Die europäische Regionalpolitik hat die Agrarpolitik mittlerweile als finanziell bedeutsamstes Brüsseler Politikfeld überrundet. Auf regionale Wirtschaftsförderung konzentriert, liegt die Regionalpolitik überdies thematisch im Zentrum einer um ökonomische Ziele kreisenden europäischen Politik. Zudem präsentiert sie sich neuerdings, diese These soll hier im Folgenden begründet werden, als Politikfeld, auf dem sich neue Formen europäischer Integration andeuten. Vor Jahrzehnten als Forum zwischenstaatlichen Finanzausgleichs angelegt, lässt die europäische Regionalpolitik seit einigen Jahren eine programmatische Dynamik erkennen, die in ihrer Tendenz über die bisherigen, staatsgestützten Integrationsformen hinausweist. Innergemeinschaftliche Grenzregionen fungieren neuerdings als Avantgarde einer erneut an mittelalterliche Ordnungsmuster angelehnten und insofern ‚postmodernen‘ Ordnung. Die Strukturen dieser Ordnung sind noch zu schwach, als dass sie bereits in den aktuellen Vertragsrevisionsprozess eingespeist werden könnten. Hinreichend deutlich aber wird ein Prozess erkennbar („Remediävalisierung II“), der auf regionaler Ebene Integrationsphänomene der Makroebene ergänzt. Sie werden im Mit- und Gegeneinander von normenhierarchisch unvereinbarer Staatlichkeit und Suprastaatlichkeit bereits seit längerem als modifizierte Wiederaufnahme mittelalterlicher Ordnungsmuster angesprochen („Remediävalisierung I“, vgl. u. a. Axtmann 2003 oder, aus religionsanalytischer Sicht, Hoeber Rudolph/Piscatori 1997: 1).
Der komplementäre, auf die regionale Ebene beschränkte Prozess einer „Remediävalisierung II“ wird insbesondere im Politikbereich des „Grenzüberschreitenden Programms der Europäischen Territorialen Zusammenarbeit“ (ETZ) erkennbar, der die bis in die 1980er Jahre zurückgehenden Interreg-Programme in gebündelter Form fortführt. Zum programmatischen Vorlauf vgl. ansonsten Battis/Kersten (2008).
die „Transnationale Zusammenarbeit“ (Kooperation in 13 weit gefassten, länderübergreifenden Großregionen, etwa dem Ostsee- oder dem Nordseeraum) die „Interregionale Zusammenarbeit“ (sie zielt auf die Vernetzung nicht benachbarter, teils außerhalb der EU liegender Regionen insbesondere zum Zwecke des Erfahrungsaustauschs; im Jahre 2010 gibt es 120 solcher Netzwerke) die vorliegend einschlägige „grenzüberschreitende Zusammenarbeit“ (sie wird im Zeitraum 2007 bis 2013 EU-weit in 53 Programmen verwirklicht, davon 14 mit deutscher Beteiligung, z. B. „Bayern-Tschechische Republik“ oder „Alpenrhein-Bodensee-Hochrhein“)
In gewissem Umfang zielen sämtliche Programme dieser „grenzüberschreitenden Zusammenarbeit“ auf die kulturelle Annäherung der grenznah wohnenden Bevölkerung beiderseits der innereuropäischen Grenzen. Diese Zielsetzung ist es in erster Linie, die die These von der „Remediävalisierung II“ stützt. Sie soll im Folgenden beispielhaft anhand eines der genannten 53 Programme illustriert werden: des Kooperationsprogramms zwischen der Woiwodschaft Westpommern und den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg für den Zeitraum 2007 bis 2013. Die offizielle Bezeichnung lautet: „Operationelles Programm des Ziels 3 ‚Europäische territoriale Zusammenarbeit‘ – ‚Grenzübergreifende Zusammenarbeit‘ der Länder Mecklenburg-Vorpommern/ Brandenburg und der Republik Polen (Wojewodschaft Zachodniopomorskie) 2007-2013“. Es ist beispielsweise zugänglich unter
„Programmatisches Oberziel“ dieses Programms ist die Annäherung von Bewohnern, Unternehmen und Institutionen. Nicht allein die Annäherung der Grenzlandbevölkerung – in der Programmsprache die Verstärkung des territorialen Zusammenhalts der Bevölkerung –, sondern auch die anderen beiden zentralen Programmziele, die Verbesserung von Infrastruktur und Umweltschutz sowie die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit, werden ausdrücklich als gemeinsame Herausforderung der benachbarten polnischen und deutschen Grenzregionen definiert. Der innereuropäischen Staatsgrenze, die diese Region zerschneidet, soll durch sektorenübergreifende Zusammenarbeit offenbar ihre sprachliche und kulturelle Barrierequalität genommen werden. Die Bewohner der Grenzregion sollen, über die Grenze hinweg, ein Gefühl von Zusammengehörigkeit entwickeln.
Diese strategische Zielsetzung ist bemerkenswert, weil sie die Rolle der Regionen nochmals aufwertet und über die mittlerweile bereits traditionelle Abstützung europäischer Politik auf die Regionen („Ausschuss der Regionen“) hinausgeht. Bereits die seit den 1950er Jahren betriebene europäische Regionalpolitik stand in einem Spannungsverhältnis zur grundsätzlichen Staatsbasiertheit des europäischen Einigungsprozesses. Diese Staatlichkeit hatte sich regelmäßig erst in teilweise jahrhundertelanger Auseinandersetzung mit dem Selbstbehauptungswillen der Regionen konstituieren können. Dieser Prozess war nicht nur ein machtpolitischer und organisatorischer, sondern hatte auch eine mentale Seite, die zuletzt, im 19. und 20. Jahrhundert, stärker hervorgetreten war. Die Akzentuierung der nationalstaatlichen Qualität des europäischen Staates verband sich nun regelmäßig mit der Neuschöpfung ‚nationaler‘ Identitäten unter gleichzeitiger Einebnung regionaler Konkurrenzidentitäten. Für ein mecklenburgisches Nationalgefühl war neben seinem deutschen Pendant kein Raum mehr. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass heute Regionalisierung zu einem „Strukturprinzip europäischer Integration“ (Kotzur 2004: 91) aufgewertet wird. Eine Körperschaft, deren politische Mediatisierung Voraussetzung für die Entstehung des modernen europäischen Staatensystems gewesen war, wird zum maßgebenden Mitträger europäischer Politik.
Die Rückkehr der Regionen belegt also die These, dass der blockartige, im Kollektiv seiner Bewohner integrierte Nationalstaat ab einem bestimmten Punkt für den ungestörten Fortgang weiterlaufender Modernisierungsprozesse anscheinend verzichtbar wird. Er büßt seine Kollektiv-mentale Verankerung allmählich ein. Die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts allgemeine Neigung, den neuzeitlichen Staat als „naturalisiertes abstraktes Individuum“ zu begreifen, als ein durch individual-menschliche Qualitäten gekennzeichnetes Subjekt (Agnew 2003: 220), verliert an Plausibilität. Die Fixiertheit auf den Nationalstaat lässt nach. Individuelle Identität lässt sich leichter als früher mit sub-, trans- oder suprastaatlich definierten Identitäten kombinieren (Kumar 2003: 40). Überhaupt tritt der Umstand, dass flächenbezogene Identität selbst ein dynamisches Phänomen ist, stärker ins allgemeine Bewusstsein (Brenner 1999). Der Nationalstaat verliert damit seine Rolle als monopolhafter Filter supranationaler Politik (Deger 2007: 159) und sein „eiserner Griff“ auf die soziale Imagination beginnt sich zu lockern (Brenner 1999: 40; Berezin 2003: 10).
Vor diesem Hintergrund kann die Europäische Kommission den Regionen eine Rolle zuschreiben, die nicht mehr auf die administrativer Erfüllungsgehilfen begrenzt ist. Anders als seit den 1970er Jahren bleiben die Regionen nicht mehr technische Einheiten, deren europapolitische Aufwertung als kompatibel mit der ganz dominierenden Rolle der (National-)Staaten empfunden wird, sondern gewinnen eine eigene Akteursqualität. Sie werden strategisch zu Trägern eines alternativen Ordnungsmodells, das auf längere Sicht tragende Strukturelemente des modernen europäischen Staates in Frage stellt. Illustriert werden soll dieser Prozess an denjenigen Elementen des erwähnten Kooperationsprogrammes, die in besonderer Weise in einem Spannungsverhältnis zum neuzeitlichen Staatsmodell stehen: dessen linearer Abgrenzung und der für den modernen Staat konstitutiven mentalen Homogenisierung.
Zielsetzung des Beitrags ist es, anhand einer Rekonstruktion dieser beiden, für den modernen Staat tragenden Konstruktionselemente zu verdeutlichen, in welchem Umfang es sich bei der „Remediävalisierung II“ um ein revolutionierendes Phänomen handelt.
Die Fokussierung europäischer Politik auf die grenzüberschreitende Annäherung benachbarter Regionen ist zunächst insofern von Interesse, als sie sich damit auf die Grenzlinie bezieht, ein für den modernen Staat konstitutives Element. Die lineare Abgrenzung des beherrschten Territoriums war eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Herausbildung des neuzeitlichen Staates. Dieser Staat, im Normalfall des 20. Jahrhunderts regelmäßig ausgestattet mit den Attributen Wehrpflicht und Sozialversicherung, ist, anders als seine vorneuzeitlichen Vorgänger, auf die scharfe, geographisch eindeutig fixierte Grenze angewiesen. Wie selbstverständlich die lineare Grenze in der Neuzeit geworden war, illustriert Simmel, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Grenze ganz unproblematisch – zwar geometrisch fragwürdig, aber von der Sache her eindeutig – als „Linie im Raum“ definiert (Simmel 1983/1908: 460 ff. und 465).
Die Vormoderne bedurfte einer solchen Grenze nicht. Mittelalterliche Herrschaft war weder für ihre Ritter- und Freiwilligenheere noch für die städtische Armenfürsorge auf trennscharfe „Linien im Raum“ angewiesen. Typisch für die geographische Begrenzung war nicht die Grenzlinie, sondern der Grenzsaum (Karp 1972: 13). Das europäische Mittelalter, aber auch die vormoderne außereuropäische Herrschaft So etwa im vorneuzeitlichen Südostasien, vgl. Carsten (1998: 217). Viele Beispiele nennt Geiss (2007: 330 ff.), vgl. auch Power (1999: 3 ff.). Zur ungarischen, durch Flüsse oder einzelne Bäume markierten Grenze im Mittelalter vgl. Berend (2002: 203). Auch Grenzen entlang von Flussläufen kommen im Mittelalter vor. So war schon im 9. Jahrhundert die Ems die Ostgrenze des Bistums Münster und Westgrenze des Bistums Osnabrück, vgl. Klueting (2006: 73). So etwa die Grenze des Landes Lebus in einem Vertrag zwischen Herzog Boleslaw von Schlesien und dem Erzbischof von Magdeburg aus dem Jahre 1249: Sie beginnt an der Warthe bei einer Wiese namens „Guba“, geht über zwei Ortschaften zum See beim Dorfe Wandern südöstlich Zielenzig, dann über weitere Ortschaften zu einem Ort, bei dem es sich vermutlich um Lagow handelt (Karp 1972: 55). Etwa die zwischen Ordensgebiet und den Bistümern im späteren Ostpreußen (vgl. Karp 1972: 3 ff.). Etwa im 9. Jahrhundert als Grenzen des Bistums Osnabrück: „im Osten das Flüsschen Hunte und nach dem Übergang über das Wiehengebirge der Lauf von Else und Werre, im Südwesten des Teutoburger Walds, im Westen die Ems und im Norden mehrere Fluß- und Bachläufe“ (Klueting 2006: 73).
Dieser Übergang – Aubin (1959: 61) nennt ihn „Abklärung der Grenzlinie aus dem Grenzsaum“ – vollzieht sich allmählich. Für den ostmitteleuropäischen Raum gehen seine Anfänge bis ins 12. Jahrhundert zurück. Eine gewisse Vorreiterfunktion kam kirchlichen Grenzen zu. Sie waren häufig schon im hohen Mittelalter von zonalen Grenzen zu linearen, nicht selten sogar zu markierten Grenzen geworden (Klueting 2006: 79). Kirchliche Grenzen mussten stabil sein, weil sich nur so das Ideal brüderlichen Einvernehmens zwischen den Leitern der verschiedenen Herrschaftsbezirke gewährleisten ließ (Schmidt 2006: 107).
Maßgebend für den Übergang zwischen Grenzsaum und Grenzlinie waren vor allem drei Faktoren: erstens ein Bevölkerungswachstum, das den Wert des für Siedlungszwecke verfügbaren Landes steigerte, zweitens die allmähliche Konsolidierung des europäischen Staates, und drittens, in der frühen Neuzeit, die „kartographische Revolution“ (Ellenblum 2002: 118; Geiss 2007: 42). Der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Abgrenzung wird dadurch vermittelt, dass die Grenzlinie Ausdruck einer Landesplanung ist, die die Hebung der Wirtschaftskraft des Gesamtterritoriums (und nicht nur der Grenzterritorien) zum Ziel hatte (Karp 1972: 156). Diese Entwicklung beginnt schon gegen Ende des hohen Mittelalters, im sächsisch-böhmischen Fall verringerten etwa die Rodungen, die in Mitteldeutschland zu Beginn des 12. Jahrhunderts einsetzten, allmählich den Umfang des Grenzsaums und führten zuletzt zur Herausbildung der Grenzlinie. Regelmäßig war der Ablauf so, dass bisher unerschlossenes Grenzland von dem politisch mächtigeren der beiden Nachbarn zur Besiedlung freigegeben wurde. Die dabei festgelegten Begrenzungen wurden, Stabilität der Machtverhältnisse vorausgesetzt, zu linearen Territorialgrenzen. In einzelnen Regionen Mitteleuropas vollzog sich dieser Prozess erst in der Neuzeit. Im Böhmerwald etwa setzte die Besiedlung erst im 17. Jahrhundert ein und die Grenzlinie wurde erst mit dem bayerisch-böhmischen Hauptgrenzvertrag von 1764 genau fixiert (Hoffarth 2005: 21 f. m. w. N.). Begleitet wurde der Übergang zur linearen Grenze von einem Wandel des Souveränitätskonzepts (Power 1999: 5), dem Übergang vom selektiven zum undifferenzierten Souveränitätsrecht. Ein zunächst auf bestimmte Personen und bestimmte Sachverhalte begrenztes Recht wurde verallgemeinert und damit territorial (Oppenheimer 1964: 550). Dieser Prozess fand zunächst in kleineren territorialen Einheiten statt, in Stadtmarken und im Großgrundbesitz, erst später auch in Landesherrschaften.
Heutige europäische Regionalpolitik lässt die Existenz der linearen, aus vielerlei Gründen unverzichtbaren, innergemeinschaftlichen Grenzlinien als solche unberührt. Indem sie aber das dies- und jenseits dieser Grenzlinien befindliche Gebiet zum Gegenstand politischer Einwirkung macht und sich für sein grenzüberschreitendes Zusammenwachsen einsetzt, fördert sie eine Entwicklung, die die „Abklärung der Grenzlinie aus dem Grenzsaum“ wieder revidiert. Die Grenzlinie wird, jedenfalls perspektivisch, nach mittelalterlichem Vorbild durch einen Grenzsaum ergänzt. Dieser Grenzsaum kann sich, ebenso perspektivisch, zu einem handlungsfähigen Akteur entwickeln. Wie dynamisch die Entwicklung verläuft, illustriert die Verordnung „über den Europäischen Verbund für die territoriale Zusammenarbeit (EVTZ)“ vom 5. Juli 2006 Verordnung (EG) Nr. 1082/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 über den Europäischen Verbund für die territoriale Zusammenarbeit (EVTZ). In: Amtsblatt der Europäischen Union L 210/19.
Eine strategisch auf geographisch-administrative Neukonstituierung europäischer Grenzregionen zielende Politik ist erst da mehr als ein flüchtiges technokratisches Projekt, wo sie auf die Identität der in der jeweiligen Region lebenden Menschen zugreift. Erst da, wo eine Gebietskörperschaft von ihren Bewohnern als Teil ihrer geographisch fixierten Identität verstanden wird, kann sie mit dauerhafter Existenz rechnen und machtpolitisch Substanz gewinnen. Konstitutiv für den modernen Staat ist neben der Grenzlinie die übereinstimmende und dauerhafte Überzeugung seiner Bürger, sich durch bestimmte gemeinsame Eigenschaften von anderen Staatsbürgerkollektiven zu unterscheiden (Guiberneau 2007). Dieser Überzeugung liegt regelmäßig die Annahme zugrunde, bei dem sich abgrenzenden Nationalsubjekt handle es sich um einen dauerhaft existierenden, selbstbestimmt handelnden Akteur. Historischer Ausgangspunkt eines Staatstypus, der sich im Wesentlichen durch die gemeinsame Identität des gesamten Bevölkerungskollektivs definiert, ist die Selbsterklärung des dritten Standes zur französischen Nation im Jahre 1789. Bereits die Zeitgenossen nahmen dieses Ereignis wahr als Verdeutlichung des – angeblichen – Umstandes, dass es sich bei der Nation um einen „seul & meme corps“ mit einer identifizierbaren „ame“ handle. Catechisme national von 1789, zitiert nach Keitner (2007: 28).
Der ansonsten regelmäßig individuelle, bekehrungsbewirkte Mentalitätssprung sollte nun auf nationalpädagogischem Wege das Kollektiv als solches erreichen. Um die französische Bevölkerung zu „einem Körper“ verschmelzen zu können, musste ihr zunächst verdeutlicht werden, dass der Treue gegenüber der eigenen Nation der Rang eines politischen Höchstwertes zukam. Der Verrat an der Nation wurde zum schlimmsten aller möglichen Verbrechen erklärt (Keitner 2007: 74). Zugleich wurde nationale Identität so definiert, dass sie regionale Besonderheiten kategorisch ausschloss: „Il n’y a plus diverses nations dans le royaume, il n’y a plus que des Français“ (Keitner 2007: 75). Zentrales Mittel zur Herstellung dieser gemeinsamen nationalen Identität war die Förderung sprachlicher Uniformität, in deren Folge die verbliebenen Regionalsprachen sehr weitgehend eingeebnet wurden. Solche Uniformität galt als ‚anti-despotisch‘ im Gegensatz zur Vielsprachigkeit des
Die heutige europäische Regionalpolitik setzt diesem nationalen Homogenitätspostulat eine regionale und Staatsgrenzen überschreitende Alternative entgegen. Im „programmatischen Oberziel“ des genannten binationalen Kooperationsprogrammes heißt es etwa, die gleichmäßige und ausgewogene Entwicklung des Fördergebietes solle durch die grenzübergreifende Annäherung der Bewohner, Unternehmen und Institutionen gefördert werden (Europäische Kommission 2007: 43). Konkretisiert werden die mentalitätsbezogenen Konsequenzen dieser Festlegung in der Formulierung, man strebe im grenzüberschreitenden Fördergebiet nach einer „Verstärkung des territorialen Zusammenhalts der Bevölkerung“. Es geht offenbar darum, das kollektive Selbstverständnis der grenznah wohnenden Bevölkerung um gewisse, kooperationsfördernde Komponenten zu ergänzen. Versucht wird anscheinend, den Prozess nationaler (sprachlicher, mentaler) Homogenisierung, der für die Entstehung des modernen Nationalstaats konstitutiv war, nun durch einen in entgegengesetzter Richtung laufenden Impuls zu revidieren.
Konkretisiert wird das Projekt regionaler Identitätsergänzung in den ausdrücklich auf Kooperationsförderung angelegten Förderbedingungen. Projektanträge müssen danach mindestens zwei der folgenden vier Anforderungen erfüllen:
gemeinsame Ausarbeitung, gemeinsame Durchführung, gemeinsames Personal und gemeinsame Finanzierung (Kohlisch 2008: 51).
Wenn sich dasselbe Programm für die Förderung interkultureller Kompetenz als Schlüsselfaktor für eine „langfristige, gemeinsame Entwicklung des deutsch-polnischen Fördergebiets“ ausspricht, dann wird deutlich, dass die grenzüberschreitende Neukonzeption der Mentalität innereuropäischer Grenzlandbevölkerungen auf greifbare politische Konsequenzen zielt. Weiter heißt es: „Die bestehenden Unterschiede in den Bildungssystemen beiderseits der Grenze, Barrieren wie die Sprache oder Unterschiede in der Mentalität können überwunden werden“ (Europäische Kommission 2007: 46). Diese strategische Perspektive erscheint so irreal nicht, führt man sich den Aufwand vor Augen (Kontaktförderung in den verschiedensten Bereichen vom Alltagsleben bis zu Kultur und Sport), der zu ihren Gunsten betrieben wird, und den Stellenwert, den die Europäische Union ihrer Regionalpolitik zumisst: Sie sei das „entscheidende Gemeinschaftsinstrument zur wirtschaftlichen Modernisierung“ (Europäische Union 2007: 3).
Zumindest programmatisch geht die aktuelle europäische Regionalpolitik damit über das hinaus, was an „Identifizierung eines gemeinsamen Lebensraums unter Beachtung regionaler und nationaler Identitäten“ So charakterisiert Schmitt-Egner (2007: 96) zusammenfassend eine von drei Zielsetzungen heutiger, grenzüberschreitender Regionalkooperation. Zur Rolle der nordamerikanischen Grenzregion als Labor für die Herausbildung der US-amerikanischen Ideologie vgl. Bonazzi (1993).
Die laufende Regionalpolitik der Europäischen Union zielt damit auf die grenznahe „Verklebung“ der Mitgliedstaaten. Sie wendet sich gegen die Grundlagen der internationalen Lage, die man sich in Europa tendenziell seit 1648 als ein Nebeneinander atomisierter Staatskörper vorgestellt hatte. Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war diese Lage als ein Feld frei gegeneinander beweglicher, atomistischer Größen beschrieben worden. Wo ein neuzeitliches Staatsdenken Grenzsäume, die traditionell durch eine Vielzahl persönlicher Beziehungen integriert waren, trennscharf zunächst administrativ und dann mental zerteilt hatte, wird nun in einer gegenläufigen Bewegung versucht, den bestehenden Grenzen „das Trennende zu nehmen“. Die scharfen Konturen des modernen Staatensystems sollen innerhalb der Europäischen Union auf zweifache Weise gemildert werden: zunächst von oben durch europarechtliche Integration, und nun ergänzend von unten durch die – jedenfalls tendenzielle – Rückverwandlung innergemeinschaftlicher Staatsgrenzen von Trennungsin Kontaktgrenzen (Prescott 1978: 17 ff.).
Aus der quantitativen Zunahme grenzüberschreitender Kontakte wird sich, so offenbar die Hoffnung der Brüsseler Kommission, auf längere Sicht ein organischer Integrationsprozess ergeben, in dem die isolierten Staatsatome wieder zu einem Gewebe mit sanfteren Übergängen zusammenwachsen. Einem europäischen Irredentismus, der im 19. und 20. Jahrhundert auf den Verlauf der Grenzlinie fixiert war, werden so seine sachlichen Grundlagen entzogen. Dieser Sachverhalt wird hier als „Remediävalisierung II“ bezeichnet. Er beschreibt den parallelen Prozess der auf zwischenstaatliche Vereinbarungen und europäisches Sekundärrecht gestützten juristisch-politischen Integration der EU-Mitgliedstaaten („Remediävalisierung I“), die den einzelstaatlichen Spielraum allmählich einengt durch die fortschreitende Verlagerung vor allem wirtschafts- und handelspolitischer Legislativkompetenzen nach Brüssel. Remediävalisierung II meint im Unterschied dazu ein soziales, ebenfalls von europäischem Sekundärrecht gesteuertes Phänomen in vor- und unterstaatlichen Administrativeinheiten. Seine Bedeutung beschränkt sich einstweilen auf einen sozialen, der aktuellen Europapolitik vorgelagerten Raum.
Der Begriff der Remediävalisierung II kann durch das ansonsten verfügbare Begriffsinventar nicht ersetzt werden. Seines Bezugs auf die Region wegen lässt er sich etwa nicht unter einen Europäisierungsbegriff subsumieren, der ein Phänomen auf der Makroebene im Blick hat. Zum Begriff der Europäisierung vgl. Bach (2000), Kotzur (2004: 69 ff.) und Deger (2007: 148 ff.).
Remediävalisierung II steht, als umfassender regionalpolitischer Eingriff, für einen doppelten Revisionsprozess. Er greift auf Sachverhalte zu, die in unterschiedliche Entwicklungsphasen des modernen Staates fallen. Zum einen leistet die aktuelle Brüsseler Regionalpolitik einen Beitrag zur Neu- oder Rekonstituierung eines in langen, vormodernagrarischen Zeiträumen entstandenen sozialen Faktums („Grenzregion“). Die territoriale Gestalt der Wiederbelebung dieses Faktums orientiert sich nicht an der historischen Überlieferung, sondern an der gegenwärtigen Administrativgliederung. Der Trennwirkung der Staatsgrenzen aber, die innereuropäische Grenzregionen durchschneiden, wird nach Möglichkeit entgegengearbeitet. Brüssel verwirklicht damit eine regionalpolitische Programmatik, die über den heutigen, nach wie vor durch lineare Grenzen konstituierten
Die Stärke des Impulses, der dieser Politik zugrunde liegt, wird daran erkennbar, dass weder effektive Wirtschaftsförderung noch ein effektiver innereuropäischer Finanzausgleich eine Re-Etablierung der europäischen Grenzregionen erforderlich machen würden (Beckmann/Fabian 2007: 74 ff.). Auch die einstweilen weiter zunehmende geographische Mobilität legt den Gedanken, räumliche Nähe auf unterstaatlicher Ebene institutionell aufzuwerten, nicht unmittelbar nahe. Überdies hat in vielen europäischen Regionen, insbesondere in Osteuropa, die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts die ethnisch-kulturelle Lage den Vorstellungen der jeweiligen Nationalismen so weit angeglichen, dass es nicht mehr damit getan ist, das ideologische Korsett des Nationalstaats abzulegen, um endlich das latente, über Jahrzehnte abgeschnürte Zusammengehörigkeitsgefühl dies- und jenseits der Grenze siedelnder Volksgruppen sich wieder entfalten zu lassen. Solche Volksgruppen gibt es dort regelmäßig nicht mehr. Die heutige europäische Regionalpolitik wendet sich also, zusammenfassend, gegen die Ergebnisse dessen, was der europäische Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert angestrebt und vielfach erfolgreich verwirklicht hat: die Konvergenz von ethnischer und staatlicher Grenze. Die tiefen Bruchlinien, die eine solche Politik insbesondere im 20. Jahrhundert geschlagen hat, sollen durch eine planmäßige, gestaffelte Projektoffensive zu bloßen Demarkationslinien zurückgestuft werden.