Angesichts der fast flächenhaften demographischen Schrumpfung in Ostdeutschland – ca. 83 % der Gemeinden hatten von 2000 bis 2005 Bevölkerungsverluste (Abb. 1) – stellt sich zunehmend die Frage nach der Aufrechterhaltung des Gleichgewichtspostulats der Lebensverhältnisse. Dementsprechend zeichnet sich der öffentliche Diskurs zum demographischen Wandel in Ostdeutschland durch eine große Vielfalt aus. Die Bandbreite reicht von Horrorszenarien über „Einwohnerkannibalismus“ oder Negativszenarien wie „Dem Osten laufen die Ossis weg“ über Euphemismen wie Unterjüngung statt Überalterung, Stabilisierungsraum statt Problemraum bis hin zu völlig irrationalen Wunschvorstellungen über ein Bevölkerungswachstum. Nötig wäre es jedoch zu verdeutlichen, dass der demographische Schrumpfungsprozess in Ostdeutschland kein kurzzeitiges zyklisches Phänomen ist. Vielmehr ist für die nächsten Jahrzehnte deutlich vorgezeichnet, dass es zugleich differenzierte regionale Entwicklungspfade, ein Nebeneinander von Schrumpfung und Wachstum, von Gewinner- und Verliererregionen geben wird und damit auch einschneidende Auswirkungen auf die regionalen Lebensverhältnisse verbunden sein werden. Der breiten Öffentlichkeit scheinen die Tragweite der Probleme und die daraus resultierenden Handlungserfordernisse noch nicht in vollem Umfange bewusst zu sein. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) und das zugeordnete Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) haben sich mit dem Raumordnungsbericht 2005, der Raumordnungsprognose 2020/2050, dem Diskurs zu den neuen Leitbildern zur Raumentwicklung in Deutschland und der BBR-Online-Publikation über Herausforderungen deutscher Städte und Stadtregionen der Aufgabe gestellt, die räumlichen Dimensionen des demographischen Wandels noch stärker in der politischen Agenda und den öffentlichen Diskursen zu verankern (BBR 2006, S. 14). Der speziellen Bedeutung dieser Aufgabe in Ostdeutschland widmete sich u.a. der 2. Demographiegipfel des Freistaats Sachsen im November 2006 (Sächsische Staatskanzlei 2006).
Bevölkerungsentwicklung ostdeutscher Gemeinden 2000–2005 Quelle: Statistische Landesämter, eigene BerechnungenAbbildung 1
Auch wenn es nach dem Bevölkerungswissenschaftler Birg demographisch bereits dreißig Jahre nach zwölf ist, gilt es, auf den demographischen Wandel nicht nur zu reagieren, sondern ihn zu gestalten. Die besondere Brisanz dieser Thematik in Ostdeutschland macht regional differenzierte Analysen für entsprechende Entwicklungskonzepte nötig, um regionale Anpassungsstrategien entwickeln zu können und somit die Zukunftsfähigkeit des Ostens unter Schrumpfungsbedingungen zu erhalten.
War das Grundmuster der ostdeutschen Raumentwicklung Mitte der 1990er Jahre noch von der Suburbanisierung dominiert (Brake et al. 2001; Herfert 2002, 2003), so hat dieser Prozess zehn Jahre später seine raumprägende Wirkung verloren. So wird auch vom BBR (2006, S. 25) für alle deutschen Stadttypen, von den stark wachsenden bis zu den stark schrumpfenden, ein deutlicher Rückgang der Stadt-Umland-Wanderung konstatiert. Die Expertenkommission „Demographischer Wandel Sachsen“ (Sächsische Staatskanzlei 2006) spricht von Anzeichen, dass die Suburbanisierungsringe um die Großstädte an Attraktivität verlieren. Koppen (2005) verweist mittels positiver Wanderungssalden der ostdeutschen kreisfreien Städte bereits auf eine mögliche Trendumkehr zur Reurbanisierung.
Real hat in den ehemals sehr dynamisch wachsenden suburbanen Räumen Ostdeutschlands schon ein demographischer Schrumpfungsprozess eingesetzt (Herfert 2004), bedingt durch das Wegbrechen der zentrifugalen Wanderungsströme als fast einziger Quelle des bisherigen suburbanen Wachstums. Die meisten Umlandregionen der Oberzentren hatten 2005 bereits einen negativen Saldo mit der Kernstadt. Einzig die Stadtregion Berlin ist als Suburbanisierungsinsel in der ostdeutschen Schrumpfungslandschaft verblieben (Abb. 2). Das schließt jedoch nicht aus, dass einzelne, zumeist unmittelbar an ein Oberzentrum angrenzende Gemeinden weiterhin Wanderungsgewinne aus der Kernstadt aufweisen (Abb. 3). Es sind Gemeinden in optimaler Verkehrslage zur Kernstadt, ausgestattet mit einer guten technischen und sozialen Infrastruktur. Sie dürften durch ihre Attraktivität als Wohnstandort auch perspektivisch weiterhin Zielräume von Stadt-Umland-Wanderern sein. Dazu gehören z. B. Städte wie Markkleeberg (23 000 Ew.) oder Radebeul (33 000 Ew.) in unmittelbarer Randlage zu Leipzig bzw. Dresden. Generell haben sich die Fortzüge aus den Kernstädten ins Umland in den letzten Jahren auf einem niedrigen Niveau von 10 Promille pro Jahr eingepegelt. Nur in den großen Stadtregionen Mecklenburg-Vorpommerns verläuft dieser Trend infolge einer gewissen Persistenz des Einfamilienhausidols in den ländlichen Regionen etwas zeitverzögert, dennoch auch hier stetig abnehmend.
Durchschnittliche jährliche Wanderungssalden ostdeutscher Oberzentren mit ihrem Umland 1993–1998 und 2000–2003 Quelle: Statistische Landesämter, eigene BerechnungenAbbildung 2
Wanderungssalden von Umlandgemeinden mit ihrem Oberzentrum 2004–2005Abbildung 3
Nach den aktuellen Wanderungssalden verliert jedoch Suburbia bereits in fast allen Altersgruppen Bevölkerung an die Kernstädte. Von einer einst das Klischee der Suburbanisierung bestimmenden Wanderung junger Familien ins Umland sind lediglich Rumpfelemente übrig geblieben. Die Dominanz junger Single-Haushalte bestimmt aktuell das Bild eines nunmehr auf die Kernstadt orientierten Wanderungsmusters (Abb. 4). Heute noch von einer anhaltenden Suburbanisierung in Ostdeutschland zu sprechen, geht an den Realitäten vorbei. Der einst demographisch prosperierende suburbane Raum in Ostdeutschland, wo auch positive Effekte der Suburbanisierungsphase auf die natürliche Bevölkerungsentwicklung eher gering blieben, ist allmählich Teil der demographischen Schrumpfungslandschaft geworden.
Wanderungssaldo der Stadt Leipzig mit den Umlandkreisen nach Alter und Familienstand 2000 und 2005 Quelle: Statistisch es Landesamt Sachs en, eigene BerechnungenAbbildung 4
Es sprechen viele Argumente dafür, dass sich dieser Zustand mittelfristig nicht ändern wird. Dafür spricht nicht nur der Wegfall bisher begünstigender Faktoren wie die Eigenheimzulage und die Pendlerpauschale bis 20 km. Entscheidend dürfte im Rahmen des demographischen Wandels vor allem die starke Abnahme der jungen Familienhaushalte – der potenziellen Suburbaniten – sein. Hinzu kommt die in den letzten Jahren konstatierte Abschwächung des Wohnleitbildes vom freistehenden Einfamilienhaus (Brühl 2005; Schmidt/ Große Starmann 2006; Guratzsch 2006). Damit im Zusammenhang stehen Faktoren wie die verstärkte Wahrnehmung zunehmender Kosten des Umlandwohnens, der Wertverlust von Wohnimmobilien in Ostdeutschland – von 1995 bis 2005 lag der Wertverfall von Einfamilienhäusern im Durchschnitt bei 15,5 % (Guratzsch 2006) – oder die generell wachsende Ungewissheit der zukünftigen Lebensverhältnisse und nicht zuletzt die wieder zunehmende Attraktivität des Wohnens in der Stadt.
Bereits Ende der 1990er Jahre zeichnete sich das Bild einer sich polarisierenden ostdeutschen Raumentwicklung ab (Herfert 2004; Herfert/Lentz 2006). Auch die neueste Raumordnungsprognose 2020/2050 des BBR (2006) verweist auf eine regionale Spaltung der Entwicklungsdynamik in Deutschland, speziell in Ostdeutschland auf einen fast flächendeckenden Schrumpfungsraum mit einigen Wachstumsinseln.
Wie differenziert sich nun das aktuelle Bild der ostdeutschen Raumentwicklung und welche demographischen Faktoren stehen dahinter? Schon die räumliche Verteilung der Bevölkerungsentwicklung der Gemeinden 2000–2005 lässt die wenigen Wachstumsinseln in einem sich weiter differenzierenden demographischen Schrumpfungsraum erkennen. Bei der durchgeführten Generalisierung der Raummuster wurden die Städte als Träger der Regionalentwicklung besonders gewichtet. Um den sich verändernden demographischen Entwicklungstrends seit 2000 Rechnung zu tragen, erfolgte die Analyse in zwei Zeitschnitten (2000-2003 sowie 2003–2005).
Für den Zeitraum 2000–2003 zeichnen sich in Ostdeutschland zwei polarisierte Raum typen ab (Abb. 5): die Wachstumsinseln Berlin/Potsdam, Dresden, Leipzig und die thüringische Städtereihe mit Jena, Weimar und Erfurt einerseits und großflächige Regionen mit sehr stark schrumpfender Bevölkerung andererseits. Letztere bilden Bänder u. a. von altindustriellen Regionen wie von Dessau über Gera bis ins Erzgebirge, von ländlichen peripheren Regionen aus Südbrandenburg über Sachsen-Anhalt bis nach Mecklenburg sowie entlang des gesamten deutsch-polnischen Grenzraums von der Oberlausitz bis nach Vorpommern. Randlich bzw. zwischen diesen polarisierten Raumtypen befinden sich Regionen mit geringen bis starken Bevölkerungsverlusten (-0,5 bis -1,5% p.a), u.a. gelegen im engeren und weiteren Umland der Wachstumsinseln sowie entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze und der Ostseeküste. Man kann somit hinsichtlich der demographischen Entwicklung Ostdeutschlands von einer räumlichen Dreiteilung sprechen: von zwei polarisierten Raumtypen und einem Übergangstyp, letzterer sowohl mit Potenzialen nach oben (Region Chemnitz-Zwickau) als auch nach unten (Grenzräume zu strukturschwachen Gebieten Niedersachsens). Vergleicht man diese Raumgliederung mit der neuen raumstrukturellen Grundgliederung Deutschlands im Raumordnungsbericht 2005 (BBR 2005b), wo der Raum nach Zentrenerreichbarkeit und Bevölkerungsdichte in Zentralräume, Zwischenräume und Peripherieräume gegliedert wird, zeigt sich, dass die demographische Entwicklung in allen drei Grundtypen stark variiert. Es gibt aus demographischer Sicht folglich nicht
Regionale Polarisierung der demographischen Entwicldung in Ostdeutschland 2000–2003 Quelle: Statistische Landesämter, eigene BerechnungenAbbildung 5
Diese großräumige Bipolarität von Schrumpfung und Wachstum (s.a. BBR 2006) resultiert nur in geringem Maße aus der natürlichen Bevölkerungsentwicklung, sondern dominant aus der regional differenziert verlaufenden zweiten Abwanderungswelle (seit 1997) in die alten Länder. So lag die durch die Westwanderung geprägte Varianz des Wanderungssaldos der ostdeutschen Gemeinden in den zurückliegenden Jahren wesentlich höher als beim natürlichen Saldo (Abb. 6). Folglich ist das Raummuster der Bevölkerungsentwicklung mit dem der Westwanderung weitestgehend identisch, konzentrieren sich die Städte mit hohen Wanderungsverlusten in die alten Länder (< -10 Promille/Jahr) fast ausschließlich in den stark schrumpfenden Regionen.
Verteilung des jährlichen Wanderungs- und natürlichen Saldos ostdeutscher Gemeinden 2000–2005 Quelle: Statistische Landesämter, eigene BerechnungenAbbildung 6
Die Westwanderung und der damit eng korrelierende Faktor Arbeit bzw. Sicherheit des Arbeitsplatzes war somit die entscheidende Komponente der regionalen Differenzierung der Bevölkerungsentwicklung. Während die Wachstumsinseln aufgrund ihres positiven Images, ihres Wissenspotenzials und ihrer relativen Arbeits-/Ausbildungsplatzattraktivität nur geringe Abwanderungsverluste von jährlich ca. 5 Promille hatten, verloren die stark schrumpfenden Regionen aufgrund des anhaltend hohen Beschäftigtenabbaus ein Vielfaches davon. In den Oberzentren Cottbus und Dessau waren es jährlich mehr als 20 Promille, in der Stadt Weißwasser – dem ostdeutschen Extremfall – allein 43 Promille im Jahr 2001. Diese Regionen leiden besonders unter den Nachwirkungen des starken Deindustrialisierungsprozesses der 1990er Jahre und der daraus resultierenden hohen Arbeitslosigkeit. Dass die West-wanderung in den Übergangsregionen geringer ausfiel, war entweder der Ausstrahlungskraft der ostdeutschen Wachstumsinseln, der Lage zu westdeutschen Arbeitsmarktzentren oder regionalen Rekreationspotenzialen geschuldet.
Nach der zweiten Abwanderungswelle in die alten Bundesländer, die 2001 mit einem Saldo von -98 000 Personen ihren Höhepunkt erreichte, scheinen sich die Wanderungsverluste mit jährlich ca. 50 000 Personen auf einem höheren Niveau als Mitte der 1990er Jahre einzupegeln (Abb. 7). Der Osten Deutschlands verliert dabei weiterhin Bevölkerung in allen Altersgruppen, mit Ausnahme der Rentner. Thematisiert wurden in den letzten Jahren vor allem die überdurchschnittlichen Wanderungsverluste von Frauen, insbesondere in jüngeren Altersgruppen. Real ist in fast allen Regionen Ostdeutschlands bereits ein Männerüberschuss zu verzeichnen, in einigen peripheren ländlichen Regionen liegt der Frauenanteil je 100 Männer in der Altersgruppe 18–29 Jahre bereits unter 80 % (Berlin-Institut 2005). Dieses Frauendefizit resultiert jedoch nicht aus einem überdurchschnittlichen Fortzug weiblicher Personen in die alten Länder – hier sind die Geschlechtsproportionen ausgeglichen –, sondern aus dem unterdurchschnittlichen Zuzug von Frauen aus den alten Ländern (Abb. 8). Seit 2000 haben sich die Disproportionen in der Sexualstruktur der Wandernden stark verringert, sind eher marginal, da die überproportionalen Verluste der 18- bis 25-Jährigen durch den Frauenüberschuss der Altersgruppe 26–35 Jahre fast ausgeglichen werden.
Wanderungssaldo der neuen Bundesländer (ohne Berlin) mit den alten nach Geschlecht 1991–2005Abbildung 7
Geschlechtsproportionen der Wanderungen zwischen Ostdeutschland (ohne Berlin) und den alten Bundesländern: Anteil der Frauen an den Zu- und Fortzügen 1991–2005Abbildung 8
Wanderungssaldo: Frauenüberschuss/-defizit nach Altersgruppen 2000–2004 Quelle: Statistische Landesämter, eigene Berechnungen
So lag 2004 das Defizit in der Altersgruppel8–35 Jahre nur bei ca. 2 000 Frauen. Man kann jedoch angesichts der demographischen Polarisierung zwischen den Regionen davon ausgehen, dass sich die Disproportionen zwischen Männern und Frauen regional differenzieren.
Aufgrund der Bedeutung der Westwanderung für die demographische Entwicklung in Ostdeutschland konzentrierten sich jüngste Untersuchungen verstärkt auf die Motive der Abwanderung in den Westen und auf vorhandene Rückwanderungspotenziale (u.a. Dienel 2004; Schulz 2004; Friedrich/Schulz 2005; Gerloff 2005; nexus 2005). Eine Hoffnung auf Änderung des Abwanderungstrends ist danach aufgrund der erwartungsgemäß stärker ausbildungs- und arbeitsplatzbezogenen Wegzugsgründe generell nicht zu erwarten. Auch stehen einer potenziellen Rückkehrbereitschaft von fast 50 % (Friedrich/Schulz 2005) trotz emotionaler Heimatbindung zu hohe Einkommenserwartungen entgegen.
Die Bipolarität der ostdeutschen Raumentwicklung hat sich in den letzten Jahren weiter stabilisiert (Abb. 9). Vor dem Hintergrund sich generell leicht abschwächender Bevölkerungsverluste, bedingt durch den Rückgang der Westwanderung, blieben die regionalen Raummuster weitestgehend bestehen. Während sich die Region Rostock als neuer Wachstumsraum etablieren konnte, gehört der Verdichtungsraum Chemnitz/ Zwickau weiterhin zum Übergangstyp. Die Konfiguration der Wachstumsräume reduzierte sich auf die Kernstädte und wenige angrenzende Gemeinden – mit Ausnahme von Berlin/Potsdam. Deutlicher als zuvor zeigt sich im Raummuster eine Distanzempfindlichkeit zu den Wachstumsinseln. Während in Übergangsräumen Stabilisierungseffekte im Sinne einer gedämpften Schrumpfung hervortreten, ist in den stark schrumpfenden Regionen eine steigende Homogenisierung des Negativtrends, somit eine Verringerung der kleinräumigen Bipolarität zu beobachten. Hier konzentrieren sich zudem Städte mit hohen Bevölkerungsverlusten, die entgegen dem allgemeinen Trend eine wachsende Negativentwicklung aufweisen. Neben einigen Mittelstädten sind dies vor allem viele Kleinstädte, was insbesondere für die peripheren ländlichen Regionen problematisch sein dürfte, wo diese Städte wesentliche Träger der Regionalentwicklung sind. Damit verstärken sich folglich bereits Negativeffekte, werden Regionen vom allgemeinen Entwicklungstrend abgekoppelt.
Regionale Polarisierung der demographischen Entwicklung in Ostdeutschland 2003–2005 Quelle: Statistische Landesämter, eigene BerechnungenAbbildung 9
Für diese demographischen Raumtypen, abgegrenzt nach Einwohnerentwicklung und Bevölkerungspotenzialen, stellt sich natürlich die Frage nach ihrer Homogenität hinsichtlich weiterer demographischer Strukturmerkmale und möglicher Entwicklungstrends.
Jeder der drei Raumtypen besitzt hinsichtlich der Dominanz der Komponenten der demographischen Entwicklung weitestgehend homogene Strukturen. Folgendes Grundmuster lässt sich erkennen:
Die regionale demographische Entwicklung Ostdeutschlands wird somit weiterhin – im Gegensatz zur Betrachtung auf Länderebene – entscheidend durch die Wanderungskomponente bestimmt.
Deutlich polarisierte Strukturen zwischen den Raumtypen zeigen sich auch hinsichtlich des Trends der Bevölkerungsentwicklung nach Gemeindegrößengruppen von 2000 bis 2005 (Abb. 10):
Bevölkerungsentwicklung nach Raumtypen und Gemeindegrößengruppen 2000–2005 (Index 2000 = 100) Quelle: Statistische Landesämter, eigene BerechnungenAbbildung 10
Die Wachstumsräume – hier analysiert nach Stadtregionen – zeichnen sich durch Kernstädte mit leichten Bevölkerungsgewinnen aus, während die anderen Gemeindegrößengruppen gering verlieren, am stärksten die kleinen Gemeinden. Hier hat sich nach der Suburbanisierungsphase die Bipolarität der demographischen Entwicklung umgekehrt. In den stark schrumpfenden Räumen ist ein anhaltend hoher Negativtrend in allen Größengruppen typisch, ein „kollektives“ Schrumpfen in den Regionen. Oft sind davon die Regionalzentren am stärksten betroffen. Auch in den Übergangsregionen ist ein Negativtrend in allen Größengruppen typisch, wenngleich leicht abgeschwächt. Positiv für diese Regionen ist, dass viele Regionalzentren hier vergleichsweise geringere Bevölkerungsverluste aufweisen.
In den Wachstumsräumen sind damit erste Anzeichen für eine Trendwende von der Sub- zur Reurbanisierung erkennbar – im Sinne eines Anstiegs des Bevölkerungsanteils der Kernstadt an der Gesamtbevölkerung der Agglomeration. Für die Entwicklung in den Schrumpfungsräumen dürfte hingegen die Verwendung gängiger Termini der Stadtforschung problematisch sein.
Hier vollziehen sich flächenhafte räumliche Dekonzentrationsprozesse, erfolgt ein generelles Abschmelzen des Bevölkerungspotenzials, was aber nicht im Sinne einer Disurbanisierung zu verstehen ist.
Sowohl das Bevölkerungswachstum einiger Kernstädte wie auch die neue Bipolarität der demographischen Entwicklung in den Wachstumsräumen lassen Ansätze zu einer Trendwende zur Reurbanisierung in Ostdeutschland erkennen. Kann man deshalb schon von einer Rückkehr in die Stadt sprechen? Der aktuell sehr stark geführte Diskurs definiert Reurbanisierung weniger als Rückkehr in die Stadt, sondern eher als eine Rückkehr des Städtischen im Sinne einer Aufwertung innerstädtischer Wohnquartiere aus qualitativer Perspektive (u.a. Haase/Kabisch/Steinführer 2005; Fritz – sche/Haase/Kabisch 2005; Brühl 2005; Opaschowski 2005; Schmidt/Große Starmann 2006). Einen mehr quantitativen Zugang versucht Koppen (2005, S. 6) und verweist mit Bezug auf die kleinräumigen Wanderungsverflechtungen auf eine „echte, kleine Reurbanisierung“, die durch einen zeitweiligen Kohorteneffekt verstärkt wird. Eine übertragbare Regelhaftigkeit dieser Trends für ostdeutsche Städte war aber bisher nicht hinreichend gesichert.
Aus quantitativer Perspektive kann davon ausgegangen werden, dass Reurbanisierungsprozesse in Ostdeutschland aktuell nur in den Wachstumsinseln stattfinden. Getragen sind diese Prozesse vorwiegend durch interregionale Wanderungsströme innerhalb der neuen Bundesländer und aus dem Ausland (Abb. 11), während Wanderungsgewinne aus dem Umland eher marginal sind. Intraregional sind es nur die jungen Haushalte der 19- bis 25-Jährigen, die ihren Lebensraum im Rahmen ihrer Ausbildung in die Kernstadt verlagern. Von einem generellen zentripetalen Trend innerhalb der Stadtregion, geschweige denn sogar einer Rückwanderung von Familien aus dem suburbanen Raum in die Kernstadt (Schmidt/Große Starmann 2006), kann derzeit folglich nicht gesprochen werden.
Wanderungssalden der Stadt Leipzig und des Kreises UeckerRandow mit ausgewählten Regionen 2000–2005 Quelle: Statistische Landesämter, eigene BerechnungenAbbildung 11
Auch die aus den neuen Ländern in die Kernstädte gerichteten Wanderungsströme werden entscheidend durch die starke Dominanz der jungen Haushalte (19–25 Jahre) geprägt – und dieser Trend hat sich in den letzten Jahren verstärkt (Abb. 12). Wenngleich generell in allen Altersgruppen – vom Kleinkind bis zum Rentner – Wanderungsgewinne vorliegen, wird die Reurbanisierung dominant von den sehr mobilen Altersgruppen getragen, d.h. vorwiegend von Singles und kinderlosen Partnerschaften, während Familien nur eine untergeordnete Rolle spielen (Abb. 13). Wie das Beispiel der Stadt Leipzig zeigt, treten neben den dominanten 19- bis 25-Jährigen auch die 26- bis 35Jährigen hervor, die bereits verstärkt im Erwerbsleben stehen,. Der Reurbanisierungstrend basiert folglich im Wachstumsraum Leipzig nicht nur auf lebenszyklusbedingten Zuzügen von Bildungswanderern – wie vielfach vermutet wird. Das bestätigen auch neuere qualitative Untersuchungen (Wiegandt 2005). Danach sind nur ca. 30 % der Zuziehenden nach Leipzig Studenten und Auszubildende, hingegen ca. 45 % Erwerbstätige, die überwiegend über einen (Fach-)Hochschulabschluss verfügen und im gehobenen und höheren Dienst tätig sind.
Wanderungssalden der Stadt Leipzig, des Kreises Uecker-Randow und der Stadt Guben nach Alter und FamUienstand 2000-2005 Quelle: Statistische Landesämter, eigene BerechnungenAbbildung 12
Wanderungssalden der Stadt Leipzig mit ausgewählten Regionen nach Alter, Familienstand 2005 Quelle: Statistisches Landesamt Sachsen, eigene BerechnungenAbbildung 13
Damit sind erste Anzeichen vorhanden, dass die ostdeutschen Wachstumsinseln für die neuen Bundesländer zu einem attraktiven Zuzugsraum für Berufseinsteiger mit höherer Qualifikation geworden sind. Mit den alten Ländern – mit Ausnahme von Berlin – bestehen hingegen immer noch leichte Defizite. Mit der Zuwanderung besonders jüngerer Altersgruppen dürfte zudem ein deutlicher „Verjüngungsschub“ eintreten, wodurch die strukturell vorgegebene Alterung der Bevölkerung abgedämpft wird. Damit werden sich die Wachstumsinseln bei anhaltendem Reurbanisierungstrend zunehmend aus der stark alternden Schrumpfungslandschaft Ostdeutschlands herausheben.
Inwieweit die Außenwanderung den Reurbanisierungstrend in den Wachstumsräumen positiv beeinflussen wird, ist zurzeit nur schwer abzuschätzen. Zumindest ist bei einer anhaltenden positiven wirtschaftlichen Entwicklung mit einer zunehmenden Internationalisierung zu rechnen.
Auch innerhalb der Wachstumsräume setzt sich der Prozess der Reurbanisierung im Sinne einer Aufwertung bestimmter Stadtquartiere fort, insbesondere in den Gründerzeitquartieren. Die Hauptwanderungsströme in den Kernstädten sind von der Peripherie auf die Innenstadt gerichtet (Abb. 14). Eingemeindete Ortsteile, die ehemals Teil des suburbanen Umlands waren, sind heute zumeist nicht mehr präferierte Zuzugsziele. Die Vermutung einer statistisch verdeckten Suburbanisierung durch die Eingemeindungen bestätigt sich damit nicht. Infolge der dominant zentripetalen Umzugsströme innerhalb der Stadt setzt sich der regionale Polarisierungsprozess kleinräumig zwischen den Quartieren fort (Haase/Fritzsche/Kabisch/Steinführer 2006).
Saldierte Umzugsströme innerstädtischer Ortsteile in Leipzig und Rostock 2000–2005 Quelle: Ämter für Statistik Leipzig und Rostock, IfL-Visualisierungsmodell innerstädtische WanderungenAbbildung 14
In den stark schrumpfenden Räumen hat ein demographischer Entwicklungspfad des „kollektiven Abglei-tens“ in allen Gemeindegrößengruppen eingesetzt. Von dieser flächenhaften Dekonzentration sind die Städte, insbesondere viele Kleinstädte besonders betroffen. Hingegen sind die Bevölkerungsverluste in den kleinen Gemeinden etwas geringer, was zum einen bedingt ist durch fehlende Abwanderungspotenziale, zum anderen durch erzwungene (Immobilienbesitz) oder gewollte (Identifikation mit der Region) Immobilität (Herfert 2004). Eine deutliche Abschwächung des Negativtrends ist aktuell nicht in Sicht, da die Wanderungsmuster weiterhin von der starken Abwanderung in die alten Länder dominiert werden, teilweise sogar mit steigender Tendenz. Zugleich, wenn auch in abgeschwächtem Umfang, sind diese stark schrumpfenden Regionen auch Quellgebiet für die ostdeutschen Wachstumsinseln (Abb. 11). Die Auszehrung ihres Humankapitals erfolgt spiegelbildlich zu den Wachstumsräumen.
Zunehmend konzentriert sich die Abwanderung auf die jungen Mobilen der 19- bis 35-Jährigen (Abb. 12). Im Kreis Uecker-Randow in Mecklenburg-Vorpommern erhöhte sich ihr Anteil am Wanderungsdefizit im Zeitraum 2000–2005 von 70 % auf fast 80 %. Familien mit Kindern sind an diesem Auszehrungsprozess nur randlich beteiligt, das betrifft auch die Westwanderung.
Trotz ähnlich hoher Bevölkerungsverluste fallen Universitätsstädte wie Cottbus oder Frankfurt/Oder aus diesem Wanderungsmuster heraus. Sie sind einerseits Zielräume junger Singles aus der Region, den neuen Ländern wie auch dem Ausland, verlieren andererseits dieses Humankapital wieder an die alten Länder. Aufgrund der wirtschaftlichen Schwäche verlassen hier nicht nur die jungen Mobilen nach der Ausbildung die Stadt Richtung Westen, es sind weiterhin auch Familien mit Kindern – wenn auch mit rückläufiger Tendenz.
Besonders betroffen von der demographischen Schrumpfung sind jene Städte, die von der ökonomischen Transformation besonders betroffen waren und weiterhin unter extrem hohen Wanderungsverlusten leiden (u.a. Wolfen, Weißwasser, Guben, Hoyerswerda, Wittenberge). Hier ist der Leidensdruck der Bevölkerung so hoch, dass neben den jungen Mobilen auch Familien mittlerer und höherer Altersgruppen die Stadt verlassen. Auch verstärken sich hier die ansonsten nur noch geringen Disproportionen in der Sexualstruktur der Wandernden – die überdurchschnittlichen Verluste der Frauen im Alter von 19 bis 25 Jahren werden durch die nächste Kohorte nicht oder nur leicht ausgeglichen.
Trotz dieser Negativbilanz gibt es aus demographischer Sicht auch positive Ansätze in den stark schrumpfenden Räumen. Innerhalb der Kreise vollziehen sich leichte Konzentrationsprozesse. Die größeren Städte sind aufgrund ihrer Arbeitsplatzzentralität das Ziel sowohl junger Bevölkerungsgruppen als auch teilweise von Familien mittleren Alters. Auch für Rentner sind diese Städte Zuzugsräume. Bei den in die Städte gerichteten Wanderungsströmen sind die Sexualproportionen der jungen Altersgruppen jedoch umkehrt proportional zu den interregionalen Wanderungen. Das erklärt auch das hohe Defizit junger Frauen (19–25 Jahre) in der Wanderungsbilanz der Kreise. Während der Abwanderungstrend junger Männer verstärkt erst nach der Ausbildung einsetzt, verlassen viele Frauen bereits nach der Schulausbildung die Region. Auch Gerloff (2004) verweist auf eine höhere Migrationsbereitschaft der Frauen infolge der für sie schlechteren Lehrstellensituation.
In den Übergangsräumen ist die demographische Schrumpfung zwar leicht gedämpft, dennoch ebenfalls problematisch. Die Grenzen zu den stark schrumpfenden Räumen sind sehr fließend. So existierte zu Beginn des neuen Jahrzehnts entlang der Autobahn zwischen Berlin und Rostock noch ein Korridor, der heute zum Teil mit den stark schrumpfenden Regionen verschmolzen ist. Dennoch sind heute mehr als zuvor Verkehrsanbindungen und die Lage zu Wachstumsräumen dominante raumprägende Faktoren. Das betrifft auch die Lage zu westdeutschen Wirtschaftszentren, z. B. die Ausstrahlungseffekte von Hamburg und Lübeck, wo sogar Suburbanisierungseffekte in den ostdeutschen Raum übergreifen. Hier wie auch in Randlage zum Großraum Hannover findet man teilweise sogar Bänder demographisch wachsender Gemeinden entlang von Verkehrstrassen (z.B. Gardelegen – Oebisfelde – Wolfsburg). Als raumstabilisierender Faktor erwies sich auch das Rekreationspotenzial entlang der Ostseeküste und in Teilen der Mecklenburgischen Seenplatte. Ungünstige Lage- und Anbindungsfaktoren führen hingegen dazu, dass selbst Regionen in Grenzlage zu den alten Ländern, wo benachbarte prosperierende Zentren fehlen, in einen stärkeren Negativtrend abdriften, wie z. B. der Norden der Altmark oder die Prignitz.
Die demographische Entwicklung in den Übergangsregionen wird somit in starkem Maße von der Lage zu den Wachstumsinseln beeinflusst. Je näher diese liegen, desto gedämpfter ist die Schrumpfung im Übergangsraum. Die Randlagen zu den stark schrumpfenden Regionen sind hingegen von stärkeren interregionalen Abwanderungstendenzen betroffen.
Innerhalb der Übergangsräume vollziehen sich – analog den stark schrumpfenden Räumen – leichte Konzentrationsprozesse. Von den zentripetalen Wanderungsströmen der vorrangig mobilen Altersgruppen profitieren insbesondere die Mittelzentren (Abb. 15).
Regionale Reurbanisierungstendenzen in Westsachsen 2002–2005 Quelle: Statistisches Landesamt Sachsen, eigene BerechnungenAbbildung 15
In den Sozial- und Raum- wie auch Wirtschaftswissenschaften herrscht weitestgehend Einigkeit über die zunehmenden räumlichen Disparitäten in Ostdeutschland (u.a. Mai 2004; BBR 2006; Gans/Schmitz-Veltlin 2006; Franz 2005; Gatzweiler/Milbert 2006; Ragnitz 2005; Schmidt/Große Starmann 2006; Sächsische Staatskanzlei 2006). Das demographische Raummuster zeigt bereits seit Ende der 1990er Jahre divergierende Entwicklungspfade aufgrund unterschiedlicher wirtschaftlicher Entwicklungen, Wissenspotenziale wie auch Images von Regionen. Auch wenn demographische Kennziffern nur eine Seite der Realität beschreiben, ist das bipolare demographische Raummuster in Ostdeutschland dennoch weitgehend Spiegelbild der ökonomischen „Leuchttürme“ in der ostdeutschen Schrumpfungslandschaft. Dementsprechend kann eine Korrelation zwischen Bevölkerungsentwicklung und Beschäftigtenentwicklung nach Raum typen (Abb. 16) konstatiert werden. Dennoch verweist der jährliche Beschäftigtenrückgang in den Wachstumsräumen von über 2 % im Zeitraum 2000–2005 auf das für Ostdeutschland typische Phänomen des „jobless growth“ (s.a. Franz 2005).
Durchschnittliche jährliche Bevölkerungs- und Beschäftigtenentwicklung ostdeutscher Städte >10 000 Einwohner nach Raumtypen 2000–2005 Quelle: Statistische Landesämter, Bundesagentur für Arbeit, eigene BerechnungenAbbildung 16
Da davon auszugehen ist, dass sich diese ökonomischen Leuchttürme weiter stabilisieren werden, wird sich in den Wachstumsinseln der Reurbanisierungstrend fortsetzen. Dämpfend dürften sich zwar die schwächeren Kohorten der Nachwendezeit auswirken.
Dennoch werden die Wachstumsinseln aufgrund ihrer Attraktivität als Wirtschafts-, Hochschul- und Forschungsstandort sowie vieler weicher Standortfaktoren weiterhin Ziel interregionaler Wanderungen bleiben. Zugleich werden zunehmend mehr Zuziehende über die Studien-/Ausbildungsphase hinaus in der Kernstadt verbleiben. Generell kann von Wanderungsgewinnen bei Höherqualifizierten ausgegangen werden, was die Innovationskraft der Wachstumsräume weiter steigen lassen und zu einem langfristig verbesserten Wachstumspfad führen wird (Schmidt/Große Starmann 2006; Arntz 2006). Selbst bei einem Konjunkturaufschwung in Deutschland, wie man ihn aktuell beobachten kann, dürfte dieser Trend stabil bleiben, da insbesondere die Wachstumsräume davon profitieren werden, während der Aufschwung die stark schrumpfenden Regionen nur teilweise erreichen dürfte. Gleichzeitig wäre es unter diesen Bedingungen auch vorstellbar, dass die Wachstumsinseln verstärkt das Ziel von Rückwanderern aus den alten Ländern werden, sowohl von Studenten und Facharbeitern als auch von Berufstätigen, die ihr Wissen und ihre Fähigkeiten, evtl, auch ihr Kapital in diese Wachstumsinseln einbringen wollen (nexus 2005). Neben diesen Vorteilen werden die Wachstumsräume gerade in einer flächendeckend alternden Gesellschaft (BBR 2006) vom selektiven Zuzug junger Menschen profitieren, da sie das attraktive Bild einer Mehrgenerationen-Gesellschaft vermitteln.
Bevölkerungsgewinne der Kernstädte aus dem suburbanen Raum sind zumindest mittelfristig nicht zu erwarten, ausgenommen bei den jungen Ausbildungswanderern. Eine Rückkehr von Familien wird es vor allem durch die Bindung an das Wohneigentum (langfristige Kredite) vorerst nicht geben. Gleichzeitig ist nicht von einer Bevölkerungszunahme in den suburbanen Räumen auszugehen – wenngleich noch in der Raumordnungsprognose 2020/50 ausgewiesen -, da kein nennenswerter Trend in Richtung Eigentum am Stadtrand bei Familien und jüngeren kinderlosen Paaren feststellbar ist (Haase/Kabisch/Steinführer 2004). „Nachdem das Wohnen in innenstadtnahen Quartieren lange Zeit mit einem negativen Image belegt war, kann man heute mit vorsichtigem Optimismus von einer Wiederentdeckung des innenstadtnahen Wohnens sprechen“ (Brühl 2005, S. 13). Dieser Wertewandel des Wohnleitbildes ist auch in Kernstadten schrumpfender Regionen in Ansätzen zu beobachten (Oswald 2006).
Durchschnittliche jährliche Einwohner- und Beschäftigtenentwickiung ostdeutscher Städte >10 000 Einwohner in stark schrumpfenden Regionen 2000–2005 Quelle: Statistische Landesämter, Bundesagentur für Arbeit, eigene BerechnungenAbbildung 17
Generell ist davon auszugehen, dass der demographische Schrumpfungsprozess nicht mehr aufzuhalten, allenfalls noch graduell beeinflussbar ist (BBR 2006, S. 14). Auch wird die räumliche Polarisierung der demographischen Entwicklung durch wachsende Disparitäten der Erwerbsmöglichkeiten und Entwicklungsperspektiven (Kawka/Sturm 2006) zunehmen, aufgrund der differenzierten Wanderungsmuster in den Raumtypen sogar an Dynamik gewinnen. „Flächendeckend trägt Schrumpfung je nach Ausmaß und lokaler Ausprägung zu Wohnungsleerstand und Flächenüberhang, zu unterausgelasteten Infrastrukturen sowie zum Werteverfall von Grundstücken und Gebäuden bei. Funktionalität, Wirtschaftlichkeit und Attraktivität von Städten und Gemeinden geht verloren“ (Sächsische Staatskanzlei 2006, S. 13). Für elf Oberzentren bzw. oberzentrale Städteverbünde – fast ausnahmslos in Ostdeutschland gelegen – prognostizieren Pütz und Spangenberg (2006) aufgrund des Bevölkerungsrückgangs bis 2050 eine Gefährdung der Tragfähigkeit ihrer zentralörtlichen Funktionen. Folglich dürfte die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, insbesondere bei der Versorgung mit sozialer Infrastruktur, angesichts der Kosten nicht mehr flächendeckend sichergestellt werden können (u.a. Kaltenbrunner 2006).
Angesichts dieser räumlichen Disparitäten ist die Diskussion um die neuen Leitbilder der Raumentwicklung in Deutschland (BMVBS 2006) hinsichtlich eines Strategiewechsels von der Ausgleichs- zur Wachstumskernorientierung sehr polarisiert geführt worden (Aring/ Sinz 2006; Knieling 2006). Blotevogel (2006, S. 464) verweist darauf, dass mit den neuen Leitbildern jedoch kein raumordnungspolitischer Paradigmenwechsel – „weg von der Raumgerechtigkeit und hin zu Wachstum, Markt, Wettbewerb und Inkaufnahme verschärfter sozialräumlicher Ungleichheit“ – stattgefunden hat. Vielmehr erfolgte eine „gewisse Akzentverlagerung weg vom traditionell im Vordergrund der Raumordnung stehenden Ausgleichsprinzip, hin zu ausdifferenzierten Wachstums- und Sicherungszielen“ (ebda.). Dies zielt zum einen auf eine Stärkung des Entwicklungsauftrags der Raumplanung, auf ihren Beitrag für Wachstum und Innovation („Stärken stärken) in allen Regionen (Aring/Sinz 2006). Zum anderen erfolgt mit dem Leitbild eine neue Gewichtung des Ausgleichsauftrags, „indem zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse flexible Standards der Daseinsvorsorge gesucht werden, ohne die Versorgungsqualität zu verschlechtern“ (Lutter 2006, S. 449). Es geht letztlich darum, eine neue Balance zwischen notwendiger Konzentration von Entwicklungsimpulsen und möglichst flächenhafter Aufrechterhaltung von sozial verantwortbaren Mindeststandards der Daseinsvorsorge zu finden (Sinz 2006).
Wie könnte nun angesichts der starken demographischen Disparitäten in Ostdeutschland eine flexible Ausformung des Gleichgewichtspostulats erfolgen?
Hinsichtlich der eingangs beschriebenen Ausstrahlungskraft der Wachstumsräume dürfte die Konzentration von Entwicklungsimpulsen derzeit eine relevante Strategie sein, um Gegenpole zur flächenhaften Schrumpfung zu entwickeln. Die aktuellen Wachstumsinseln basieren in erster Linie auf einer hohen Konzentration von Humankapital, auf Lagevorteilen, einer zunehmenden Attraktivität der Innenstädte und auch auf der Neuorientierung der Förderpolitik – weg vom Gießkannenprinzip. Ausgehend von bereits vorhandenen endogenen Potenzialen wären Stadtregionen wie Chemnitz/Zwickau und Magdeburg, die bereits positive Entwicklungsansätze zeigen, potenzielle neue Wachstumsräume. Für die Niederlausitz könnte ein Wachstumsraum Cottbus als wesentlicher Stabilitätsfaktor in einer heute noch stark schrumpfenden Region wirken. Sinz (2006) schlägt ein Netz von Wachstumspolen und Ankerpunkten außerhalb von Metropolregionen in peripheren, dünn besiedelten Regionen vor. Es bleibt jedoch offen, ob in Schrumpfungsregionen eine Stabilisierung oder sogar Aufwertung von Räumen unter den Randbedingungen von Globalisierung, Deregulierung und begrenzter Einflussmöglichkeiten der öffentlichen Hand überhaupt eine realistische Perspektive ist (Blotevogel 2006). Letztlich laufen solche Strategien unter Schrumpfungsbedingungen auf eine weitere Konzentration in der Raumentwicklung hinaus. Damit würde sich das Ausbluten stark schrumpfender Räume sogar noch beschleunigen. Aber liegt nicht gerade in der Konzentration eine Chance, eine Stabilisierung schrumpfender Regionen im weiteren Umfeld von Wachstumsräumen herbeizuführen. Das würde jedoch gleichzeitig die Akzeptanz von sich ausdünnenden Räumen – oder sogar deren Entleerung – einschließen.
Ist damit das Postulat der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse gerade in stark schrumpfenden Regionen noch realisierbar?
Nach den Leitbildern für die Raumentwicklung in Deutschland bedeutet Gleichwertigkeit nicht identische Lebensverhältnisse an jedem Ort, geht es folglich nicht um Gleichheit von regionalen Ausstattungsmerkmalen, sondern um die Herstellung von Chancengerechtigkeit in allen Bereichen, die der Staat bereitstellt. Es gilt, „auch in Zukunft für die Bevölkerung in allen Räumen einen gleichberechtigten Zugang zu Einrichtungen und Diensten der Daseinsvorsorge mit qualitativen Mindeststandards und in zumutbarer Erreichbarkeit zu gewährleisten“ (Sinz 2006, S. 610).
Auch wenn diese qualitativen Mindeststandards noch sehr vage formuliert sind, dürfte es in den stark schrumpfenden Räumen generell schwierig sein, diese zu halten. Denn sollte der verstärkte Fortzug der jungen Mobilen anhalten, würde sich die Bevölkerung dieser Räume bis 2050 weit mehr als halbieren. Verstärkte Rückstufungen und Ausdünnungen der zentralörtlichen Netze entsprechend der Bevölkerungsverluste werden nötig sein, ohne dabei die unverzichtbare Stützfunktion des Zentrale-Orte-Systems in Frage zu stellen. Geht man von den aktuellen Wanderungsmustern aus, sollten vor allem die Mittelzentren als regionale Entwicklungsschwerpunkte stabilisiert werden. Mit der räumlichen Konzentration der Daseinsvorsorge sind zumindest für einen Teil der Bevölkerung verschlechterte Erreichbarkeitsbedingungen vorprogrammiert, wenngleich diese durch alternative Bedienungsformen abgemildert werden könnten. Generell ist jedoch in Teilbereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge ein Abrücken von tradierten Verhaltensweisen und Normen (Ragnitz 2005) notwendig.
Die im Leitbild „Wachstum und Innovation“ mit den Stabilisierungsräumen wie auch im Leitbild „Daseinsvorsorge sichern“ mit den gefährdeten Zentren hervorgehobenen Problemräume decken sich weitgehend mit den demographisch stark schrumpfenden Räumen. Sie verdeutlichen jedoch nicht die Flächenhaftigkeit der von wirtschaftlichen und demographischen Verwerfungen betroffenen Gebiete in Ostdeutschland. Möglicherweise war das aus politischen Gründen im Leitbild auch nicht gewollt. Als Strategie gegen eine Abwärtsspirale aus hoher Arbeitslosigkeit, Mangel an Perspektiven und Abwanderung werden in den Leitbildern die verstärkte Nutzung endogener Potenziale wie auch die Bildung solidarischer Partnerschaften zwischen Wachstums- und Stabilisierungsräumen vorgeschlagen. Eine Stabilisierung aufgrund besonderer regionaler Stärken (z.B. naturräumliche Attraktionen, wirtschaftliche Potenziale) bzw. aufgrund von Neu orientierungen (regional orientierte Wirtschaftkreisläufe) dürfte zwar teilräumlich möglich sein. Solidarische Partnerschaften zwischen Wachstums- und Stabilisierungsräumen dürften hingegen weniger realistische Perspektive als eher leere Raumordnungsrhetorik sein (Blotevogel 2006). Im wissenschaftlichen Diskurs sind auch alternative Nutzungen wie neue touristische Landschaften, Nischen der Wildnis, Zweitwohnsitze, Experimentierfelder neuer Technologien, alternative Lebensformen etc. genannt (Beetz 2006; Franz 2006; Goltz/Born 2005). Dennoch wird es Dörfer und sogar Räume geben, die kaum noch Entwicklungschancen haben werden.
Eine dementsprechende Strategie zum potenziellen Rückzug aus der Fläche, die angesichts der zu erwartenden hohen Bevölkerungsverluste adäquat wäre, ist in den neuen Leitbildern nicht zu finden. Eine solche wird hingegen im MORO (Modellvorhaben der Raumordnung)-Projekt zu Anpassungsstrategien für ländliche periphere Regionen mit starkem Bevölkerungsrückgang in den neuen Ländern vorgeschlagen (BBR 2005a). Danach ist in sehr dünn besiedelten Teilräumen ohne wirtschaftliche Entwicklungsperspektiven die akzeptierte Entleerung eine Option, wenn aufgrund anhaltender Bevölkerungsrückgänge ein großes Ungleichgewicht zwischen kostenintensiven Infrastrukturangeboten und verbleibender Nachfrage entsteht. Auch in der Politik öffnet sich angesichts der zu erwartenden regionalen Polarisierungstendenzen der Blick für die Realitäten. Der Landesentwicklungsminister von Sachsen-Anhalt, Dähre, warnte vor Blauäugigkeit: „In den ausgedünnten Regionen werden wir nicht alles erhalten können“ (Guratzsch 2006).
Um sich dem Postulat der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Ostdeutschland zu nähern, muss man aus regionaler Sichtweise die Abwanderung in die Städte und Wachstumsinseln folglich nicht als Problem, sondern als Teil einer Lösung sehen. „Politik und Raumplanung sollten diesen Trend unterstützen und sich auf viel versprechende Regionen und Kernstädte konzentrieren“ (Klingholz 2006). Bisher war der Blick vorrangig auf den Stadtumbau Ost gerichtet, perspektivisch wird man mehr auf den Umbau der Regionen in Ostdeutschland schauen müssen.
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