The text deals with the genre ‘pasquill’ from the 16th to the 18th century in the German speaking world. Two strands of tradition can be ideally distinguished, which only gradually merge with each other. Originally, as in other regions of Europe, the Roman figure of the shoemaker Pasquino is adapted, who comments on actual politics or famous persons in mocking, more or less literary dialogues. This figure appears in printed works from the middle of the 16th century, mostly written by Protestants. At about the same time, the term ‘pasquill’ began to become synonymous with the mostly handwritten, anonymous libel, which is now increasingly criminalized by the authorities. The article characterises the early modern pasquill as a very special medium of communication, which served not only for personal defamation but also for objective criticism.
Keywords
- Reformation
- Aufklärung
- Anwesenheitsgesellschaft
- Ehre
- Schmähschrift – reformation
- enlightenment
- face-to-face society
- honour
- libel
Auf den ersten Blick scheint die Sache klar. „Pasquill“, so definiert Gottsched 1758, „ist eine ehrenrührige Schrift, ohne Namen des Verfassers, aber mit dem Namen dessen, dem es gelten soll.“ Gottsched (1758) Beobachtungen, S. 229f.; dort auch alle folgenden Zitate. Der Text entstand im Teilprojekt G des SFB 1285. Vielen Dank vor allem an Jan Siegemund für seine Hinweise, die den Aufsatz wesentlich verbessert haben. Gedankt sei ebenfalls Stefan Beckert, Alexander Kästner, Max Rose, Wiebke Voigt sowie den Herausgeberinnen und dem Herausgeber für ihre Anregungen. Man muß aber Streitschriften nicht mit Pasquillen verwechseln. In den ersten streite man um Wahrheiten, Geschichte, gelehrte Meinungen oder Lehrpuncte: in den andern aber geht es über die Personen her. Man kann in Meynungen uneins, und doch der Gegner Freund seyn. Nur ungezogene grobe Leute greifen die Personen ihrer Gegner an. Pasquille beschimpfen die schönen Wissenschaften […] überhaupt.
Gottscheds kurze Einlassung zum Pasquill ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Zum einen zeigt sie, wie selbstverständlich der Begriff Mitte des 18. Jahrhunderts als ein ‚deutsches Wort‘ eingemeindet wurde. Zum anderen benennt er mit der Anonymität des Verfassers und dem herabsetzenden Ziel der Schrift zwei zentrale definitorische Merkmale eines Pasquills. Und er stellt die Streitschrift als deren archetypisches Gegenstück heraus, in dem es um die Sache und nicht um die Person gehe. Damit hebt Gottsched auf ein zentrales Kennzeichen aufklärerischen Selbstverständnisses ab – ein Merkmal, das freilich den Charakter eines normativen Ideals besaß und das keineswegs mit der Realität aufklärerischen Schrifttums verwechselt werden sollte. Vgl. Oesterle (1986) Streitschrift.
Aufschlussreich ist zugleich das, was Gottscheds kurzer Artikel nicht enthält, nämlich Erläuterungen zum medialen Aggregatzustand des Pasquills und zur Herkunft des Namens. Für beide Fragen hilft Zedlers unvermeidliches Universal-Lexikon weiter. 1740 wird unter dem Stichwort ‚Pasquill‘ auf die Lemmata ‚Famosus Libellus‘ bzw. ‚Libellus Famosus‘ verwiesen. „Famosus Libellus, ein Paßquill, ist eine solche Schrifft, welche von einem verborgenen Auctore animo infamandi ist ans Licht gegeben worden“, so führt der erste Artikel ganz im Sinn von Gottsched aus. Hier ist von „einer angeschlagenen oder ausgestreuten Schrifft“ bzw. einem „Zettel“ die Rede, aber auch davon, dass unter die Gattung auch Gemälde und Bilder gehören, die „zur Ehren-Verletzung eines andern“ verfertigt worden sind. Zedler Bd. 9 (1735), Sp. 209f. Zedler Bd. 17 (1738), Sp. 773. Zedler Bd. 26 (1740), Sp. 1148.
Bereits dieses erste Schlaglicht hat eine Vielzahl von Begriffen und Phänomenen erhellt und damit die Heterogenität dessen, worum es hier gehen soll: Das Pasquill wird mit Schmähschrift und Voigt (1838) Pasquille, S. 340. Bauer (2008) Pasquille, S. 21. Vgl. zu den Fuggerzeitungen Bauer (2008) Pasquille, S. 195f. Vgl. kurz Wolf (2003) Pasquill; zuletzt Grunert (2019) Streiten und Strafen.
Dem Historiker der frühneuzeitlichen Stadt sind Pasquille keineswegs fremd. Sie werden in der archivalischen Überlieferung durchaus häufiger erwähnt; erhalten sind sie dagegen wesentlich seltener, weil sie – ihres ehrverletzenden Inhalts wegen – eher unterdrückt, vielfach sogar öffentlich ostentativ (etwa durch den Scharfrichter) vernichtet wurden, um anzuzeigen, dass die Ehrverletzung von der angegriffenen Person auf den Autor zurückfiel. Rublack (1995) Anschläge, S. 384; Bellingradt (2011) Flugpublizistik, S. 67f.; Grunert (2019) Streiten und Strafen, S. 175. HAStK Bestand 35, Verfassung und Verwaltung G 228, fol. 119r-123r; dort alle folgenden Zitate. Vgl. dazu bereits Schwerhoff (2004) Öffentliche Räume, S. 131f. Historisches Archiv der Stadt Köln (1996) Stadtrat, S. 85–92. HAStK Bestand 35, Verfassung und Verwaltung G 228, fol. 122r. Historisches Archiv der Stadt Köln (1996) Stadtrat, S. 83f. HAStK Bestand 35, Verfassung und Verwaltung G 228, fol. 122r.
Schmähschriften und Pasquille prägten auch später innerstädtische Konflikte in der Reichstadt Köln. In besonderer Intensität war das in den bewegten Jahrzehnten vor und nach 1700 der Fall, wobei die Zeit des sog. Gülich-Aufstandes in den 1680er Jahren herausragt. Bellingradt (2011) Flugpublizistik, S. 67, 91 sowie S. 102–124. Vgl. Schwerhoff (2017) Köln im Ancien Régime, S. 64–68 und S. 157f. HHStA Wien, Bestand Reichskanzlei, Diplomatische Akten, Köln: Berichte 2a, S. 518–525. Eine Kostprobe, (HHStA Wien, Bestand Reichskanzlei, Diplomatische Akten, Köln: Berichte 2a, S. 519): „Ihr herrn burgermeister, die gemeint ist es baldt müeth, daß wir das brodt so thür bezahlen müßen und auch daß schelmen armenhauß underhalden mußen in der stadt daß der burger ihre nahrung abgenohmen wird, wan es mit dem brodt nit geändert wird und auch mit dem anderen niet, dan werde wirr bald daß gülichs wesen anfangen noch reger als zu befür, dan willen wir daß hauß aufbauen, und setzen den kopff an die bürgermeisters haußer. Ihr gaffel haußer machet ihr auch klahe, wan es angehet.“ Z. B. HAStK Bestand 10, Ratsprotokolle Nr. 133, fol. 92v; Bestand 35 Verfassung und Verwaltung, G 268, fol. 65a–66b, 74b–78a, 95b.
Die beiden aufgeführten Beispiele aus der Reichsstadt Köln liegen fast einhundert Jahre auseinander, und auch in formaler wie inhaltlicher Hinsicht gibt es gewichtige Unterschiede: Bei dem Pasquill, mit dem Deckens und Kramer umgingen, handelte es sich offensichtlich um ein – wenn auch nicht sehr kunstvoll – gereimtes Dokument; die späteren Pasquille kamen dagegen als eilig aufs Papier geworfene Drohworte daher. Das eine bezog sich auf ein historisches Ereignis, das schon Generationen zurücklag, das andere benutzte eine jüngere Unruhe als Drohkulisse und richtete sich konkret an die derzeitigen Amtsträger. Gemeinsam war ihnen aber eben auch die Referenz auf ein politisches Aufstandsgeschehen und damit die Tatsache, dass hier deutlich mehr zur Debatte stand als eine Animosität gegenüber konkreten Personen. Dass Köln hier keineswegs ein außergewöhnliches Beispiel darstellt, zeigt ein Blick auf andere Orte, etwa auf die Medienhochburg Hamburg zur gleichen Zeit. Bellingradt (2011) Flugpublizistik, S. 138 u.ö.
Nimmt man den Begriff des Pasquills – wie es Gottsched tat – synonym für ‚Schmähschrift‘, bzw. Schmidt (1985) Libelli Famosi, S. 72f. Pars pro toto für die neuere kulturhistorische Forschung Fuchs (1999) Ehre, besonders S. 153–168. Eckardt (1974) Schwabenspiegel Landrecht 174a, S. 253; vgl. Schmidt (1985) Libelli Famosi, S. 226f. Schmidt (1985) Libelli Famosi, S. 228. Zum Verbot des Absingens von Schandliedern oder des Dichtens von Schmähversen vgl. ebd. S. 230–233.
Dichter werden die Belege erst mit dem 16. Jahrhundert. Die Schmidt (1985) Libelli Famosi, S. 236f. Schmidt (1985) Libelli Famosi, S. 244 (so Benedict Carpzov in seiner König (1541) Processus, fol. LXVIv. Vgl. dazu den Aufsatz von Siegemund (2020) Schmähschriftprozess. Reichspolizeiordnung von 1548 Art. 34, nach Senckenberg (1747), S.604f.; Reichspolizeiordnung 1577, Art. 35, nach Senckenberg (1747), S. 396.
Die Reichspolizeiordnung von 1577 verbietet im Übrigen im gleichen Abschnitt eine weitere Praxis, die Parallelen zum Reichspolizeiordnung 1577, Art. 35, nach Senckenberg (1747), S. 397. Vgl. umfassend Lentz (2004) Konflikt, Ehre, Ordnung. Creasman (2012) Censorship, S. 134–136 (mit Abbildung).
Nicht nur dieses Beispiel zeigt, dass das Genre der Schmähbriefe weder formal noch medial näher bestimmt war: Es konnte geschrieben oder gemalt, gereimt oder ungereimt, handschriftlich oder gedruckt daherkommen; entscheidend war seine auf die Ehrverletzung eines Gegners gerichtete Funktion. Trotz dieser Unbestimmtheit deutet alles darauf hin, dass die typische Schmähschrift handschriftlich verfasst wurde – kaum verwunderlich, denn wer anonym eine ehrverletzende Beschuldigung gegen einen Kontrahenten oder gegen die Obrigkeit ausstreuen wollte, dürfte kaum den Zugang zum aufwendigen und vergleichsweise gut zu kontrollierenden Druckverfahren gesucht haben. Einfacher war es, einen Fetzen beschriebenen oder gezeichneten Papiers an einem zentralen Ort der Stadt zu deponieren und darauf zu vertrauen, dass er gefunden, vorgelesen und sein Inhalt weiter kommuniziert wurde. Insofern bestand eine enge Verbindung zur kommunikativen Gattung des mündlich weitergetragenen Gerüchts. Holenstein/Schindler (1992) Geschwätzgeschichte(n); Fenster/Smail (2003) Fama. Vgl. Buehler (2015) Defamation.
Mit dem Beginn des 16. Jahrhunderts betritt auch jene Figur des Pasquino die öffentliche Bühne, die sich später partiell mit der älteren Tradition des Kurz Wolf (2003) Pasquill, Sp. 682f.; Romano (2006) La satira. Reynolds (1985) Carafa, S. 189f. Reynolds (1985) Carafa, S. 181, Anm. 17. Reynolds (1985) Carafa, S. 181, Anm. 16. Reynolds (1985) Carafa, S. 185. Burke (1986) Beleidigungen, S. 106 bzw. Anm. 19 auf S. 206. Vgl. Eintrag ,Pasquino‘. Wikipedia:
Schnell wurde sie zudem Ausgangspunkt für die Ausbreitung des Brauchs auch an anderen Orten. Zu Folgenden vor allem vor allem Lastraioli (2003) „Pasquini“; dies. (2010) Pétromarchies. Zitat nach Fuchs (1999) Ehre, S. 161. Lastraioli (2010) Pétromarchies, hier S. 233.
Dieses Eigenleben allerdings wurde bislang vorwiegend für den romanischen Sprach- und Kulturkreis erforscht. Nachgewiesen sind überdies einige Dutzend von im niederländischen Raum gedruckten Flugschriften mit einem dezidierten Bezug auf die Pasquino-Figur, angefangen mit einer niederländischen Übersetzung von Dingemanse/Meijer Drees (2006) Pasquino, S. 484f. Vgl. dazu die sehr allgemeinen Bemerkungen ohne weitere Quellen- und Literaturverweise bei Lastraioli (2006) Pasquillus, S. 466. Vgl. Voigt (1838) Pasquille, S. 337 u.ö.; weiterhin Schade (1863) Satiren, Bd. 3 Register cf. „Pasquillus“.
Eine erste flüchtige Recherche zeigt, dass schon um 1520 in mehreren Ausgaben ein Büchlein mit dem Titel „Pascuillus“ erschien; es sollte über die Listen der Römer bei der Schaffung vieler Kardinäle aufklären , die das Ziel verfolgten, alle Bistümer in Deutschland unter ihre Herrschaft zu bringen. Um dem Leser den Kontext des Dialogs zwischen Pasquillus und Cirus zu erklären, wird dort eingangs die römische Tradition der Pasquino-Statue erklärt. Vgl. Pascuillus (1520), VD16 P 850; vgl. weitere Auflagen VD16 P 851–855. Vgl. EVANGELIA (1592), VD16 U 188; weiterhin auch Ein vnderredung (1537), VD16 U 187; zur satirischen Thematisierung des Konzils von Mantua ebenfalls Voigt (1838) Pasquille, S. 418–429. Vgl. Pasquillus. Newe Zeyttung vom Teüffel (1546), VD16 S 3175; weitere Auflagen VD16 S 3176 – 3183 sowie ZV 13961; dazu Voigt (1838) Pasquille, S. 509–512. Für weitere Nachweise Waldeck (1910/11) Publizistik [II], S. 60 und S. 64-66, der allerdings nicht auf Gattungsfragen eingeht. Dem Gespräch zwischen einem verstorbenen Landsknecht und dem heiligen Petrus an der Himmelspforte, das etwa zur gleichen Zeit erschien (EJn Gesprech [1547], VD16 G 1882), wurde die Bezeichnung ‚Pasquill‘ dagegen vom ersten Herausgeber aufgedrückt (Matthias: Ein Pasquill); vgl. allgemein Haug-Moritz (2002) „Geschwinde Welt“. Kaufmann (2006) Konfession und Kultur, S. 58 unter Bezug auf PASQVILLIVS GERMANICVS (1546), VD16 P 843. Reichspolizeiordnung von 1548 Art. 34, nach Senckenberg (1747), S. 604f.
Am Beginn des 16. Jahrhunderts, so lässt sich die Geschichte des Pasquino bis hierher resümieren, entstand rund um eine antike Statue in Rom eine Tradition gelehrter Spottverse. Zumindest ursprünglich handelte es sich bei diesen Pasquinaden wohl um das gelehrte Spiel eines kleinen humanistischen Zirkels, selbst wenn es sich vor dem Forum der römischen Stadtöffentlichkeit vollzog. Medial beschränkte sich dieses Spiel am Anfang auf handschriftliche Zettel. Schnell aber wurden diese Zettel für den Druck adaptiert und die sprechenden Statuen vervielfältigten sich, zunächst in Rom, dann auch darüber hinaus. Die Figur des Spötters Pasquino wurde in verschiedenen gedruckten Dialogen quer durch Europa zum Sprachrohr öffentlicher Kritik. Das geschah auch im deutschen Sprachraum, insbesondere von Seiten der Protestanten. Dort firmierten die entsprechenden Schriften unter dem Titel ‚Pasquill(us)‘.
Längerfristig jedoch sollte jene andere Bedeutungsfacette des Begriffs dominieren, die sowohl in den Lexika des 18. Jahrhunderts als auch in der Kölner Alltagspraxis begegnet: seine Nutzung als Synonym für die (anonyme und handschriftliche) ‚Schmähschrift‘. Diese Gleichsetzung erschien der Forschung meist selbstverständlich und wurde kaum je wirklich problematisiert. Versteht man die Gleichsetzung jedoch als erklärungsbedürftig, dann lassen sich einige grundsätzliche Beobachtungen treffen. Erstens gibt es eine programmatische Unschärfe des Terminus: Anders als bei den literarischen Pasquino-Texten, die sich in der Regel durch Dialogizität und Reimform auszeichnen, ist mit dem Begriff Pasquill für Schmähschriften – jedenfalls auf längere Sicht – keinerlei formale, mediale oder inhaltliche Präzisierung verbunden. Seit der Darstellung Voigts aus dem Jahr 1838 folgt die Charakterisierung der einschlägigen Texte eher einer pluralen Additionslogik („Über Pasquille, Spottlieder und Schmähschriften […]“). Ähnlich macht es noch der neuere Handbucheintrag Kuhns über die heterogene Trias von ‚ballads, libels, and songs‘; das Pasquill wird dort lediglich indirekt angesprochen. Kuhn (2010), Ballads, hier S. 1623f. Anders in seiner Bamberger Habilitationsschrift Buehler (2015) Defamation, S. 54.
Zweitens scheint sich dieser weite Begriffsgebrauch besonders auf Mitteleuropa zu konzentrieren. Neben dem deutschen ist insbesondere der niederländische Sprachraum hervorzuheben, wo ‚pasquil‘ bzw. ‚pasquin‘ nicht nur die Bedeutung von So Dingemanse/Meijer Drees (2006) Pasquino, S. 479f. in einer Seitenbemerkung, bevor sie sich der literarischen Tradition als ihrem Hauptgegenstand zuwenden. Fox (2000) Culture, S. 320. Allgemein waren im englischen Sprachraum ‚libels‘ ganz im Sinne von Gottsched und der unten diskutierten rechtlichen Tradition des ‚libellus famosus‘ definiert („Genuine libels in verse or prose are personally malicious, designed to humiliate specific victims“, May/Bryson [2016] Libel, S. 1). Von diesen heimlichen Angriffen konnten dann ‚pasquils‘ im Sinne einer allgemeinen, offen vorgetragenen und literarisch stilisierten Satire unterschieden werden (Croft [1995] Libels, S. 267). Fox (2000) Culture, S. 299–334, der sich u.a. auf ein breites Sample von Gerichtsfällen (Star Chamber) stützen kann, vgl. ebd., S. 309. So etwa in Augsburg, wo 1579 der Pflasterer Sebastian Hundertkass aus der Stadt verbannt wurde, weil er verwegene Balladen gedichtet und handschriftlich an sein Umfeld verteilt hatte (Creasman [2012] Censorship, S. 29f.). Vgl. für einen regelrechten Sängerkrieg zwischen Nachbarn unterschiedlicher Konfession im Jahr 1601 ebd., S. 132f.
Diese Feststellung trifft, drittens, auch auf die zeitliche Dimension zu, auf die Frage nämlich, ab wann ein solcher Begriffsgebrauch im deutschsprachigen Raum beobachtet werden kann. Einen gewissen Terminus post quem markiert die zitierte Reichspolizeiordnung von 1548 mit ihrem Verbot ‚pasquillischer‘ Texte; sie indiziert, dass der Begriff zu dieser Zeit im Schwange war, nicht jedoch, dass er, im weiten Sinn, als Synonym für Schmähschrift benutzt wurde. Der Titel des 1552 kompilierten, in insgesamt drei Exemplaren erhaltenen HAB Cod. Guelf. 80.4 Aug 2°. Vgl. vorerst Kuhn (2007) Laughter. Eine umfassendere Auswertung findet sich in seiner Habilitationsschrift, vgl. oben Fn. 52. HAStK Bestand 114, Edikte 13, Nr. 112. Nach Schmidt (1985), Libelli Famosi, S. 281, appelliert Herzog Christoph von Württemberg im Jahr 1557 an die Buchdrucker, keine „Invektiven, Pasquille oder andere Schmach-, Schand- oder sonst andere Schriften, so Unruhe anrichten möchten“, ausgehen zu lassen. HStAD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Loc. 9667/9, fol. 18v. u.ö. Vgl. Rose (2020) Schmähschriften. Creasman (2012) Censorship, S. 165. Vgl. auch Roeck (1989), Stadt, Stichwort ‚Pasquille, Schmähschriften‘ im Sachregister. Müller (2017) Verletzende Worte, S. 80, Fn. 166. Die Datierung auch bei Gestrich (1997) Schandzettel, S. 45; reichhaltiges Material bei Rublack (1995) Anschläge; Bellingradt (2011) Flugpublizistik.
Trifft die Beobachtung zu, dass es in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu einer räumlichen Diffusion des Etiketts ‚Pasquill‘ im deutschen Sprachraum gekommen ist, dann könnte damit zugleich eine Veränderung in Bezug auf das Gattungsformat verbunden gewesen sein. In der Frühzeit scheint zur herabsetzenden, spöttischen bzw. ehrverletzenden Qualität der Schmähschrift noch eine gewisse künstlerisch-satirische Ambition (etwa in Gestalt von Reimen) hinzutreten zu müssen, damit die Zeitgenossen von einem ‚Pasquill‘ sprachen. Etwas zugespitzt formuliert: Für sie mochten zwar alle Pasquille den Charakter von Schmähschriften haben, aber weitaus nicht alle Schmähschriften wären aufgrund ihrer formalen Erscheinungsform von ihnen als Pasquill betrachtet worden. Ich verdanke diese Beobachtung Jan Siegemund.
Der Begriff Schmähschrift beinhaltet bis heute die abwertende Etikettierung einer Sprachhandlung. König (1541) Processus, Bl. 66vf. Vgl. zum Hintergrund Bartels (1959) Dogmatik, S. 171–207; Müller (2017) Verletzende Worte, S. 113; Vgl. jetzt für einen Fall, bei dem der Charakter der inkriminierten Schriften und der
Die Karriere des Begriffs ‚Pasquill‘ als Synonym für Schmähschrift unterstreicht die sich hier andeutende Ambivalenz der Bewertung noch einmal nachdrücklich. Mit der römischen Figur des Pasquino verband sich ursprünglich eine Lizenz zum Spott gegenüber und zur Kritik an den Mächtigen, eine Lizenz, die in der italienischen Literatur noch lange erhalten blieb. Vgl. für das frühe 17. Jahrhundert z.B. Müller (
Gleich, wie diese gegenläufigen Tendenzen bei intensiverer Erforschung zu gewichten sein werden, erforderlich erscheint schon jetzt eine Revision gegenüber der Hauptlinie der aufklärerischen Bewertung, wie sie von Gottsched repräsentiert wird und seither auch die einschlägige Forschung dominiert: Das Pasquill kann nicht als Gegenpol zur Kritik verstanden werden, sondern es steht vielmehr mitten im Schnittfeld von persönlicher Schmähung und sachlicher Kritik. Dabei war das Mischungsverhältnis zwischen beiden je nach Fall höchst unterschiedlich gelagert. Die Pasquill-Sammlung gegen den ehemaligen Bürgermeister Jacob Herbrot in Augsburg stigmatisierten ihn persönlich als konfessionellen, ökonomischen und moralischen Abweichler. Die drohenden Schmähschriften gegen die Kölner Bürgermeister im Gefolge des Gülich-Aufstandes richteten sich dagegen nicht gegen einen bestimmten Herrschaftsträger, sondern gegen die führenden Repräsentanten des politischen Systems. In höchst aggressiver Weise beschimpfte die Zu Herbrot oben Anm. 59, zu Köln oben Anm. 17. Der Wortlaut der sächsischen Siegemund (2020) Schmähschriftenprozess. Schwerhoff (2004) Öffentliche Räume, S. 126–133.
Das Pasquill war – nimmt man seine heterogenen Erscheinungsformen zusammen – in keinerlei Hinsicht ein klar abgrenzbares Genre, weder im Sinn einer literarischen (konventionalisierten Textgruppe mit klaren Formenmerkmalen) Hempfer (2007) Gattung. Ayaß (2011) Kommunikative Gattungen, S. 278. Vgl. Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivität; Schwerhoff (2020) Invektivität. Rublack (1995) Anschläge, S. 409; Gestrich (1997) Schandzettel, S. 55.
Die Trennung von persönlicher Schmähschrift und sachlicher Kritik durch den Aufklärer Gottsched, mit dem dieser Beitrag eingeleitet wurde, darf deshalb nicht als Beschreibung der Tatsachen missverstanden werden, sondern als ein normatives Postulat mit ganz eigener invektiver Qualität. Es repräsentierte durchaus die Hauptströmung aufklärerischer Haltung zur Frage der Pasquille, unbeschadet der Tatsache, dass manche doch etwas differenzierter argumentierten. Das war etwa der Fall bei jener 1783 erschienenen Nach Grunert (2019) Streiten und Strafen, S. 186f. Grunert (2019) Streiten und Strafen, S.187f. Erkner/Siebers (2004) Das Bahrdt-Pasquill.
Wie der Blick in die Rechtshandbücher und die archivalische Überlieferung zeigt (und wie weitere Forschungen erhärten müssten), war die hauptsächliche Erscheinungsform des frühneuzeitlichen Pasquills im deutschen Sprachraum nicht das literarisch gedrechselte Druckerzeugnis, sondern der situativ platzierte, oft mehr oder weniger improvisierte handschriftliche Zettel, dessen Text gereimt sein konnte, aber nicht musste, und der außerdem durch Bilder ergänzt sein konnte. Der geringe Aufwand bei der Produktion und das relativ kalkulierbare Risiko machten das Pasquill zur klassischen ‚weapon of the weak‘ (Scott) im Zeitalter der Staatsbildung. Anonymität und Einsatz in solchen Situationen, die von einem großen politischen bzw. sozialen Machtgefälle gekennzeichnet waren, vervollständigen das Profil des Pasquills i.e.S.: Insofern scheint seine Charakterisierung als ein spezifisches Kommunikationsmedium zulässig, das sich durch die besondere Verbindung von Handschriftlichkeit, Anonymität, öffentlicher Platzierung und invektiver Adressierung auszeichnet.
Die Schlichtheit dieses Pasquills sollte nicht dazu verleiten, darin ein altmodisches, gleichsam nicht mehr auf der Höhe der Zeit befindliches Mittel der Kommunikation zu sehen. Dagegen spricht nicht allein die erhöhte Sensibilität der Obrigkeiten seit dem Eintritt in das Druckzeitalter, sondern auch die fortdauernde Bedeutung einer Face-to-Face – Kommunikation, wo sachliche Kontroversen eng mit der Bedrohung persönlicher Ehre verknüpft waren. Schwerhoff (2004) Öffentliche Räume, S. 133–136. Vgl. Schlögl (2014) Anwesende und Abwesende. Vgl. exemplarisch Bellingradt (2009) „Lateinische Zeddel“; Sennefelt (2008) Citizenship; jetzt Beckert/Kästner/Schwerhoff et al. (2020) Invektive Kommunikation und Öffentlichkeit.
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