von „Zeit-” und „Gegenwartsdiagnose“ – stehen Reflexionen, in denen auch künstlerische Praktiken, u. a. der Popmusik, als Form von „Gegenwartskritik“ oder „Gesellschaftskritik“ gelten, mit eher paradoxen Befunden, wenn sie als „(nicht-)diagnostische … Gegenwartskritik“ (583) bezeichnet werden oder als „Kreativitätsdispositiv“, das zeige, wie Gesellschaften durch Kritik und Protest lernen. Aber erneut ist nicht nur offen, was sie lernen, sondern auch, wer denn hier wie lernt.
Aber offene Forschungsfragen, wie sie hier entstehen, sind im Grunde, bilanziert man das Gesamtangebot, der erste Ertrag, den die Beiträge bieten. Der Forschungsbedarf wird auch sowohl in den systematischen Texten als in den Exempla sichtbar, und das ist ja nicht das Schlechteste, was man von einem solchen Reader erwarten darf. Die zeittheoretischen Fragen, auch die eindeutige Bestimmung von „Gegenwart“, bleiben dabei in der multiplen Referenz, in der sie auch ansonsten zwischen den Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften unversöhnt aufgeworfen werden. Augustinus ist dafür klassisch, aber nur eine Stimme in diesem Konzert, von Soziologen gut unterscheidbar; nicht zufällig kommt Luhmann immer wieder vor, weniger schon die Historiker,
Luhmann selbst hat im Kontext der historiographischen Debatte u. a. die Überlegungen zu „Weltzeit und Systemgeschichte“ publiziert, um zu zeigen, mit welcher Vielfalt an Zeiten historisch-gesellschaftlich zu rechnen ist und welche Koordinations- und Analyseprobleme damit aufgeworfen werden, wenn man „die Konstitution temporaler Modalität und die Selektion dessen, was in ihnen relevant wird“ (Luhmann, zit. S. 103) untersucht und sieht, wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft „mit Hilfe einer Strukturierungstechnik“ unterschieden werden, die er als „Mehrfachmodalisierung oder reflexive Modalisierung“ bezeichnet (ebd., 112), vgl. Niklas Luhmann.: Weltzeit und Systemgeschichte. (zuerst: 1973, in: P. C. Ludz, Hgrs.: Soziologie und Sozialgeschichte Opladen, S. 81–115, SH 16 der Kölner Zeitschrift) In: Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 2. Opladen 1975, S. 103–133. Ich teile deshalb auch die Kritik nicht, die Christian Geulen in seiner Rezension an der fehlenden systematischen Bestimmung von „Gegenwart“ als zentrales Defizit hervorgehoben hat, vgl. seine Kritik von Alkemeyer Bekanntlich hat schon Alice Salomon dazu eine eigene, sozialpädagogisch höchst relevant gewordene Kunstlehre der Beobachtung und Intervention entwickelt, vgl. A. Salomon: Soziale Diagnose. Berlin 1926.
Kap. III gilt dieser Relation. Hubert Knoblauch liefert dafür primär Unterscheidungen, u. a. von Gesellschaftstheorie und -diagnose, Sozialtheorie und Soziologischer Theorie, Gegenwarts- und Zeitdiagnose, u. a. nach dem Grad der „Evidenz“ (ohne Details), räumt aber selbst – wen wundert es angesichts der Diskussionslage in den Sozialwissenschaften – die „Unschärfe der Unterscheidungen“ ein, schon bei der Referenz auf Soziologie, noch ganz ohne die anderen Geistes- und Humanwissenschaften oder die Philosophie einzubeziehen (was die Komplikationen steigern würde).
Man lese nur die scharfe Kritik von Jürgen Habermas an den zeitdiagnostischen Argumenten von Andreas Reckwitz, um erneut die disziplinären und theoretischen Differenzen zu finden (in Leviathan 48, 2020, 1, S. 7–28). Schon in der ersten Vorlesung Fichtes findet man: „Das gegenwärtige Zeitalter
Die drei Kapitel mit Exempeln belegen historisch und bereichsspezifisch, dass es konstant wiederkehrende Anlässe für Diagnosen gab und gibt, aber auch konstante Argumentformen und -probleme. Die revierspezifischen Experten zeigen bisher nämlich vor allem die Grenzen und Idiosynkrasien der je feldbezogenen Diagnosen und dann auch zeittheoretische Probleme. Denn es sind primär Eigenzeiten und je spezifische Gegenwarten sozialer Systeme, die hier thematisch werden, nicht die Zeit der Gesellschaft als Ganzer. Solche Beobachtungen bestätigen sich auch angesichts der hier präsentierten Exempel: die Analyse der theatralischen kulturellen Selbstinszenierungen (A. Landwehr: „
Das ruft abschließend die „Kritik der Diagnose“ auf den Plan, schon, weil der Ort der Kritik unklar wird. Er wird jetzt z. B. künstlerisch, in „Mitteln des Affekts“, – aber vergeblich – gesucht oder nur als „Lust der Unentschiedenheit“ identifiziert (E. Bippus), auch nicht in der Pop-Musik gefunden, die allenfalls die große Frage neu aufwirft, was denn Kritik sei (F. Hillenbrand). Der Versuch einer Ehrenrettung steht nicht zufällig am Ende des Bandes (Vogelmann). Der Autor lobt, dass „Isolieren, Generalisieren, Signifizieren“ Praktiken von Diagnose darstellen, die in unterschiedlichen Kontexten genutzt werden und sich deshalb aber auch vor ganz unterschiedlichen Gütekriterien bewähren. Aber gerade weil die Referenzen wissenschaftlich oder popkulturell, lebensweltlich oder pädagogisch, im Alltag oder in künstlerischer Praxis gesucht werden, müssten diese Praktiken auch in ihrer Differenz deutlicher unterschieden werden. Deshalb ist es vielleicht doch eine Übergeneralisierung, diese Vielfalt unter dem Titel der „Gegenwartsdiagnose“ noch bündeln zu wollen und im Blick auf den Umgang mit dem Neuen als genuine Leistung aufzuweisen. Ein Blick auf andere, aber für die Moderne nicht ganz untypische Praktiken der Selbstproblematisierung z. B. in Kulturkritik oder kritischer Theorie, die aber ausgeblendet werden (weil sie nur noch vergangene Gegenwarten, nicht mehr gegenwärtige Vergangenheit darstellen?), hätte genügt, eher Skepsis zu entwickeln, als den Blick so auszuweiten. Wie auch immer, es ist ein
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