Racism is a social practice not only of present days. It has a long tradition. Regarding the history of racism, it is obvious that its concept is not based on biological knowledge and perception. Quite the contrary, it is the result of a verbal and social construction that appeared in the 18th century at the latest. This article focuses on the way this construction was and still is implemented in discourses of modern societies. Especially “degradation ceremonies” (Garfinkel, below) will be taken into account when observing historical examples.
Keywords
- Rassismus
- Begriffsgenese
- Präsuppositionen des Rassismus
- Ausgrenzungsstrategien – racism
- the development of the concept
- presuppositions
- degradation ceremonies
Im Jahre 1890 schrieb William James, einer der Begründer der modernen Psychologie:
A man’s Social Self is the recognition which he gets from his mates. We are not only gregarious animals, liking to be in sight of our fellows, but we have an innate propensity to get ourselves noticed, and noticed favorably, by our kind. No more fiendish punishment could be devised, were such a thing physically possible, than that one should be turned loose in society and remain absolutely unnoticed by all the members thereof. If no one turned round when we entered, answered when we spoke, or minded what we did, but if every person we met ‘cut us dead’, and acted as if we were non-existing things, a kind of rage and impotent despair would ere long well up in us, from which the cruellest bodily tortures would be a relief; for these would make us feel that, however bad might be our plight, we had not sunk to such a depth as to be unworthy of attention at all. Properly speaking, a man has as many social selves as there are individuals who recognize him and carry an image of him in their mind. To wound any one of these his images is to wound him. James (1890) Principles of Psychology, S. 293.
Was James hier beschreibt, ist mit wenigen Worten zusammengefasst das, was Menschen erleben, wenn man sie sozial ausgrenzt. Man muss mit den Wirkungen beginnen, um den Begriff, in diesem Fall den der Ausgrenzung, verstehen zu können. So definiert Charles Sanders Peirce, der Begründer der modernen Pragmatik: „Überlege, welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Bezüge haben könnten, wir dem Gegenstand unseres Begriffs in Gedanken zukommen lassen. Dann ist unser Begriff dieser Wirkungen das Ganze unseres Begriffs des Gegenstandes“ (Peirce [1985] Über die Klarheit unserer Gedanken, S. 33). Vgl. dazu Bauer (2011) Schmerzgrenze.
In der mittlerweile recht bekannten psychologischen Studie von Eisenberger, Lieberman und Williams aus dem Jahr 2003 mit der Frage im Titel Eisenberger/Lieberman/Williams (2003) Does rejection hurt?, S. 290–292.
Die moderne Hirnforschung jedenfalls bestätigt, was menschheits-, religions-, sozial- und moralgeschichtlich weitgehend Konsens ist: Der Mensch ist ein Zoon politikon, ein Ēns sociale, ein auf Sozialität und Gemeinschaft angewiesenes und nach Gemeinschaft strebendes Wesen. Zwischenmenschliche Anerkennung und gesellschaftliche Wertschätzung sind für ihn, und das heißt, für alle Menschen lebens- gar überlebenswichtig. Bauer (2006) Prinzip Menschlichkeit, S. 21. Vgl. außerdem Honneth (2005) Verdinglichung, S. 22; 42f. Waldenfels (2007) Antwortregister, S. 320–336. Mayer (Hg.) (1980) Der Talmud, S. 58b.
Rassistische Diskriminierung lebt vom Doppelspiel des sehenden und gleichzeitig wegschauenden Blickes. Sie ist ein von anderen Menschen vollzogener Akt der vernichtenden Beschämung. Scham ist ein relationaler Beziehungsaffekt zur Regulierung des Innenlebens wie des Soziallebens, eine zentrale Schnittstelle zwischen mir und den Anderen. Sie betrifft die physische wie psychische Intimsphäre von Menschen (von der Selbstwertschätzung bis hin zur Selbstverachtung) wie seine Sozialität mit Anderen, sein soziales Ansehen oder seinen Status innerhalb einer Gemeinschaft. Grundlage für Scham ist das (nicht selten plötzlich aufkommende) Bewusstsein, „durch bestimmte Handlungen oder Äußerungen sozialen Erwartungen nicht entsprochen bzw. gegen wichtige Normen und Wertvorstellungen verstoßen zu haben“. Straus (1960) Scham, S. 10. Sorg (1490) Das buoch von dem leben, fol. 23v. Übersetzung: “Da er eines beschämten Gemütes war und gleich als wäre er mit einem vergifteten Pfeil der Verschmähung erschossen worden, atmet er seine Seele zum Tode aus.” Kehrein (1965) Gesangbücher 1, S. 89.
Scham- und Anerkennungsgefühle, die negative wie die positive Resonanz des Menschen werden in der Regel durch sprachliche Äußerungen Anderer evoziert und provoziert, das heißt im wörtlichen Sinne von ‚provocare‘ durch die Ansprache Anderer hervorgerufen. Damit wird deutlich, was Sprache und Sprechen der Menschen mit Ausgrenzung und Rassismus zu tun haben. Sprache ist der Ort der Selbst-Verortung sowie der Fremdverortung. Verortungen sind in einem soziologischen wie in einem psychologischen Sinne fundamentale Sprechakte. In ihnen wird die Identität einer Person konstituiert und die soziale Bleibe eines Menschen kommunikativ ausgehandelt. Dies geschieht nicht einmalig und gleichsam für immer, sondern immer wieder neu, mit jedem Sprechen und jeder Begegnung, oder wie der französisch-litauische Philosoph Emmanuel Lévinas es ausdrückt: mit der „Berührung des Sagens“, mit jeder „Ausgesetztheit gegenüber einem Anderen“. Lévinas (2011) Jenseits des Seins, S. 190.
Besonders verletzbar ausgesetzt ist man dem Anderen, der ein Zweiter, auch ein kollektiver Anderer sein kann, wenn man, so Goffman, Goffman (2002) Stigma, S. 12f. Goffmann (2002) Stigma, S. 13. Siehe auch Lobenstein-Reichmann (2008b) Houston Stewart Chamberlain; außerdem Lobenstein-Reichmann (2009) Stigma; ferner Lobenstein-Reichmann (2013) Sprachliche Ausgrenzung, S. 6–108.
Wenn also das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, gesellschaftskategorisch in ein prinzipielles Falschsein der Person, übergeht, weil man zu einer Gruppe gehört, die den behaupteten gesellschaftlichen Normen gemäß, das heißt dem, was im üblichen Sprachgebrauch als normal, üblich und richtig bezeichnet wird, als defizitär markiert wird, dann geht die individuelle Abwertung und Ausgrenzung in eine kollektive über, dann kann man von sozialer Diskriminierung sprechen. Diese trifft zwar den Einzelnen in der oben beschriebenen Weise persönlich, widerfährt ihm aber unverschuldet als einem Angehörigen einer Gruppe und nicht aufgrund tatsächlichen individuellen Fehlverhaltens.
Besonders die sogenannte ‚Rasse‘ liefert eine weit verbreitete Stigmatisierungsmotivation. Seit seiner diskursiven Implementierung besonders im 19. Jahrhundert begründet der Rassediskurs eine Art Weltanschauungscode, Puschner (2001) Die völkische Bewegung, S. 31. Foucault (1981) Archäologie des Wissens, S. 74.
‚Rasse‘ ist keine naturwissenschaftlich begründete Kategorie der Genetik. Sie ist das Ergebnis einer diskursiven Praxis. Geulen (2014) Geschichte des Rassismus, S. 107f. Stoellger (2012) Sagen und Zeigen, S. 98.
Verbale Zeichensetzungsakte wie das Kategorisieren, Sortieren, Fokussieren und Perspektivieren prägen die Art, wie Sprecher ihre Welt sehen, was sie von der Welt wissen (Frames) Für die sogenannten Frames vgl. Konerding (1993) Frames; außerdem Busse (2006) Semantische Rahmenanalyse, ferner Busse (2012) Frame-Semantik. Hermanns (1995) Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte, S. 84. Eco (2002) Einführung in die Semiotik. Busse (2014) Begriffsstrukturen, S. 164. Busse führt weiter aus: „Ein Frame / Wissensrahmen ist eine Struktur des Wissens, in der mit Bezug auf einen strukturellen Frame-Kern, der auch als »Gegenstand« oder »Thema« des Frames aufgefasst werden kann, eine bestimmte Konstellation von Wissenselementen gruppiert ist, die in dieser Perspektive als frame-konstituierende Frame-Elemente fungieren. […] Frames stellen daher (vereinfacht gesagt) Wissensstrukturen dar, die eine Kategorie mit bestimmten Attributen verknüpfen, die wiederum jeweils mit bestimmten konkreten Werten gefüllt werden können. (In anderen Frametheorien heißen die Attribute »Leerstellen« oder »slots« und die Werte »Füllungen« oder »fillers«.)“ Busse (2006) Semantische Rahmenanalyse, S. 8.
Dies bedeutet, dass im steten Fluss der Kommunikation die soziale Identität von Einzelnen oder Gruppen kulturell wie soziologisch immer wieder neu verhandelt und neu konstituiert wird. Die Sprechhandlung ‚Ausgrenzen‘ (Exklusion) ereignet sich im Vollzug eines verbalen Grenzziehungsgeschehens innerhalb eines mit dem Sprechen evozierten Wissensrahmens. Inklusion und Exklusion sind nicht trennbar. Wo die Eingrenzung (Inklusion) einer Person oder Gruppe durch die Herstellung sozialer Verbundenheit und Gemeinschaft vollzogen wird, findet auch gleichzeitig die Ausgrenzung von Personen als die ‚Anderen‘ statt. Grenzen markieren ein soziales, dies auch übertragen zu verstehendes Hier und ein Dort. Um zu entscheiden, wer hierher und wer dorthin gehört, müssen Ausgrenzungskategorien geschaffen, mit Kennzeichen und Bewertungen (slots/fillers) angereichert und pragmatisch implementiert werden. Solche Kategorien entfremden nicht nur, sondern stecken Besitz- und Raumverhältnisse ab, bewerten und erklären nicht selten, warum der Andere anders und fremd zu sein hat. Die Abgrenzung von ‚anders‘ und ‚fremd‘ ist seit langem Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion vgl. dazu Waldenfels (1997) Topographie des Fremden, S. 20–42 sowie Münkler (2000) Erfahrung des Fremden, S. 147– 160. Außerdem Lobenstein-Reichmann (2017) Sprechakte sowie Lobenstein-Reichmann (2019b) Sprachgeschichte. Hegel (2014) Phänomenologie des Geistes, S. 145–155. Garfinkel (1952) The Perception of the Other, S. 422. Garfinkel (1952) The Perception of the Other, S. 420. Lobenstein-Reichmann (2008b) Houston Stewart Chamberlain, S. 365–436. Außerdem Lobenstein-Reichmann (2019a) Sprache und Geschichte; ferner Lobenstein-Reichmann (2019b) Sprachgeschichte. Garfinkel (1952) The Perception of the Other, S. 421. Garfinkel (2006) Seeing sociologically, S. 147.
Sie konstituieren die Ausgrenzung als Idee und als gesellschaftlich wirksamen Mechanismus, als logisch verstandene effizierte Objekte, d.h. sie schaffen überhaupt erst den Ausgrenzenden, den Ausgegrenzten und die Ausgrenzung als gesellschaftliche Praxis. Lobenstein-Reichmann (2013) Sprachliche Ausgrenzung, S. 12–14.
Terry Eagleton spitzt diesen Zusammenhang zu, indem er formuliert: „Es ist Ideologie, was Menschen von Zeit zu Zeit dazu bringt, einander für Götter oder Ungeziefer zu halten.“ Und er fährt fort: „Man könnte das Wort >Ideologie< als einen Text bezeichnen, der aus vielen verschiedenen begrifflichen Fäden gewoben ist und von divergierenden Traditionslinien durchzogen wird.“ Eagleton (2000) Ideologie, S. 7. Schlieben-Lange (1983) Traditionen des Sprechens. Bubenhofer (2009) Sprachgebrauchsmuster; außerdem Wengeler (2003) Topos und Diskurs. Eco (2002) Einführung in die Semiotik, S. 168.
Für den Soziologen Niklas Luhmann kann
Inklusion (und entsprechend Exklusion) […] sich nur auf die Art und Weise beziehen, in der im Kommunikationszusammenhang Menschen bezeichnet, also für relevant gehalten werden. Man kann, an eine traditionelle Bedeutung des Terminus anschließend, auch sagen: die Art und Weise, in der sie als >Personen< behandelt werden. Luhmann (1995) Inklusion und Exklusion, S. 241.
Mit dieser Definition ist eine der wichtigsten kommunikativen Taktiken eingeführt. Inklusion und Exklusion gehen explizit auf Bezeichnungshandlungen zurück, mit denen die Relevanz von Menschen ausgehandelt wird. Dies bedeutet:
1. Inklusions- und Exklusionshandlungen sind, wie bereits erwähnt, vor allem Sprechhandlungen. Vgl. dazu Riggins (1997) The Language and Politics of Exclusion. Graumann/Wintermantel (2007) Diskriminierende Sprechakte. Zu den „Vektoren des Fremdwerdens“ vgl. Waldenfeld (1997) Topographie des Fremden, S. 37–42.
2. Luhmanns Definition basiert auf der Präsupposition (dem nicht Ausgedrückten, aber implizit Mitgemeinten), dass man die Relevanz von Menschen überhaupt in Frage stellen kann. Relevanz ist eine bewertende Kategorisierung, die Wichtigkeit, das heißt letztlich Wertigkeit von Unwertigkeit trennt. Hier stellt sich die Frage nach der Perspektive. Wertigkeit und Wichtigkeit für wen? Wer hat das Recht zur Feststellung derselben? In der Regel werden die Wertvorstellungen der Sprecher – oder sollte man besser sagen: der sprachmächtigen Mehrheitsgesellschaft –, zum Maßstab genommen. Deren Sprachmacht ging in der Geschichte oft so weit, dass die Stimmen der Verohnmächtigten text- wie diskursgeschichtlich kaum, wenn überhaupt, hörbar sind. Vgl. dazu Said (1978) Orientalism. Mit „exemples of othering“ aus Indien: Spivak (1985) The Rani of Sirmur. Mit besonderer Berücksichtigung der sprachlichen Verohnmächtigung von Frauen in Indien: Spivak (1988) Can the Subaltern Speak? Mit Bezug auf das Mittelalter vgl. Geremek (2004) Der Außenseiter, S. 380. Awosusi (1998) Stichwort: Zigeuner. Sartre (1948) Betrachtungen zur Judenfrage, S. 126. Nietzsche (1999) Sämtliche Werke 5: Jenseits von Gut und Böse, S. 257–260.
Rassistische Benennung betrifft nicht nur Fremdbezeichnungen von Gruppen, wie sie im Falle der diskriminierenden Wörter ‚Zigeuner‘ oder ‚Neger‘ längst als politisch unkorrekt abgelehnt werden. Sie kennzeichnet kulturelle Übernahmen insgesamt. So spricht man üblicherweise im Kolonialdiskurs deklassierend von afrikanischen oder amerikanischen ‚Häuptlingen’, obwohl diese Fremdbezeichnung keineswegs darstellungsneutral ist, also den jeweiligen Ordnungsverhältnissen entspricht, sondern stereotypisch den Blick des weißen Europäers auf eine unterstellte afrikanische oder amerikanische Wildheit offenbart. Auch wenn damit immer noch die europäistische Sichtweise beibehalten worden wäre, hätte die sprachliche Aneignung durch Fremdbezeichnungen wie ‚Fürst‘ oder ‚Herzog‘ zumindest Vertrautheit und Augenhöhe hergestellt. Generalisierungen, die in gängigen Bezeichnungen wie z.B. im Wort ‚Schwarzafrika‘ üblich sind, setzen den Blick des Weißen auch in den dazu bestehenden Wortschatzlücken fort. Der Versuch solche Perspektiven umzukehren und auf ein ‚Weißeuropa‘ anzuwenden, macht den damit transportierten blinden Fleck europäischer Wissenssysteme bzw. Frames nur überdeutlich. Vgl. dazu Said (1978) Orientalism.
Benennungsakte sind Teilhandlungen epistemischer Gewalt, wie sie mit dem Konzept des ‚Othering‘ Vgl. dazu Said (1978) Orientalism sowie Spivak (1985) The Rani of Sirmur. Vgl. Spivak (1985) The Rani of Sirmur, S. 265. Spivak (1985) The Rani of Sirmur, S. 255. Spivak (1985) The Rani of Sirmur, S. 254. Spivak (1985) The Rani of Sirmur, S. 363.
Zusammenfassend hat rassistisches Sprechen demnach mindestens drei Ebenen:
1. die sprachliche Konstruktion der Kategorie ‚Rasse‘ (Begriffskonstitution, Konstitution der Framekategorie);
2. die Konstitution einer zur Handlungsrichtlinie erhobenen Ideologie, der Rassismus;
3. die Implementierung und Durchsetzung derselben durch konsequente Perpetuierung und Reinszenierung dieser Ideologie in der sozialen Praxis durch Strategien iterativen rassistischen Sprechens u.a. in rassistisch eingeübten, das heißt kommunikativ erfolgreichen Sprachgebrauchsmustern.
Ausgrenzendes Sprechen schöpft aus einer Art Grammatik der sprachlichen Gewalt, oder mit Garfinkel gesprochen, aus einem „program of communicative tactics“, Garfinkel (2006) Seeing sociologically, S. 246. Vgl. Lobenstein-Reichmann (2013) Sprachliche Ausgrenzung.
(1) Referenz- und Prädikationshandlung
Der propositionale Akt bestehend aus der Referenzhandlung und der Prädikationshandlung ist, wie oben schon ausgeführt wurde, entscheidend für die bewertende Füllung von Wissensrahmen. Kommunikation ist immer perspektivisches, deiktisches Sprechen von einem bestimmten Standpunkt aus. Schon im Moment der Benennung (Referenzierung) werden Perspektiven auf die Welt festgelegt. Zu den musterhaften Referenzierungen/Benennungen/Namensgebungen gehören Kollektivbezeichnungen wie ‚Zigeuner‘/‚Neger‘/‚Nigger‘ wie ihr rassistisch konstruiertes positives Gegenbild: ‚Arier‘. Solche Benennungsakte sind nicht einfach nur bezeichnend (denotierend) oder wertend (konnotierend). In ihnen werden Deontiken mitgeliefert, das sind in Wörtern implizierte Gebrauchsanweisungen. Hermanns (1995) Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte, S. 84.
Abb. 1:
Postkarte aus dem Jahr 1906, © Bildarchiv Foto Marburg

Besonders in biologisch-naturwissenschaftlich begründeten Ordnungssystemen sind genau solche Klassifizierungen erwünscht, da jedem zu benennenden Element definierende Qualitäten kognitiv abgrenzender Art zugeeignet werden. Klassifikationen werden mit Hilfe von Prädikationen schließlich so mit Bewertungen aufgeladen, dass die erst einmal kognitiv neutrale, gruppenidentifizierende Benennung ‚Zigeuner‘ oder ‚Neger‘ zur Anweisung wird, wie man sich ihnen gegenüber zu verhalten hat.
(2) Sekundärstigmatisierung
Die Sekundärstigmatisierung ist ein Sonderfall prädizierender Referenzierung. Unter einer Sekundärstigmatisierung verstehe ich die Übertragung
gesellschaftlich akzeptierter Stigmatisierungen / Prädizierungen von einer Gruppe auf eine andere. Man schreibt nun auch dieser die bereits bekannten Prädizierungen zu, oft sogar ohne sie explizit zu nennen; der Vergleich mit der stigmatisierten Gruppe genügt, um beim Rezipienten das ganze Repertoire stereotypischer Negativattribuierungen zu evozieren und den so Angesprochenen damit zu entehren. Es ist dabei kaum noch von Belang, welche Kriterien zur Stigmatisierung der ersten Gruppe geführt haben. Lobenstein-Reichmann (2009) Stigma, S. 265.
Wer im Alltagsgespräch gegenüber einer Person beschimpfend oder spottend formuliert, bei ihr gehe es zu wie bei den Zigeunern, unterstellt nicht einfach nur ‚zigeunerhaftes‘ und das heißt stereotypisch: chaotisches, unaufgeräumtes Verhalten, er perpetuiert damit auch die Stigmatisierung. Sekundärstigmatisierungen sind traditionelle Ehrverletzungsstrategien. Wer z.B. in der Reformationszeit einem Katholiken oder einem Protestanten unterstellt hat, dieser ‚judaisiere‘ (verhielte sich wie die Juden), übertrug alle mit dem Antijudaismus kolportierten Anfeindungen auf seinen konfessionellen Gegner. Sekundärstigmatisierend ist eine vormoderne Abwandlung des ‚black facing‘. Im 15. Jahrhundert soll man Ehebrecher Keller (Hg.) (1853–1858) Fastnachtspiele 1, S. 310, V. 15. Keller (Hg.) (1853–1858) Fastnachtspiele 2, S. 705, V. 23. Keller (Hg.) (1853–1858) Fastnachtspiele 2, S. 705, V. 24. Keller (Hg.) (1853–1858) Fastnachtspiele 2, S. 705, V. 25.
(3) Vergleiche und metaphorische Referenzhandlungen
Rassistisch besonders wirksam sind Sprachgebrauchsmuster des Typs: ‚ein Mensch ist ein Tier‘, wie es explizit in Gleichsetzungsnominativen, mehr oder weniger versteckt in Vergleichen, darunter vor allem aber in Metaphern möglich bzw. die Regel ist. Wenn von ‚kriminellen Elementen‘ oder ‚Subjekten‘ in der Gesellschaft gesprochen wird, von einer ‚Flüchtlingswelle‘, ‚Sozialschmarotzern‘, von der ‚Judensau‘ oder der ‚Judenpest‘, dann erfolgt im Sprechen eine Dehumanisierung durch „Verdinglichung“. Honneth (2005) Verdinglichung, S. 62. Honneth (2005) Verdinglichung, S. 67. Vgl. dazu Zimbardo (2012) Luzifer-Effekt, S. 295; außerdem Lobenstein-Reichmann (2008b) Houston Stewart Chamberlain, S. 284–364 sowie Lobenstein-Reichmann (2013) Sprachliche Ausgrenzung, S. 40–46.
(4) Wortbildungen
Scheinbar neutrale Wortbildungen wie das Kompositum ‚Judenproblem‘ inszenieren nicht nur motivationell jemanden als Problem, sondern verlangen schon im Wort nach einer Handlung: Probleme bedürfen einer Lösung, wie auch die ‚Judenfrage‘ eine Antwort einfordert (zum Prinzip der Präsupposition vgl. 4.2). Explizite rassistische Wortbildungen, die im modernen Sprachgebrauch aufgrund ihres invektiven Gehalts als politisch inkorrekt gelten, sind ‚Mohrenkopf‘, ‚Mohrenmaul‘, aber auch ‚Rassenschande‘, ‚Bastardierung‘ oder ‚Vernegerung‘. Diese dienen zur rassistischen Bedrohungsinszenierung z.B. einer Krankheit durch die „Infizierung mit niederem Menschentum“ oder einer „jüdischen Weltbeherrschung“. Hitler (1938 [Teil 1: 1925, Teil 2: 1927]) Mein Kampf, S. 704. Warum musste sie [die Natur] mir diese Bürde von Hässlichkeit aufladen? Warum gerade mir die Lappländersnase? Gerade mir dieses Mohrenmaul? Diese Hottentottenaugen? Wirklich ich glaube, sie hat von allen Menschensorten das Scheußliche auf einen Haufen geworfen und mich daraus gebacken? Schiller (2009) Die Räuber, 1. Akt, 1. Szene.
(5) Aggregationen
Aufzählungen können semantisch aggregativ wirken, da sie die jeweiligen Einzelbedeutungen implizit ineinandergreifen lassen. In Kontextualisierungen wie ‚Zigeuner, Diebe und anderes Gesindel‘ determiniert die implizite Kriminalisierung durch die simple Auflistung vom Substantiv ‚Dieb‘ automatisch auch die Gruppe der sogenannten ‚Zigeuner‘ als Diebsgesindel. Ebenfalls aggregativ ist die nachfolgende argumentative Zusammenführung an sich verschiedener Gruppen. Ganz im Sinne der Prämisse, dass man sich am besten nur auf einen Feind zu konzentrieren habe, setzt Hitler im nachfolgenden Zitat aggregativ ‚Juden‘ neben ‚Neger‘, baut über Attribuierungen Parallelen auf und kumuliert dabei die verschiedenen Metapherntypen:
Der schwarzhaarige Judenjunge lauert stundenlang, satanische Freude in seinem Gesicht, auf das ahnungslose Mädchen, das er mit seinem Blute schändet und damit seinem, des Mädchens, Volke raubt. Mit allen Mitteln versucht er die rassischen Grundlagen des zu unterjochenden Volkes zu verderben. So wie er selber planmäßig Frauen und Mädchen verdirbt, so schreckt er auch nicht davor zurück, selbst in größeren Umfange die Blutschranken für andere einzureißen. Juden waren und sind es, die den Neger an den Rhein bringen, immer mit dem gleichen Hintergedanken und klaren Ziele, durch die dadurch zwangsläufig eintretende Bastardierung die ihnen verhaßte weiße Rasse zu zerstören, von ihrer kulturellen und politischen Höhe zu stürzen und selber zu ihren Herren aufzusteigen. Hitler (1938) Mein Kampf, S. 357.
(6) Typisierung und Generalisierung durch den kollektiven Singular bzw. Plural
Muster wie „der schwarzhaarige Judenjunge“ und „der Neger“ des Hitlerzitates führen zu einem weiteren Sprachgebrauchsmuster, das auch auf dem Ausstellungsplakat von 1937 zu sehen ist [Abb. 2]. Wird eine Prädizierung einer Gruppe in der satzsemantischen Form des kollektiven Singulars bzw. Plurals zugeschrieben, gilt sie als typisch für alle Mitglieder der Gruppe, also für alle Juden, für alle ‚Schwarzen‘, alle ‚Zigeuner‘, alle Deutschen, alle Katholiken. Typisierungen schaffen auf dem Wege sich wiederholender Zuschreibungen geschichts- und sozialtypische Bezugsklassen, also abstrakte Größen mit eigenem Realitätsstatus im Gegensatz zu demjenigen, was als individuell-einmalig und unmittelbar real gelten kann. Mit ihnen werden alle Einzelpersonen, die zur genannten Gruppe zugeordnet wurden, nur noch als typische Vertreter dieser Gruppe angesehen. Wenn man immer wieder von dem Juden, dem ‚Schwarzen‘ spricht, gelingt die typisierende Entindividualisierung, das Individuum wird unsichtbar und kann den Gruppenstereotypen nicht mehr entrinnen (in Abb. 2 z.B. Geldgier, Weltherrschaftsanspruch, kommunistische Bedrohung usw.).
Abb. 2:
Schlüter, Horst (1937): Plakat zur Sonderausstellung Der ewige Jude, die 1937 im Bibliotheksbau des Deutschen Museums gezeigt wurde, © Münchner Stadtmuseum

(7) Präsuppositionen
Zwischen Satzsemantik und Pragmatik sind die Präsuppositionen anzusiedeln. Präsuppositionen sind im Satz enthaltene Voraussetzungen, also das was vom Sprecher als gemeinsamer Hintergrund der Gesprächsteilnehmer, als ihr gemeinsames oder wechselseitiges Wissen betrachtet wird. Stalnaker (1978) Assertion, S. 321. Lobenstein-Reichmann (2008b) Houston Stewart Chamberlain, S. 118 und 398–413. Dazu Kapitel 4.2.
(8) Pronominalisierung
Unterstützt werden die genannten Muster durch das basale inkludierende bzw. exkludierende Pronominalisieren: ‚Wir Weiße‘, aber ‚sie, die Schwarzen‘. ‚Sie‘ gehören nicht zu ‚uns‘, sind im rassistischen Diskurs nicht in der Lage ein höheres Menschentum zu schaffen. Sie, die Menschen in der dritten Person Plural, ‚die da‘, ‚die anderen‘, wie immer man sie auch anspricht, sie haben im ausgrenzenden Sprachspiel kein Rederecht. Sie sind kein angesprochenes ‚Du‘, kein ‚Ihr‘, von dem man eine symmetrische Antwort erwartet. Man spricht über sie, aber nicht mit ihnen. Lobenstein-Reichmann (2013) Sprachliche Ausgrenzung, S. 108–114. Außerdem Lobenstein-Reichmann (2019b) Sprachgeschichte, S. 351–353. Die Wir-Rede gehört zu den performativen Akten, die nicht bloß feststellen, was ist, sondern etwas bewirken. Zu den Wirkungen gehört in diesem Falle die soziale Zusammengehörigkeit selbst. In solchen Wir- und Ihr-Reden wird das Spiel von Eigen- und Fremdkultur aufgeführt, bis hin zur Verteilung von Haupt- und Nebenrollen, bis hin zu zwanghaften Ein- und Ausschlüssen. Waldenfels (2016) Grundmotive, S. 123.
(9) Phraseme
Werden diese Muster satzwertig, so entstehen festere Verbindungen: Phraseme, Slogans oder Sprichwörter. Zum geflügelten Wort der Antisemiten und schließlich zum Slogan des nationalsozialistischen Hetzblattes Streicher (Hg.) (1934) Der Stürmer. Ritualmord-Nummer, Sondernummer 01.05.
(10) Textebene
Rassistische Ausgrenzung ist in allen Textsorten und kommunikativen Sinnwelten zu finden, im Alltagssprachgebrauch ebenso wie etwa in der Literatur (auch in der Kinderliteratur z.B. im nationalsozialistischen Kinderbuch Zur ausführlichen Diskussion der einzelnen Taktiken vgl. Pörksen (2000) Konstruktion von Feindbildern; Wagner (2001) Implizite sprachliche Diskriminierung; Butler (2006) Hass spricht; Lobenstein-Reichmann (2008a) Stigmatisierung der „Zigeuner“; Lobenstein-Reichmann (2008b) Houston Stewart Chamberlain; Lobenstein-Reichmann (2012) Sprachgeschichte als Gewaltgeschichte; Lobenstein-Reichmann (2013) Sprachliche Ausgrenzung; Lobenstein-Reichmann (2017) Sprechakte. Speziell zur Sekundärstigmatisierung vgl. Lobenstein-Reichmann (2009) Stigma. Außerdem Geulen (2014) Geschichte des Rassismus sowie Wodak (2016) Politik mit der Angst.
Der rassistische Sprachgebrauch, wie er hier beschrieben wurde, setzt die Rahmenkategorie ‚Rasse‘ nicht nur voraus, er konstituiert sie auch.
Zur Konstitution wie zur Implementierung ideologisch relevanter Wissenssysteme dienen alle genannten Sprachstrategien, doch sind besonders die Präsuppositionen effektiv einsetzbar. Ohne Existenz- oder Faktizitätspräsuppositionen, so könnte man überspitzt formulieren, die gesellschaftlich relevante kognitive Größen erst setzen und dann als diskursive Praxis kontinuierlich implementieren, gäbe es weder die ‚Rasse‘ noch einen Rassismus. Lobenstein-Reichmann (2008b) Houston Stewart Chamberlain, S. 398–412. Chamberlain (1928) Briefe 2, S. 152. Linguistisch formuliert heißt das (verallgemeinert): Die Idee der Rasse basiert auf einer sprachlichen Existenzpräsupposition, die mit Faktizitätspräsuppositionen einhergeht. Eine Präsupposition ist eine wahrheitsfunktionale Relation zwischen Sätzen (Aussagen). Der Satz (1): „Eva hat die Prüfung geschafft“ präsupponiert, dass (2) Eva eine Prüfung gemacht hat. Der Leser glaubt diesen Satz, weil er an die Wahrheitslogik der Sprache glaubt. Dies wiederum ist nicht seiner Naivität zuzuschreiben, sondern gehört zur grundsätzlichen Kooperationsbereitschaft der Sprecher, ohne die Kommunikation nur sehr schwerfällig funktionieren könnte (vgl. dazu Grice, [1993] Logik und Konversation). Diese Grundbereitschaft gilt auch für den berühmten Satz Bertrand Russells: „Der gegenwärtige König von Frankreich ist kahl“ (Russell [2005] On Denoting, S. 485). Erst durch Nachdenken kann dem Leser auffallen, dass es gar keinen König von Frankreich mehr gibt. Mit solchen Sätzen wird die Existenz gesellschaftsrelevanter Phänomene nicht nur einfach vorausgesetzt, so werden sie textlich geschaffen und in den gesellschaftlichen Diskurs implementiert. Gobineau (1939/1940) Versuch.
Die Geschichte des modernen Rassismus beginnt mit dem ‚aufklärerischen‘ Versuch einzelner Experten, die Menschheit nach rationalen bzw. naturwissenschaftlich begründeten Kriterien in verschiedene Großgruppen zu unterteilen. Spätestens seit Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon (1707–1788) unterscheidet man weiße, schwarze, rote und gelbe Menschen. Die Kategorisierung von Menschen nach der Hautfarbe ist heute kommunikativ ebenso selbstverständlich wie die Kategorie ‚Rasse‘. Ein einziges scheinbar deskriptives Kriterium wird akzentuiert und zum Unterscheidungsmotiv für die gesamte Menschheit verabsolutiert, so dass alle anderen möglichen Kriterien in den Hintergrund treten bzw. ganz wegfallen. Wie mit einem verzerrenden Scheinwerfer werden bestimmte Licht- und Bildverhältnisse konstruiert, die durch Aus- bzw. Einblendungen Dichotomien schaffen, Übergänge verschleiern und faktische Kategorien kreieren, die nicht nur die Sprache, sondern somit auch den Blick prägen. Der Blick geht durch die Sprache hindurch, obwohl er in China keine gelben Menschen sehen kann, in den USA keine roten, in Europa keine weißen und in Afrika keine schwarzen. Erst die abgrenzende Farbcodierung, wie sie in und durch Sprache gelernt wird, schafft solche Blickregime.
Wer von ‚Rasse‘ spricht oder die Welt in vier Hautfarben unterteilt, bleibt somit Vorstellungen verhaftet, die im 18. Jahrhundert mit der biologistischen ‚Vermessung‘ der Welt gesetzt wurden, sich mit dem Überzeugungswert naturwissenschaftlicher Begründung bis in die Gegenwart fortsetzen und einen ‚natürlichen‘, das heißt messbaren, stabilen und für alle Menschen aller Zeiten gültigen, in der Farbcodierung jedermann sichtbaren Denkrahmen bzw. Frame festlegen. Die sich im Perpetuieren verfestigenden Präsuppositionen sind ein wichtiger sprachlicher Ort, an dem individuelle Weltanschauung zur kommunikativen Gemeinschaftsveranstaltung eines Diskursuniversums mutiert, dessen Grenzen nicht hinterfragt werden. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass man sogar, indem man von und über ‚Rassen‘ redet oder schreibt, das rassistische Sprechen zwar nur zitiert, dem System aber treu bleibt und die damit verbundenen Fiktionen perpetuiert.
Das Dilemma bleibt somit unaufgelöst; es kann jedoch in der Reflexion bewusst gemacht werden. Von entsprechenden Bemühungen zeugt die jüngste Debatte um das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Die Fraktion der Grünen hatte dazu aufgerufen, das Wort ‚Rasse‘ aus dem Grundgesetz zu streichen: „Es ist Zeit, dass wir Rassismus verlernen“. Tagesschau (2020) Streichung von „Rasse“. Tagesschau (2020) Streichung von „Rasse“.
Der Ausdruck ‚Rasse‘ kann auf alle möglichen Gemeinschaften bezogen werden, um diese biologistisch, das heißt als unveränderlich in ihren Eigenschaften und Wirkungen zu determinieren. Die Klassifikation von Individuen nach Gruppen in ein vermeintlich naturgegebenes Ordnungsschema, in dem die einen als gut oder höherwertig und die anderen als schlecht oder minderwertig bewertet sind, ist beliebig nutzbar. Nicht nur eine Glaubensgemeinschaft wie die jüdische kann dann zu einer Rasse erklärt und der traditionelle Antijudaismus in einen rassistischen Antisemitismus überführt werden, auch Sprach- und Nationalgemeinschaften werden dem biologistischen Begründungsnarrativ unterworfen, wertend hierarchisiert und dann in einem Freund-Feind-Schema einander unversöhnlich gegenübergestellt.
Die Tschechen […] werden ihren Antagonismus gegen die deutsche Rasse in- und außerhalb Österreichs niemals aufgeben und sind, auch nur vorläufig, nicht billiger abzufinden als durch die Konstituierung der Sudetenländer als tschechisches Königreich. Die Deutschen […] müssen, einen günstigen Moment benutzend, den tausendjährigen Streit mit der kleinen, circa sechs Millionen zählenden tschechischen Rasse, die alles ihnen verdankt, mit allen, ich sage nochmals, mit allen Mitteln zu Ende führen. Schönerer-Bewegung in Österreich zitiert nach: Kořalka (2007) Georg Ritter von Schönerer, S. 85.
Was im Pfälzischen Wörterbuch zum Stichwort ‚Rasse‘ zu lesen ist, perpetuiert dieses Übertragungssystem und führt es zugleich ins Absurde: „Do dut vun alle Menscherasse/Die Pälzer Rass’ am beschte basse“. Pfälzisches Wörterbuch (1965–1998), Bd. 5, S. 384.
Mit der Konstitution der ‚Rasse‘ wird aus der Vielfalt menschlicher Existenzweisen eine Abgrenzungsordnung mit radikalen Bewertungen gesetzt. Der Grenzzieher ist heute in der Regel der sogenannte ‚weiße Mann‘; bei Rassisten wie Gobineau oder Chamberlain erscheint er explizit in Selbstinszenierungen wie ‚Arier‘ oder ‚Germane‘. In seiner ideologischen Aufrüstung wird der Rassismus zur sinnstiftenden Lehre ausgebaut, in der es nicht nur um Setzung und Differenzierung von Menschenrassen, sondern vor allem um die Behauptung der eigenen kulturellen Überlegenheit wie der Begründung des Anspruchs auf Weltherrschaft geht. Erst die zur ‚neutralen‘ Entität geformte Präsupposition ‚Rasse‘ macht eine Weltanschauung möglich, Lobenstein-Reichmann (2008b) Houston Stewart Chamberlain, S. 3. Gobineau (1939/1940) Versuch 1, S. XVI. Gobineau (1939/1940) Versuch 1, S. XVII. daß Alles, was es an menschlichen Schöpfungen, Wissenschaft, Kunst, Civilisation, Großes, Edles, Fruchtbares auf Erden gibt, den Beobachter auf einen einzigen Punkt zurückführt, nur einem und dem nämlichen Keim entsprossen [ist], […] nur einer einzigen Familie angehört, deren verschiedene Zweige in allen gesitteten Gegenden des Erdballs geherrscht haben. Gobineau (1939/1940) Versuch 1, S. XVII.
Wen er damit meint, wird in den Einzelbänden detailreich ausgeführt. Mit z.T. sprachwissenschaftlich erscheinenden Begründungen und Etymologien Vgl. Gobineau (1939/1940) Versuch 2, S. 185. Gobineau (1939/1940) Versuch 2, S. 190. Gobineau (1939/1940) Versuch 2, S. 5. Gobineau (1939/1940) Versuch 2, S. 11f. Gobineau (1939/1940) Versuch 2, S. 183. Gobineau (1939/1940) Versuch 2, S. 189. Gobineau (1939/1940) Versuch 2, S. 190. Gobineau (1939/1940) Versuch 2, S. 292f. Gobineau (1939/1940) Versuch 2, S. 301. Gobineau (1939/1940) Versuch 2, S. 294. Gobineau (1939/1940) Versuch 2, S. 297. Gobineau (1939/1940) Versuch 2, S. 295. Gobineau (1939/1940) Versuch 2, S. 297.
In kulturchauvinistischer und nationalistischer Instrumentalisierung der Evolutionstheorie Charles Darwins, vor allem seiner Idee der Zuchtwahl, führte ein immer radikaler werdender Rassismus zu Ausgrenzungsbegründungen, bei denen Menschen nicht nur als ungleich in ihren Eigenschaften, sondern geradezu in Mehr-oder-Weniger-Menschen abqualifiziert wurden. Houston Stewart Chamberlain argumentiert in den Forel zeigt an zahlreichen Beispielen, wie unmöglich es dem Neger ist, unsere Civilisation mehr als hauttief zu assimilieren und wie er überall ‚der totalsten urafrikanischen Wildheit anheimfällt‘, sobald er sich selbst überlassen bleibt. […] [W]er in den Phrasen von der Gleichheit aller Menschen u. s. w. erzogen ist, wird schaudern, wenn er erfährt, wie es in Wirklichkeit zugeht, sobald in einem Staate die Neger das Heft in der Hand halten. Forel, der als Naturforscher in dem Dogma der einen, überall gleichen ‚Menschheit‘ auferzogen ist, kommt zu dem Schlusse: ‚Zu ihrem eigenen Wohl sogar müssen die Schwarzen als das, was sie sind, als eine durchaus untergeordnete, minderwertige, in sich selbst kulturunfähige Menschenunterart behandelt werden. Das muss einmal deutlich und ohne Scheu erklärt werden.‘ Chamberlain (1922/10. Aufl. von Chamberlain [1899]), S. 342.
Die Kategorisierung ‚Menschenunterart‘ mit ihren typisierenden Zuschreibungen ist nicht zufällig. Rassismus erfährt mit solchen pseudoaufklärerischen Argumentationen, die im Duktus wissenschaftlicher Abhandlungen verbreitet werden, seine pseudowissenschaftliche Begründung und seine Übertragbarkeit. Am deutlichsten wird Gobineau (in der Übersetzung des Antisemiten Ludwig Schemann), wenn es ihm um die sogenannte ‚schwarze Rasse‘ geht:
Und doch ist’s nicht reinweg nur ein Stück Vieh, dieser Neger mit der schmalen, schiefen Stirn, der in der mittleren Parthie seines Schädels die Anzeichen gewisser plumpgewaltiger Kräfte trägt. Wenn sein Denkvermögen mittelmäßig, oder sogar gleich null ist, so besitzt er dafür im Begehren, und folglich im Willen, eine oft furchtbare Heftigkeit. Gobineau (1939/1940) Versuch 1, S. 279.
Es gäbe, so schreibt er weiter, „kein ekelhaftes Aas, das unwürdig befunden würde in seinem Magen zu versinken“. Gobineau (1939/1940) Versuch 1, S. 279. Gobineau (1939/1940) Versuch 2, S. 16. Gobineau (1939/1940) Versuch 4, S. 319.
Auch Chamberlain stellt ‚Rasse‘ dar, als wäre sie „vielleicht die allerwichtigste Lebensfrage, die an den Menschen herantreten kann“. Chamberlain (1899) Grundlagen, S. 294. Hitler (1938) Mein Kampf, S. 132.
Zur rassistischen Feindbildkonstruktion und zum deontischen Credo des Rassismus gehört konstitutiv das Droh- und Schreckbild von ‚Rassenvermischung‘ und ‚Rassenschande‘. Es wird behauptet, dass die ‚Mischung‘ mit den sogenannten minderwertigen Völkern zum kulturellen und moralischen Niedergang der jeweils als höherwertig eingestuften Eigengruppe wie der Zivilisation überhaupt führt. Das mit diesem Credo mitgelieferte rassistische Handlungsprogramm ergibt sich aus folgendem Zitat:
Somit ist der höchste Zweck des völkischen Staates die Sorge um die Erhaltung derjenigen rassischen Urelemente, die, als kulturspendend, die Schönheit und Würde eines höheren Menschentums schaffen. Wir, als Arier, vermögen uns unter einem Staat also nur den lebendigen Organismus eines Volkstums vorzustellen, der die Erhaltung dieses Volkstums nicht nur sichert, sondern es auch durch Weiterbildung seiner geistigen und ideellen Fähigkeiten zur höchsten Freiheit führt. Hitler (1938) Mein Kampf, S. 434.
Hitlers völkisches Denken glorifiziert in einem positiv markierten Rassismus die Eigengruppe als „kulturspendend“, „Schönheit und Würde eines höheren Menschentums“ schaffend, und nicht zuletzt in die „höchste Freiheit führend“. Programmwörter des Humanismus und Idealismus umrahmen die allgegenwärtige, in vielen Formen konstruierte Untergangsbedrohung, die vermeintlich von den Juden ausgehe. Die Krone ihres „Sieges“ wäre der „Totentanz der Menschheit“, also das Ende der Menschheit als solches. Der Kampf dagegen wird zur religiös-aufgewerteten Tat: „So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn“. Hitler (1938) Mein Kampf, S. 70. Pörksen (2000) Konstruktion von Feindbildern. Die Gestalt des Feindes erlaubt so viel Dunkelheit und Niedrigkeit zu symbolisieren, wie gebraucht wird und die innere Verfassung vergleichsweise erleuchtet, um die Ordnung befindlich erscheinen zu lassen, worüber sich dann jedermann erfreut zeigt. Ein äußeres Feindsymbol zu haben ist für jede ideologische Gruppierung, aber auch für jedes totalitäre und angeschlagene Regime höchst willkommen, weil es innen und außen anschaulich abgrenzt. Straßner (1987) Ideologie, S. 54.
Weder die Entlarvung der Ontologisierung noch die naturwissenschaftliche Widerlegung der Rassentheorien durch zeitgenössische Biogenetiker haben bekanntermaßen zum Ende des Rassismus geführt. Es zeigt sich, dass die vorgestellten kommunikativen Taktiken wie Präsupponieren, Generalisieren, Typisieren, Dämonisieren, Kriminalisieren, vor allem das Dehumanisieren ideologische Strategien des Hassens darstellen, mit denen Menschen andere Menschen emotional gegeneinander aufbringen, sich selbst machtvoll positionieren und bestimmte Gruppen an den Rand drängen. Diese Taktiken ergänzen sich gegenseitig und bringen einen Kreislauf in Bewegung, der umso schwerer aufzuhalten ist, je länger er seine Effektivität im Spiel der Mächte bewahren konnte [Abb. 3].
Abb. 3:
Lobenstein-Reichmann, Anja: Kreislauf der sprachlichen Strategien des Rassismus

Dies führt dazu, dass man im Diskurs der Gegenwart immer häufiger einen Rassismus ohne biologistisch begründete Rassen vorfindet, das heißt eine soziale Praxis, die sich rassistischer Strategien nur noch bedient, ohne referentiell auf rassistisch ausgegrenzte Gruppen zuzugreifen. Das Wort ‚Rassismus‘ wird dann (wie schon die Referenzerweiterung auf Nationalitäten gezeigt hat) beliebig als Totschlagargument eingesetzt, seiner ursprünglichen Semantik entfremdet und somit auch als Analyseinstrument entschärft. Ein solcher Wortgebrauch spielt systematisch all jenen in die Hände, die die Strategien des Hassens für sich zu nutzen und die Täter- und Opferverhältnisse umzudeuten und umzukehren wissen (z.B. Opferinszenierung der rechtspopulistischen Szene). Dieses Vorgehen bestätigt jedoch, dass das Vorgetragene eine Grammatik und Semantik der Ausgrenzung darstellt, ein Instrument, das strukturell in jeder Sprache als Systemmöglichkeit verankert ist und je nach Zeit und je nach Interessensgruppe eingesetzt werden kann. Auch wenn die Biogenetik immer wieder nachweist, wie unsinnig das Konzept der Rasse aus naturwissenschaftlicher Perspektive ist, wird der Rassismus als diskriminierende Strategie bzw. als diskursive Praxis erfolgreich bleiben. Doch schon für die Rassetheoretiker des 19. Jahrhunderts war Rasse nicht nur eine biologische Angelegenheit, sondern vor allem ein bewusst eingesetzter Rechenpfennig, mit dem man gesellschaftspolitisch und das heißt ausgrenzend handeln konnte.
Es ist daher kaum verwunderlich, dass es als Strategie beliebig angewandt und beliebig auf alle möglichen Gruppen ausgeweitet werden kann. Man kann mit Geulen resümieren:
Insgesamt betrachtet, erweisen sich diese massenhaften Definitionen als so willkürlich wie heterogen. So gut wie jede denkbare Gemeinschaft ist bereits als Rasse beschrieben worden: Familien, lokale, regionale und kontinentale Bevölkerungen, die Menschheit als Ganzes, Nationen, Völker und Staaten, Kulturen, Religionsgemeinschaften und ethnische Gruppen, aber auch Klassen, Schichten und Eliten, sowie Männer, Frauen oder Homosexuelle – die Liste ließe sich verlängern. Es sind nicht zuletzt diese Vieldeutigkeit und Dehnbarkeit des Rassenbegriffs, die dem Rassismus seine hohe Verwandlungs- und Anpassungsfähigkeit garantiert haben. Geulen (2014) Geschichte des Rassismus, S. 15.
Abb. 1:

Abb. 2:

Abb. 3:

Allochronie im Anthropozän: Ein Gespräch mit Erhard Schüttpelz (Re)Synchronisierung auf dem Boden der Tatsachen? Die Pedosphäre als Übersetzungsregion anthropologischer und geologischer Zeitlichkeit Zukunftspolitik im Technozän. Der Technikfolgendiskurs in den 1970er Jahren Walter Benjamins Eschatologie der Katastrophe: Fortschritt, Unterbrechung und das Ende der Geschichte Wie die Geschichte(n) der Erde bewohnen? (Literarische) Kompositionen von planetarer Zeit zwischen Moderne und Anthropozän Das „diplomatische Jahrhundert“: Mediatisierung von Zeitverhältnissen in den Staatswissenschaften des 18. Jahrhunderts Vom Ausgang der Erde aus der Welt des Menschen, oder: Wie das „Prä-“ vor die Geschichte kam Moderne Zeitlichkeiten und das Anthropozän