Die künstlerische Kopie bietet nicht erst in der zeitgenössischen Kunst ein Verfahren der Aneignung und Umdeutung. In der Fokussierung auf aktuelle künstlerische Strategien verfolgt der Aufsatz die These, dass die Kopie nicht nur Produktionsmodi verhandelt, sondern auch spezifische Paradigmen einer emanzipierten Rezeption. An den Schnittstellen von Reproduktion und Kopie, Zitat und Aneignung, Reenactment und Preenactment finden sich neue Wahrnehmungshaltungen und -handlungen ausdifferenziert. Das Potenzial dieser Ästhetik der Mittelbarkeit führt zu Fragen der Emanzipation und Differenz.
Keywords
- Reproduktion
- Rezeptionsästhetik
- Museum
- zeitgenössische Kunst
- Mittelbarkeit
Das Publikum betrachtet große skulpturale Fragmente, die auf Paletten liegen oder durch Hilfskonstruktionen gestützt werden. Monumentale Faltenwürfe, geformt aus dünnen Kupferplatten, finden sich neben Ausformungen einer Krone oder Fingern einer Hand (Abb. 1). Der Ausstellungsraum erscheint als Lager, das einen zerlegten Körper beherbergt. Die Stücke aktivieren Erinnerungen an Postkartenabbildungen und die popkulturelle Präsenz eines der bekanntesten monumentalen Wahrzeichen. Selbst das Erlebnis einer Hafenrundfahrt in New York belegt, wie stark der Prozess des Wiedererkennens an die unzähligen Abbildungen und kleinformatigen Repliken gebunden ist, durch die sich die Freiheitsstatue aus dem 19. Jahrhundert ins kollektive Bildgedächtnis eingeschrieben hat.
Abb. 1
Danh Võ,
Courtesy of Kunsthalle Fridericianum, Kassel and Galerie Chantal Crousel, Paris.

Das Projekt Danh Võ,
Den Körperfragmenten fehlt die haltende Konstruktion, die für das begehbare Monument entscheidend war – die Kopie besteht nur aus der reinen Oberfläche. Das Erleben der Kopie-Fragmente, die in ihrer Materialität des glänzenden Kupfers aus der Nähe, auf dem Boden liegend, sich dem Publikum darboten, steht im Kontrast zur Referenz des Originals in New York. Die Statue of Liberty gehört zu den Denkmälern, die aus der Ferne rezipiert wurden und als Turm dienten, in dessen Innerem die Besucher_innen emporsteigen, um aus der Figur heraus auf die Welt zu schauen. Es mag daran erinnert werden, dass die ersten Präsentationen zur Statue of Liberty ebenfalls in der Form von Fragmenten geschah: So wurde die Fackel auf der Centennial Exhibition 1876 in Philadelphia gezeigt und der Kopf auf der Weltausstellung 1878 in Paris. Zur Finanzierung wurden auch Modelle verkauft. Auch die Tatsache, dass die in Paris vorgefertigten Teile in New York zusammengefügt wurden, gehört zum Subtext von Danh Võs Projekt.
In der mehrfachen Dekontextualisierung aus dem historisch-geografischen Kontext und der Rekontextualisierung in einem jeweilig anderen Rezeptionsprozess finden bedeutende semantische Verschiebungen statt. Die Kopien werden in dem Land erstellt, das die Kompetenz und Ökonomie der Nachbildung bereits im 16. Jahrhundert entwickelte. Von Gehlen 2012, S. 323–333.
Die Fragestellung dieses Beitrags richtet sich auf die Rezeption von Kopien und Reproduktionen als eine Wahrnehmung zweiter Ordnung. Die Mittelbarkeit in der Betrachtung von und Umgang mit der Realität des Kunstwerks erweist sich als eine spezifische Form der Reflexion mit den Mitteln von Wiederholung und Differenz. Es wird die These verfolgt, dass der Umgang mit dem Status der Kopie eine Kulturtechnik des Sekundären anzeigt. Fehrmann et al. 2004. Vgl. auch Daur 2013. Es ist die wichtige Ausstellung Vgl. Malraux 1949; Grasskamp 2014.
Meine Überlegungen finden ihren Ursprung in einer Tagung, die 2013 im Otsuka Museum of Art in Naruto, Japan, stattfand. Vgl. Schneemann 2014. Vgl. auch Tietenberg 2015.
Abb. 2
Ausstellungsansicht Otsuka Museum of Art, Naruto, Japan, 2013.
Foto: Peter J. Schneemann

Die künstlerischen Affirmationen ebenso wie Dekonstruktionen des Dualismus von Original und Kopie sind zahllos und ausgiebig studiert. Dabei spielen Begrifflichkeiten und Wertzuschreibungen eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Das Vokabular für die Bezeichnung der Beziehung zwischen einem Bild und seinem Referenzbild verrät die konzeptuellen Implikationen. Kuratorische Bearbeitungen des Themas operieren mit Typologien und Glossaren: ‚Auftragskopie‘, ‚Appropriation Art‘, ‚Hommage‘, ‚Parodie‘, ‚Wiederholung als Ritual‘. Vgl. Mensger 2012; Schwartz 2000. Vgl. Boime 1964.
Eine völlig andere, moderne Variante bezieht sich dagegen auf die Kopie als eine Strategie der Aneignung, der subversiven Dekonstruktion. Die Vervielfältigung zielt dabei als kritische Relektüre auf eine Offenlegung verdeckter ideologischer Implikationen. So ist es etwa das Konzept der Autorschaft, welches die Diskurse um die Appropriation adressieren. Eklektizismus, Wiederholung, Kopie erscheinen als Dekonstruktionen des Geniekultes und des Wertesystems von Kreativität. Vgl. Römer 2001; Gelshorn 2012; Han 2011. Vgl. Weibel 1999.
Auf der Ebene der Konzepte der Moderne bleibt also schlicht zu konstatieren, dass die Vorstellung von einem ersten Bild als dem Ursprung vom zweiten Bild längst aufgegeben und vielmehr der Fokus auf Prozesse der Umdeutung und permanenten Rückwirkung gelenkt werden muss. Vgl. Blunck 2011. Vgl. Lambert 1987; Ullrich 2015.
Dirk von Gehlen publizierte 2011 unter dem Titel Vgl. von Gehlen 2012, S. 7.
Der Kopie haftet dennoch immer noch der Moment des Verlustes, des Ersatzes und Scheiterns an. Viele der Bezeichnungen zeigen neben der Funktion vor allem auch einen Status im Wertesystem an, der geprägt ist von der Idee des minderwertigen ‚Ersatzes‘: ‚Replik‘, ‚Imitation‘, ‚Mimikry‘, ‚Fake‘, ‚Zitat‘, ‚Placebo‘, ‚Surrogat‘. Die neue Auseinandersetzung mit der Reproduktion demonstriert dagegen das Gewicht einer sich selbst thematisierenden Bedingtheit. Bei Danh Võ ist es die Fragmentierung, geografisch potenziert, die diesen Aspekt der Kopie adressiert. Es erscheint ebenso unmöglich wie auch hinfällig zu sein, die Fragmente wieder zu einer Gesamtfigur zusammenzufügen. Die Wahrnehmung des Kunstwerkes als Kopie verschränkt die Gegenwart des Augenblicks mit Dimensionen der Erinnerung. Die Konstruktion einer künstlichen ‚Gleichzeitigkeit‘ feierte der Medienkünstler Christian Marclay mit Vgl. Kernbauer 2015.
Der Anspruch der absoluten Gleichzeitigkeit wird ebenso aufgegeben wie die Erwartung einer reinen, das heißt unvermittelten Präsenz. Stattdessen erstarkt der Moment der Mittelbarkeit. An dieser Stelle findet etwa ein Aufleben von Techniken der Anekdote und der Ekphrasis statt. Vgl. Schneemann 2019. Vgl. Mundy 2013.
Die ästhetische Erfahrung wird also in der Dekonstruktion einer reinen Unmittelbarkeit keinesfalls ausgeschlossen, aber sie kann als eine geliehene, eine bereits erprobte und zu erprobende beschrieben werden. Ich möchte diese These mit dem Verweis auf den Trend zu Reinszenierungen von Kunstausstellungen veranschaulichen. Zum einen geht es dabei, wie im Falle von Harald Szeemann, um die Würdigung einer kuratorischen Leistung. Zum anderen findet aber eine komplexe Historisierung und Wiederaufführung der Kunstwahrnehmung selbst statt. Diese stellt sich besonders radikal in der Verortung der Leistung der Kopie dar. Die Reinszenierung der Berner Ausstellung von 1969 in den Räumen der Prada Foundation in Venedig operierte mit Originalen ebenso wie mit Markierungen von Absenz. Hierzu wurden gestrichelte Umrisse im Ausstellungsraum angebracht.
Abb. 3
Ausstellungsansicht
Abgedruckt in Germano Celant & Fondazione Prada (Hg.) (2013): When Attitudes Become Form, Bern 1969/Venice 2013. Mailand: Progetto Prada Arte 2013, S. 602–603.

Die Reinszenierungswelle in der kuratorischen Praxis fördert eine Kunstbetrachtung, die als Rekonstruktion einer historischen Kunsterfahrung an einem anderen Ort zu beschreiben ist. Celant 2013; vgl. auch Celant 2015; Conte 2018; Bismarck 2014.
Die Kopie, in Parallelität zur Übersetzung, erweist sich als Kulturtechnik der Vergegenwärtigung, die Variation und Differenz ermöglicht. Den Schritt, das Historische auf die Gegenwart zu beziehen, beschreibt die kunstgeschichtliche Hermeneutik als zentrale Leistung der Deutung. Vgl. Bätschmann 1984. Vgl. auch Roesler-Friedenthal / Nathan 2003.
Die Reproduktion wird zu einer Referenz, als Wiederholung befragt sie Kategorien der Wertschätzung, spiegelt Modi des Verstehens und Missverstehens. Ob Sampling oder Wiederholung, Vervielfältigung oder Übersetzung, wir sind mit Qualitäten des Performativen konfrontiert. Es geht um nichts weniger als um das Angebot und die Praxis polyperspektivischer Lektüren und ihrer gesellschaftlichen Realität.
Es ist in diesem Zusammenhang nicht zufällig, dass sich, nicht zuletzt durch künstlerisches Interesse an dieser Gattung, die Modi der Reproduktion erweitert haben. Wurde früher jede Form von Rahmung und Kontext beim Reproduzieren vermieden, steigt das Interesse, eine Kontextualisierung zu leisten und Rezeptionsprozesse im sogenannten ‚Installation Shot‘, das heißt im Moment eines spezifischen Zeigens, als Aufführung, zu dokumentieren. Vgl. auch die wichtigen Arbeiten von Louise Lawler. Vgl. Sheldon 2017.
Abb. 4a
Seitenansicht des Ausstellungskataloges Thomas B. Hess und Tate Gallery (Hg.) (1972): Barnett Newman. Ausst.-Kat., London. The Tate Gallery, 28.06-06.08.1972, London: The Tate Gallery Publications Department, S. 40–41.

Abb. 4b
Betrachter vor

Abb. 4c
Besucherinnen lassen sich vor Barnett Newmans
Foto: Peter J. Schneemann

Die Reproduktionen schreiben die historischen und geografischen Lektüren in ihrer Vielfältigkeit und ihren Projektionen in die Diffusion des Werkes ein. Oder anders gesagt, an die Stelle des Interesses an der Reproduktion des isolierten Werkes tritt der Blick auf den Kontext und den Akt des Schauens. In spielerischer Weise hat diese Betrachtung von Betrachtenden die Künstlerin Georgia Kotretsos anhand der Museumsserie von Thomas Struth bearbeitet (Abb. 5). Vgl. Struth / Belting / Grasskamp 1993. Zu Kotretsos vgl. Kihm 2015.
Abb. 5
Georgia Kotretsos,

Diese Prozesse der Mittelbarkeit sind es, die zunehmend die Vermittlungsarbeit von Museen beschäftigt. Mit Tweetups wird versucht, den Umgang mit den sozialen Medien in das Museumserlebnis zu integrieren. Vgl. Kohle 2018. Vgl. die präzise Verwendung dieser Strategien in der Louvre-Choreographie von Beyoncé und Jay-Z 2018.
Bei Tweetups und Selfies setzt gerne ein kulturkritischer Diskurs ein, der das Erlebnis aus ‚zweiter Hand‘ als großen Verlust beschreibt, als Verlust der Präsenz. Es lohnt sich jedoch der Blick auf den Umgang mit der Reproduktion im Rahmen einer globalisierten Kunstproduktion und Kunstrezeption. Die Kopie als Medium einer emanzipierten Rezeption kann in Verbindung gebracht werden mit der Auflösung von sozialen und geografischen Hierarchien, von alten Vorstellungen von Zentrum und Peripherie.
2013 wurde die ambitionierte Ausstellung Zentrum für Kunst und Medientechnologie 2011 und Zentrum für Kunst und Medientechnologie 2013. Araya Rasdjarmrearnsook,
Wenn sich diese Fragen so abstrakt anhören, liegt es auf der Hand, dass sich der ausbreitende Diskurs um das Reenactment als Konkretisierung der Mechanismen von Reproduktion, Aktivierung, und Dokumentation anbietet. Vgl. Arns / Horn 2007; Dreschke et al. 2016; Engelke 2017; Kartsaki 2016. Vgl. Auslander 2006; Santone 2008. Vgl. Biesenbach 2010. Vgl. Bleuler 2014.
Das Phänomen der Verschränkung von Performance und Handlung, Bild und Belebung und wiederholter Bildwerdung kennt weitere Wendungen: Wirft man einen Blick auf die Illustrationen im Katalog, Bilder von den Reenactments, wiederum in schwarzweiß Ästhetik, findet sich die Bezeichnung für eine eigenartige Zwittergattung: Wir identifizieren nicht nur die Künstlerin in der Rolle einer Besucherin, sondern weitere Kuratorinnen und Kuratoren, die fiktiv und spielerisch als Statistinnen und Statisten die Rolle des Publikums übernehmen. Das Label benennt das Phänomen als ‚conceptual photographs‘: Es handelt sich nicht mehr um eine Dokumentation von einem Ereignis, sondern um eine Vorlage für das mögliche Rollenverhalten des neuen Publikums. Die Kopie dient damit als Matrix für ein sogenanntes Preenactment, wie es aktivistische Künstlerinnen, etwa Yael Bartana entwickelt haben. Die wiederholte Geste als Rekonstruktion greift nun als Präfiguration einer Differenz in die Zukunft. Vgl. Marchart 2015.
Olaf Nicolai ließ in der Kunsthalle Wien 2018 auf einen eingezogenen Bühnenboden politische Pressebilder aus seinem Archiv von Pflastermalern und Auftragskünstlern in Kreide großformatig kopieren. Das Publikum war, ebenso wie diverse Performancekünstler_innen, dazu aufgefordert, diese Nachbildungen zu begehen, mit und auf ihnen zu agieren. Dieser performative Umgang hinterließ auf den Kopien Spuren – sie wurden sukzessive abgetragen. Ein Feedback-Loop trug Kopie und Prozess wiederum in die sozialen Medien und thematisierte damit die politische Dimension der in diesem Aufsatz diskutierten emanzipatorischen Potenzen der Kopie. Vgl. Nicolai 2018.
Abb. 1

Abb. 2

Abb. 3

Abb. 4a

Abb. 4b

Abb. 4c

Abb. 5

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