Although visual culture of the 21th century increasingly focuses on representation of death and dying, contemporary discourses still lack a language of death adequate to the event shown by pictures and visual images from an outside point of view. Following this observation, this article suggests a re-reading of 20th century author Elias Canetti. His lifelong notes have been edited and published posthumously for the first time in 2014. Thanks to this edition Canetti's short texts and aphorisms can be focused as a textual laboratory in which he tries to model a language of death on experimental practices of natural sciences. The miniature series of experiments address the problem of death, not representable in discourses of cultural studies, system theory or history of knowledge, and in doing so, Canetti creates liminal texts at the margins of western concepts of (human) life, science and established textual form.
Keywords
- Tod
- Thanatologie
- Sprache des Todes
- Elias Canetti
- Experiment und Literatur
- Laboratorium
- Aphorismus
- Aufzeichnung
- Kleine Form
Es bleibt auch in heutigen medizinisch hochtechnisierten, durch und durch hygienischen Gesellschaften unabwendbar, zu sterben. Teile des Aufsatzes basieren auf dem Kapitel „Den Tod ausstreichen. Zu Canettis Susan Sontag (1996 [1978]): Krankheit als Metapher. Frankfurt a. M.: Fischer, S. 10. Vgl. Thomas Macho, Kristin Marek (Hg.) (2007): Die neue Sichtbarkeit des Todes. München: Fink. Das Ringen um eine solche Sprache lässt sich nicht zuletzt in deutschsprachigen Autopathografien der letzten Jahre beobachten, etwa bei Christoph Schlingensief oder Wolfgang Herrndorf's, vgl. zu Letzterem Elisabeth Heyne (2018): Writing Aphasia. Intermedial observation of disrupted language in Wolfgang Herrndorf's
Es mag verwundern, zu diesem Sprachproblem einen Autor zu befragen, dessen Schreiben nicht nur zeitlich vor dem digitalen Zeitalter angesiedelt ist, sondern der sich auch noch zeitlebens weigerte, den Tod als unumkehrbare Schließungsfigur für das Leben anzuerkennen und daraus eine irritierende wie radikale „Todfeindschaft‟ Vgl. grundlegend dazu das Kapitel „Der Tod-Feind‟ in Sven Hanuschek (2005): Elias Canetti. Biographie. München: Hanser 2005, S. 644–657; sowie Peter Friedrich (2008): Tod und Überleben. Elias Canettis poetische Anti-Thanatologie. In: Lüdemann, Susanne (Hg.): Der Überlebende und sein Doppel. Kulturwissenschaftliche Analysen zum Werk Elias Canettis. Freiburg: Rombach, S. 215–245. Vgl. dort jeweils auch die Bezüge zu Heidegger, Hobbes, Cassirer und Montaigne, auf die im Folgenden nicht eingegangen werden kann.
Canettis Werk verfügt über das, was Adorno „utopisches Bewusstsein‟ Theodor W. Adorno 1964 in einem Radiointerview mit Ernst Bloch (1980): „Etwas fehlt ...‟ Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. Ein Rundfunkgespräch mit Theodor W. Adorno und Ernst Bloch. Gesprächsleiter: Horst Krüger [1964]. In: Traub, Rainer/Wieser, Harald (Hg.): Gespräche mit Ernst Bloch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 58–77, hier S. 66. Ebd., S. 68. Mit Blick auf Canettis Gesamtwerk sind mindestens vier Annäherungsformen an den Tod zu unterscheiden: 1. Der in „Canettis jahrzehntelange Bemerkungen ‚gegen den Tod’ gehen einem auf die Nerven. Sie sind unklar, manchmal wirken sie wie glatter Unsinn, sie schließen sich nie zu einer konsistenten Argumentation zusammen‟ – so Sven Hanuscheks zuspitzende Paraphrase kritischer Stimmen in: Hanuschek: Elias Canetti, S. 644. Vgl. ebd. S. 646–649 auch Canettis Stellungnahme dazu. Vgl. zur Genese oder eher Nichtgenese des Elias Canetti: Nachlass Zentralbibliothek Zürich 5a, Notiz vom 20.6.1940, zit. nach Hanuschek: Elias Canetti, S. 647.
2014 sind Canettis über einen Zeitraum von 52 Jahren obsessiv verfasste Notizen und Aphorismen zum und gegen den Tod postum als
Canetti hatte von 1924 bis 1929 in Wien Chemie studiert, obwohl er davor wie danach wenig Begeisterung für das Fach zeigte und später die Wahl des Studienfachs damit begründete, er habe dem ökonomischen Druck, den seine Mutter auf ihn ausübte, nachgeben müssen. Trotzdem nutzt der die Modelle chemischer Strukturen und Reaktionen explizit für seine schriftstellerische Tätigkeit:
Ohne Struktur kann ich nichts Grösseres schreiben. Aber ich wünsche mir nicht immer dieselbe, ich brauche ihrer viele, die Monotonie klassischer Form-prinzipien beengt und irritiert mich [...] Ich brauche sehr viele und sehr verschiedenartige Strukturen und sie müssen bis ins Innerste der Dinge gehen, bis in ihre Substanz. Das aber, scheint mir, entspricht der Natur der Chemie. Kein Ende möglicher Verbindungen ist in ihr abzusehen: und doch sind es Gebilde, die einmal gewonnen ihre Festigkeit haben, bestehen bleiben, nicht gleich wieder zerfallen. Die Offenheit aller Zusammensetzungen wünsche ich mir auch für die Kunst. Elias Canetti: „Verdrängung der Chemie‟, ein verworfenes Kapitel für die Autobiografie, Nachlass Zentralbibliothek Zürich 226, zit. nach: Hanuschek: Elias Canetti, S. 117.
Aus den erhaltenen Studienunterlagen und der Promotionsurkunde von 1929 ist bekannt, dass er neben seiner Arbeit im Laboratorium der Universität auch Veranstaltungen in Experimentalphysik besuchte. Canetti war vertraut mit der experimentellen Arbeit des Labors, mit dem Aufbau von Versuchsreihen, den Regeln von Experimentalanordnungen. Vgl. zu Canettis naturwissenschaftlicher, insbesondere physikalischer und chemischer Modellbildungspraxis vor allem in Vgl. u.a. Stefan H. Kaszynski (1984): Im Labor der Gedanken. Zur Poetik der Aphorismen von Elias Canetti. In: Ders. (Hg.): Elias Canettis Anthropologie und Poetik. München: Universitätsverlag Poznan und Carl Hanser, S. 151–163; Friedrich: Die Rebellion der Masse im Textsystem, S. 53: „Der aphoristische Einzelsatz widerspricht den Anforderungen abgeschlossener Systemarchitektur, da jede Eintragung fortwährendes Beginnen und Experimentieren ist.‟ Der Aphorismus ist natürlich längst als Textform untersucht worden, die immer schon das Prozessuale des Denkens „in Szene setzt‟, das Denken im Vollzug zur Darstellung bringt (Peter von Matt: Der phantastische Aphorismus bei Elias Canetti. In: Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, 245, S. 9–19, hier S. 10). Von Matt weist dabei spezifisch für Canettis Aufzeichnungen auf die Möglichkeit des „anderen Denkens‟ hin, die der Aphorismus zur Verfügung stellt. Das, was die Diskurse der Moderne, sämtlich auf dem autonomen Subjekt begründet, nicht vermöchten; gelinge dem Aphorismus, also etwa kollektive Subjekte zu denken, das Subjekt außer Kraft zu setzen (ebd. 11f). Von Matt betont auch die Nähe von Canettis Aphorismen zu Lichtenberg und Hebbel und konturiert diese Form der Aphoristik als eine, die „einem anderen Wissen und Empfinden‟ einen Spielraum gebe (ebd., S. 18). Gerade in der raumzeitlichen Beschränkung der Textform liege dabei der Clou, es gehe auch in Canettis mythischen Aufzeichnungen nicht um die Wiederkehr des Mythos, sondern nur um Analogien zum mythischen Erleben und vorwissenschaftlichen Denken, so Matt (ebd.). Siehe zu Canetti in der Aphorismustradition u.a. auch: Ralf Simon (1997): Animalische Einfälle. Reflexionen über Tiere als Thema von Aphorismen (Lichtenberg, Jean Paul, Canetti). In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft, 32/33, S. 85–112.
Dabei geht es den folgenden Ausführungen weniger darum, die Literatur allgemein zum Experimentalraum zu erklären, als nachzuweisen, wie Canetti mit einer analytischen Fragestellung zur Unvermeidbarkeit des Todes Formen des experimentellen Denkens als Strukturprinzipien in das Medium des Textes überführt. Die Texte verstehen und inszenieren sich selbst als Orte für Versuchsanordnungen. Erst dadurch lassen sich mit ihnen Reflexionen über die Sprache des Todes betreiben, weil sie in der sprachlichen Form des Abbrechens, Neuansetzens, vielfältigen Versuchens den endgültigen Bruch des Todes wiederholen. In der Verknüpfung der Textform mit dem Strukturmodell und den Prozessen von Versuchsanordnungen zielen Canettis Aufzeichnungen darauf, den Tod in der Sprache zu fassen zu bekommen, um ihn dann zu negieren.
Mit dieser These im Rücken rekapituliert der Beitrag weder die verästelten Forschungen zum Laboratoriumsbegriff noch zur Schnittstelle von Literatur und Experiment, sondern lenkt den Blick vielmehr auf die wechselseitige Hervorbringung von Versuchsanordnung und Tod. In dieser Verschränkung konturieren Canettis Aufzeichnungen bereits theoretische Überlegungen, die in späteren Diskursen zu Laboratorium und Experiment virulent werden. Zugleich wird sichtbar, wie Canetti den Tod im Gegensatz zu zentralen Sprach- und Kulturtheorien des 20. Jahrhunderts aus seiner Abwesenheit heraus zu verstehen sucht und ihn als eigenen Akteur zutage treten lässt, ihn damit beschreibbar, handhabbar und so schließlich auch verneinbar zu machen versucht.
Jede vorstellende Beschäftigung mit dem Tod stößt auf ein logisches Problem: Kein System kann sein eigenes Ende widerspruchsfrei entwerfen. Vgl. Thomas Macho (2000): Tod und Trauer im kulturwissenschaftlichen Vergleich. In: Assmann, Jan: Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Totenriten im Alten Ägypten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 89–120, S. 91; Alois Hahn (1996): Unendliches Ende: Höllenvorstellungen in soziologischer Perspektive. In: Stierle, Karlheinz/Warning, Rainer (Hg.): Das Ende. Figuren einer Denkform. (=Poetik und Hermeneutik, XVI) München: Wilhelm Fink, S. 155–182. kein zukunftloses Element, kein Ende der Gesamtserie produziert werden, weil ein solches Endelement nicht die Funktion eines autopoietischen Elementes übernehmen könnte. Das Bewusstsein kann sich selbst also nicht wirklich beendbar wissen und spricht sich daher ewiges Leben zu, nur von allen bekannten Inhalten abstrahierend. Niklas Luhmann (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 374f.
Davon ausgehend entwickelten Armin Nassehi und Georg Weber in den 1980er-Jahren in soziologischer Perspektive eine Thanatologie, die zugleich eine Gesellschaftstheorie der Moderne enthält: Gerade an der absoluten Bedrohung durch den Tod, den das Gesellschaftssystem verdränge, da es ihn nicht denken könne, manifestierten sich die modernen Spannungen zwischen Individuum und Gesellschaft. Vgl. Armin Nassehi, Georg Weber (1989): Tod, Modernität und Gesellschaft. Entwurf einer Theorie der Todesverdrängung. Opladen: Westdeutscher Verlag. Macho: Tod und Trauer, S. 91. Armin Nassehi (2004): „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.‟ Über die Geschwätzigkeit des Todes in unserer Zeit. In: Liessmann, Konrad Paul (Hrsg.): Ruhm, Tod, Unsterblichkeit, Wien: Zsolnay, S. 118–145.
Der Tod ist dann nur als Tod der Anderen diskursivierbar. Als dieser steht er auch am Anfang einer anderen theoretischen Bewegung, die nicht von der Verdrängung des Todes in der Moderne ausgeht, sondern von seiner epistemologischen Integration und Bändigung. Michel Foucault betrachtet in der Michel Foucault (2016 [1963]): Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a. M: Fischer, S. 207. Ebd., S.160. Ebd., S. 207. Ebd., S. 209. Zwar bezieht sich Canetti nicht auf die medizinische Sichtbarkeit des Todes, doch lässt sich das Thema der Sichtbarkeit der Leiche auch in
In genauem Gegensatz zu seiner Ausgrenzung avanciert der Tod in dieser Perspektive zu einer unabdingbaren Schließungsfigur des 20. Jahrhunderts. Erst über den Tod werden die großen Begriffe von Individuum, Sprache, Zeichen und Erzählen denkbar. Während für Lacan jede Form symbolischer Repräsentation die Abwesenheit des Gegenständlichen, den „Mord der Sache‟, Jacques Lacan: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse. In: Ders.: Schriften I. Hg. v. Norbert Haas. Übers. v. Klaus Laermann. Olten, Freiburg i. Br.: Walter 1973, S. 71–169, hier S. 166. Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Leskows [1936]. In: Ders.: Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 103–128, hier S. 114. Vgl. auch S. 120.
„Du sollst nicht sterben (das Erste Gebot).‟ ([1942] BgT, 19)
Schon anhand dieser kurzen Nennungen lässt sich erahnen, welchen weitreichenden Effekt es nach sich ziehen würde, an der epistemologischen, symbolischen, ästhetischen oder narrativen Autorität des Todes zu rütteln, diese gar als abwesend vorzustellen: Eine Kettenreaktion, die Individuum, Sprache und Roman, ja sogar Kultur „Die ‚Kultur’ wird aus den Eitelkeiten ihrer Förderer zusammengebraut. Sie ist ein gefährlicher Liebestrank, der vom Tode ablenkt. Der reinste Ausdruck der Kultur ist ein ägyptisches Grab, wo alles vergeblich herumsteht, Geräte, Schmuck, Nahrung, Bilder, Skulptur, Gebete, und der Tote ist doch nicht am Leben.” ([1943] PdM, 38) Aufzeichnungen, die zuvor bereits in anderen Aufzeichnungsbänden veröffentlicht wurden, werden hier aus dem
Canettis radikales Vorgehen lässt sich besser verstehen, betrachtet man es vor dem Hintergrund seiner Wissenschaftskritik. Sein Werk widmet sich Phänomenen und Zuständen, die sich traditionellerweise wissenschaftlichem Zugriff wie auch menschlicher Erfahrung entziehen. So etwa Massenzustände, Träume, Schamanenvisionen, Säuferdelirien oder mythische Verwandlungen, um nur einige der Untersuchungsgegenstände aus
Den Tod, der für die innere Erfahrung und anschließende reflexive Durchdringung unzugänglich ist, will Canetti verstehen, indem er ihn experimentell aufhebt. Canetti versucht folglich den unheilbaren Bruch, den der Tod bezeichnet, gerade nicht in eine Form der Anschlusskommunikation zu überführen und trotz allem operationalisierbar zu machen, sondern verneint stattdessen den Bruch selbst, sowohl über die Forderung nach einer medizinischen Verlängerung des Lebens als auch durch eine kultursoziologische Nicht-Anerkennung des Todes. Vgl. Friedrich: Die Rebellion der Masse im Textsystem, S. 428f. Es geht ihm gerade dabei um radikale Grenzverschiebungen und alternative Ordnungen, die erst aus der Perspektivumkehrung auf eine Welt ohne Tod denkbar werden. Immer wieder kommt dafür der Blick auf „andere‟ Glaubenssysteme zum Einsatz, um diese Grenzverschiebungen zu markieren. Im „Anderen‟ sieht er auch eine andere Beziehung zum Tod vorgedacht: „Die Macht des Tötens verschwindet vor der Macht des Beschwörens. Was ist der größte und furchtbarste Töter verglichen mit einem Mann, der einen einzigen Toten zum Leben beschwört? Wie lächerlich muten die Bemühungen der Machthaber an, dem Tod zu entgehen, und wie großartig sind die Bemühungen der Schamanen, Tote zu beschwören. [...] Verächtlich sind mir die Priester aller Religionen, die Tote nicht zurückholen können. Sie verstärken bloß eine Grenze, über die niemand mehr springen kann.‟ ([1956] PdM, 218)
In diesem Abstand zu anderen Ansätzen mag auch der Grund dafür liegen, dass er in neueren Übersichten zu philosophischen und kulturwissenschaftlichen Theorien des Todes systematisch ausgespart bleibt. Vgl. u.a. Petra Gehring: Theorien des Todes zur Einführung. Hamburg: Junius 2013; Macho: Tod und Trauer; Klaus Feldmann, Werner Fuchs-Heinritz (Hg.) (1995): Der Tod ist ein Problem der Lebenden. Beiträge zur Soziologie des Todes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Vgl. dazu auch Edgar Piel (1984): Elias Canetti. München: C. H. Beck/Edition Text + Kritik, S. 109. Vgl. dazu außerdem: Ebd., S. 99ff sowie als Beispiel politischer Kampfansagen gegen den Tod, die ihn in ähnlicher Weise verneinen, den russischen Dichter Alexander Svjatogor, der Anfang des 20. Jahrhunderts die Gruppe der „Vertikalisten‟ gründete, deren Programm unter anderem auch die Abschaffung des Todes enthielt.
Um sich eine Welt ohne Tod vorzustellen, bedarf es einer bestimmten Methode, um Undenkbares denkbar und greifbar zu machen; nicht um Antworten zu überprüfen, sondern um überhaupt erst die Frage zu formulieren; Hans-Jörg Rheinberger (2002): Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Göttingen: Wallstein, S. 22. Falko Schmieder: ‚Experimentalsysteme′ in Wissenschaft und Literatur. In: Gamper, Michael (Hg.): Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien. Göttingen: Wallstein 2010, S. 17–39, hier S. 25. Hans-Jörg Rheinberger (1992): Experiment, Differenz, Schrift: Zur Geschichte epistemischer Dinge. Marburg a. d. Lahn: Basilisken-Presse, S. 25. Stellt man Rheinbergers begriffliche Differenzierungsarbeit vom Experiment zum Experimentalsystem in Rechnung, ist zugleich von einer Dezentrierung der beteiligten Elemente auszugehen. Das Forschungssubjekt etwa verliert seine Souveränität über die Abläufe und Bedingungen des Experimentes, das Objekt der Forschung oszilliert als epistemisches Ding zwischen Begriffs- und Dingstatus. Vgl. dazu: Falko Schmieder (2010): ‚Experimentalsysteme’ in Wissenschaft und Literatur. In: Gamper, Michael (Hg.): Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien, Göttingen: Wallstein, S. 17–39, hier S. 20. Eine solche Destabilisierung des Forschungssubjekts lässt sich auch in Canettis textuellen Laboratorien beobachten, schließlich soll ja eigentlich gerade die stabile Form des Individuums ausgestrichen werden. Vgl. kritisch dazu: Michael Bies, Michael Gamper (2011): „Es ist ein Laboratorium, ein Laboratorium für Worte‟. Experiment und Literatur III 1890–2010. Göttingen: Wallstein, S. 19; Schmieder: ‚Experimentalsysteme’, S. 29. Canetti reflektiert das Verhältnis von Experiment und Fiktion auch in anderen Aufzeichnungen, die nicht auf den Tod zugespitzt sind. Dabei enttarnt er die scheinbar faktuale Wahrheitsproduktion des Experimentierens, der empirischen Wissenschaften also, selbst als Fiktionen: „Dann kam einer, der bewies, daß alle Experimente, vom ersten angefangen, eben durch das erste, falsch waren; daß sie in sich, in ihrer Folge, später wohl stimmten, und nur da das erste unbestritten blieb, war man nie auf den Fehler gekommen. So war plötzlich die ganze technische Welt als Fiktion entlarvt und die Menschheit konnte aus ihrem bösesten Traum erwachen.‟ ([1947] PdM, 117) Die Experimentierpraxis versucht er in dieser Reflexion für eine fundamentale Verunsicherung experimentbasierter Faktengläubigkeit zu nutzen, gleiches lässt sich an seinen eigenen Experimenten mit dem Tod ablesen. Ein Mensch, der nicht essen müßte und doch gedeiht [...] – das wäre das höchste moralische Experiment, das denkbar ist; und nur wenn es glücklich gelöst wäre, könnte man ernsthaft an die Überwindung des Todes denken. Ich möchte mir vornehmen, eine Woche lang an den Tod überhaupt nicht zu denken, nicht einmal an das Wort, als wäre es etwas Künstliches, in die Sprache Eingeschobenes, eines jener neuen aus Anfangsbuchstaben zusammengesetzten Ungetüme, T.O.D., und niemand wüßte mehr, wofür die Buchstaben stehen, und niemand, der noch auf Sprache etwas hält, erniedrigte sich dazu, es zu verwenden.
Das als solches benannte Experimentieren zielt auf eine Darstellung des Todes
In den zitierten Aufzeichnungen werden Versuchsanordnungen für Experimente mit der Sprache entworfen – und dies selbst im Medium der Sprache. Dies nicht nur auf Wortebene, sondern auch in Bezug auf das Erzählen: „Erzählen, erzählen, bis niemand mehr stirbt. Tausendundeine Nacht, Millionen und eine Nacht.” ([1955] BgT, 81): ein Erzählmodell ohne Anfang und Ende, das aus der permanenten Vertagung des Todes entsteht und eine grenzenlose Form hervorbringt, die in einer Welt ohne Tod schlicht nicht denkbar ist. Der Versuch, den Tod über das Weitererzählen aufzuschieben und fernzuhalten, der zum Motor der Erzählung wird, ist ein bekanntes Motiv. In dieser Hinsicht lässt sich auch das Ulrich van Loyen (2014): Predigten auf den Untergang Roms. Franz Baermann Steiner, Elias Canetti und die Apokalypse. In: Dane, Gesa/Adler, Jeremy (Hgg.): Literatur und Anthropologie. Elias Canetti, Franz Baermann Steiner und H. G. Adler in London. Göttingen: Wallstein, S. 227–244, hier S. 231, an dieser Stelle allerdings über die Aufzeichnungen allgemein.
Canettis Abneigung gegen geschlossene Denksysteme überlagert sich an dieser Stelle mit seinem Misstrauen gegen die Einheit der Form sowie die Schließungsfigur des Todes. Aus ihrer radikalen Verkürzung und ihrem Fragmentcharakter schöpfen sie ihre Produktivität. Die einzige formale Einschränkung der Schreibtradition der Aufzeichnung, an die Canetti anknüpft, besteht darin, dass sie „Kontrolle über einen spontanen Impuls beansprucht, der kognitiv einzig daraufhin kontrolliert wurde, ob er Neues, Überraschendes, zutage brachte‟. Ebd.
Zudem ist entscheidend, dass das Buch selbst ein lebenslang geplantes und zugleich nie zu verwirklichendes Vorhaben blieb. Die Auseinandersetzung mit dem Tod durchzieht alle Werke, ohne selbst in einem geschlossenen Werk behandelt worden zu sein Vgl. dazu auch: Wolfgang Hädecke (1982): Die moralische Quadratur des Zirkels. Das Todesproblem im Werk Elias Canettis. In: Elias Canetti. Text + Kritik, S. 24–30.
So wie das Forschungssubjekt seine Souveränität über die Abläufe des Experimentes mit den Instrumenten, Techniken, Eigenheiten der Materialien und sozialen Prozessen in und um das Laboratorium teilen muss, lässt sich auch das forschende Subjekt des Bruno Latour (2006): Gebt mir ein Laboratorium und ich werde die Welt aus den Angeln heben. In: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hgg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: Transcript, S. 103–134, hier S. 128. Peter von Matt: Nachwort. In: BgT, 308–329, hier 326.
In zwei Aufzeichnungen aus dem Jahr 1942 heißt es:
Er sehnt sich nach den Sirenen: Als wäre der Tod zu überstehen, wenn er nur laut genug angekündigt wird. Die eigentliche Kunst der Sirenen war das Stöhnen; es klang, wie wenn sie vor Liebe im Sterben lägen. Da wollte ihnen jeder, für die Liebe, das Leben retten. Doch sie überlebten die Retter und wälzten sich dann weiter im Sterben, vor Liebe.
In den Assonanzen, dem gedehnten Sehnen nach Sirenen, gelingt es der ersten Aufzeichnung bereits auf lautlicher Ebene, den Tod zu überwinden, indem das „Überstehen‟ den Vokal auch über die Zäsur des stakkatohaften „Tod‟ hinwegträgt. Während die Lautebene jene Todesüberwindung spielerisch vordenkt, stört der Konjunktiv des zweiten Satzes diese Hoffnung allerdings und weist auf das hin, was der Gesang der Sirenen, auf mythologischer Ebene ebenfalls eine lautliche Täuschung und Verlockung, eigentlich eröffnet: Jenen furchtbaren und zugleich anziehenden Abgrund des Todes. Hinter Canettis Aufzeichnung aus dem Londoner Exil verbirgt sich zudem eine Verknüpfung der mythologischen Figur mit den Sirenen des Zweiten Weltkrieges. Die warnenden Sirenen vor Bombenangriffen und die sogenannten „Jericho-Trompeten‟, die an deutschen Kampfflugzeugen angebracht wurden, um im Sturzflug laute, höher werdende Sirenengeräusche und damit zusätzlich eine bedrohliche Klangkulisse zu erzeugen, künden beide vom drohenden Tod: Mythische und zeitgenössische Todesdrohung fallen hier im verlockenden Gesang der Sirenen zusammen. Vgl. dazu Einleitung und die Beiträge des Bandes: Bernhard J. Dotzler, Henning Schmidgen (2008): Einleitung. Zu einer Epistemologie der Zwischenräume. In: Dies. (Hgg.): Parasiten und Sirenen. Zwischenräume als Orte der materiellen Wissensproduktion. Bielefeld: Transcript, S. 7–18. In seinem Essay „Die Begegnung mit dem Imaginären‟ beschreibt beispielsweise Maurice Blanchot jenen rätselhaften und wunderbaren Gesang der Sirenen in ganz ähnlicher Weise als tödliche Anziehung und schreckliche Abstoßung des Todes als Bereich des Imaginären: „Sang des Abgrundes, der, wenn man ihn nur einmal vernommen hat, in jedem Wort einen Abgrund auftat und sehr dazu verlockte, in ihm zu verschwinden‟. Blanchots Beschäftigung mit den Sirenen zielt darauf, sie von ihrem Schicksal als betrügerische Illusionen zu befreien: „Waren die Sirenen, wie uns die geläufige Überlieferung einreden will, Verkörperungen jener falschen Stimmen, auf die man nicht hören soll[?] [...] Von jeher fand sich bei der Menschheit das nicht sehr edle Bestreben, die Sirenen und ihre Glaubwürdigkeit zu schmälern, indem man sie rundweg der Verlogenheit bezichtigte; verlogen in ihrem Gesang, trügerisch in ihrem Seufzen, nur angeblich vorhanden, wenn man sie anrührte‟, Maurice Blanchot (1962): Die Begegnung mit dem Imaginären. In: Ders.: Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur. München: Hanser, S. 11–21, hier S. 12f. Deutlich werden hier die Sirenen bei Blanchot mit der trügerischen Fiktion verknüpft, und die Begegnung mit ihnen verheißt ebenfalls Erkenntnisse über das Imaginäre.
Canettis zweite Aufzeichnung verfolgt das Schicksal der Sirenen – hier nun eindeutig der mythologischen Geschöpfe – nach ihrer Begegnung mit den Menschen. Auch diese Aufzeichnung wirkt auf doppelter akustischer Ebene: In der Alliteration von Sterben und Stöhnen werden Tod und Gesang erneut miteinander verknüpft. Das Stöhnen der Sirenen wirkt in der Miniatur-Geschichte anziehend auf die anonymen Retter – und beschwört damit wiederum ihr Unglück herauf, das neuen Anlass für den zerreißenden Sirenengesang liefert. Die zirkuläre Struktur der Kurz-Fiktion liefert eine exakte und pointierte Explikation des Paradoxons von Tod und Überleben. Damit berichtet die Aufzeichnung sowohl aus der Perspektive der ewig Überlebenden als auch aus der des Todes selbst: Der Tod überlebt alles – verschlingt alles. In seiner mythischen Verkörperung bedeutet seine Macht jedoch zugleich seine eigene Qual. Die Aufzeichnung lässt keinen Schluss darüber zu, ob die Sirenen als todbringende Wesen ihre Retter überleben und durch das von ihnen verursachte Unglück selbst im Sterben liegen oder ob sie schlicht unsterblich sind und daher zum Überleben verdammt. Dieses Paradox betrifft aber auch den Überlebenden: Man darf eigentlich nie Sieger sein, sonst triumphiert man über den Tod der Anderen, wie aber weiterleben, ohne Sieger über den Tod zu sein? Vgl. dazu: Hädecke: Die moralische Quadratur.
Die personale Erzählsituation, die eines der grundsätzlichen Merkmale der Aufzeichnungen Canettis bildet, fällt auch in den beiden zitierten Aphorismen auf. Sie stellt mittels der Wiedergabe von Gefühlen und Gedanken einer Figur durch den Erzähler eindeutig die Fiktivität des Erzählten aus. Die erste Aufzeichnung schwankt zwar zwischen bedrohlicher Realität des Kriegsalltags als zeitgenössischer Referenz und mythischer Zeitenthobenheit. In beiden Fällen bleibt sie aber Gedankenwiedergabe im Modus der Fiktion. Canettis Sirenen sind nicht, oder zumindest nicht primär, Botinnen der Kunst, sondern eher des Todes, dank mehrfacher bedrohlicher, mythischer und zeitgenössischer Aufladung. Hinzu kommt, dass die Fiktion selbst – behält man trotzdem die Perspektive auf die Texte als Bestandteile einer wissenschaftlichen Versuchsanordnung bei – als Sirene für die Wissenschaft bezeichnet worden ist. Michel de Certeau erklärt sie in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive zur verlockenden, übertragenen Sinnstruktur, zu einer „semantischen Verirrung‟, die ins „Andere‟ hinüber zu gleiten droht. Sie sei eine Sirene, gegen die sich beispielsweise die Geschichtswissenschaft zur Wahrung wissenschaftlicher Eindeutigkeit zu schützen versuchte. Michel de Certeau (1997): Theoretische Fiktionen. Geschichte und Psychoanalyse. Hg. v. Luce Giard. Übers. v. Andreas Mayer. Wien: Turia + Kant, S. 36.
Verfolgt man diese Beobachtung de Certeaus weiter, dann steht das Sehnen der ersten zitierten Aufzeichnung auch für ein Sehnen des wissenschaftlichen Diskurses nach der Fiktion, die das Versprechen einer Todesüberwindung in sich trägt. Ist der Tod Fiktion, bis er real wird und das Leben beendet, kann nur in der Fiktion der Tod auf unendlicher Distanz gehalten werden. Canettis Sirenen werden zur Reflexionsfigur von Tod und Fiktion gleichermaßen. Denn während es nur in der Fiktion gelingt, sich dem Tod ganz zu nähern, borgt sich die Fiktion über den Einsatz der Sirenenfiguren vom Tod sowohl die verheißungsvolle Verlockung als auch die Bedrohung von Täuschung und Verirrung, die es lange besonders aus modernen Wissenschaftskonzepten auszugrenzen galt.
Zwar geht es Canetti nicht darum, die Konsequenzen einer Welt ohne Tod bis ins Letzte zu durchdenken, eingehend werden sie aber beispielsweise für Körper, Subjektkonstitution, Sprache, Macht und Herrschaft betrachtet. Eine Welt ohne Tod bedeutet darüber hinaus vor allem eine Welt radikal veränderter menschlicher Zeit. In einer Aufzeichnung formuliert er dazu:
Welchen Wert hat die Vergangenheit, um die du dich bemühst, wenn es keine Zukunft gibt? Oder kann man die Vorstellungen dieses Flusses in der Zeit ein für allemal abstellen, aus dem Kopf kriegen? Vorstellung einer Zeit, die wie ein Raum ist, mit Windrichtungen, ohne Fluß.
Die Vorstellung einer verräumlichten Zeit taucht in den Zeit und ihre Produktion durch die spezifische Messung und Einteilung, so schließt Canetti, sei schließlich eines der ausgeklügeltsten Artefakte des Menschen: „Das vollkommenste und furchterregendste Kunstwerk der Menschheit ist ihre Einteilung der Zeit.‟ (FP, 17)
Zudem tritt in der Fiktion einer im Raum aufgegangenen Zeit die Kategorie des Körperlichen in Form von simultanen Präsenzen im Raum hervor. Anhand der Texte, die Canetti in seinem Kapitel über die „Unsichtbaren Massen‟ in Dagegen leitet Canetti unter der Überschrift „Von den unsichtbaren Massen‟, neben der er den Kommentar „gänzlich unbrauchbar‟ notiert, die heutige Geschichtsschreibung erneut, wie in zahlreichen anderen Aufzeichnungen, von der Existenz der unsichtbaren Massen ab: „Die Ahnen als Masse in der Geschichte der Menschheit waren von ganz ungeheurer Bedeutung; ohne die Vorstellung von ihnen einzubeziehen ist manches historische(s) Ereignis überhaupt nicht zu erklären. Die G e s c h i c h t e, das was wir heute Geschichte nennen, die geschriebene, präzise, fortlaufende, fortgeführte Geschichte ist im wesentlichen das bewusstgewordene Zeitalter der Ahnen. Nicht umsonst sind es Chinesen, die die Form der Annalen ausgebildet haben. Bei den Indern, die an Seelenwanderung glaubten, denen die Ahnen also z e r s p l i t t e r t sind, war die Geschichte nie von wirklicher Bedeutung.‟ Canetti: Nachlass Zentralbibliothek Zürich 49.10,
Im Vgl. zur Kritik von Canettis aneignender Zitierpraxis kolonialer Quellen: Heyne (2020): Wissenschaften vom Imaginären, S. 239–295.
Die Versuchsanordnung zur verräumlichten Zeit erinnert zudem an aktuelle Theorieansätze, die nach der Verabschiedung der Zeitkonfiguration des sogenannten „historischen Denkens‟ nach neuen temporalen Modellen suchen. Im Unterschied zum hier entworfenen Modell lassen sich diese teils von kulturpessimistischer Sorge über eine „breite Gegenwart‟ Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht (2010): Unsere breite Gegenwart. Berlin: Suhrkamp. Ebd., S. 17.
Dies führt zurück zur spezifischen Zeitlichkeit des Experiments, die Canetti an diejenige einer Welt ohne Tod annähert. Beide zeichnen sich besonders durch eine spezifische „Breite‟ aus: „Wäre aber der Tod gar nicht da, so könnte einem nichts wirklich mißlingen; in immer neuen Versuchen könnte man Schwächen, Unzulänglichkeiten und Sünden wiedergutmachen‟ ([1949] BgT, 45). So würde eine Welt radikalisierter Räumlichkeit jenseits des Todes selbst zum Laboratorium, zu einem geschützten Raum endloser Versuche, die „noch nicht‟ zählen, immer wieder neu ansetzen können und dadurch auch Möglichkeiten für den Entwurf alternativer Gesellschaftsordnungen bieten.
In
Zugang zu den Mechanismen dieses sonst Unsichtbaren erhält er in Die Mücken fraßen ihn auf: Jetzt tanzt er, auf ihren Schwarm verteilt, in der Sonne.
Gegen den Tod werden Mannigfaltigkeiten gesetzt. Ging es zuvor um mannigfaltige, simultane Möglichkeiten im Raum jenseits eines kausalen Zeitstroms, so schlägt das Bild des blutsaugenden und menschenfressenden Schwarms eine alternative körperlich-tierische Organisationsform jenseits von menschlicher Individualität vor. Die in Canettis Aufzeichnungen stets wiederkehrende Erzählperspektive, die sich eines namenlosen „er‟ bedient, verfolgt hier dessen Auflösung. Dabei erlebt und erleidet er einen dreifachen Wechsel: vom Lebenden zum Toten und schließlich zur transformierten Wiederbelebung der Beute im Schwarm. Der Einzelne wird zum Mannigfaltigen. Und der Mensch zum Tier. All diese Verwandlungen nehmen gerade einmal eine einzelne Textzeile ein.
Die Aufzeichnung skizziert einen Gegenentwurf zur Theorie des machtvollen, mörderischen Einverleibens des Tieres durch den Menschen aus
Diese Transformation allein als Metapher einer spirituell-religiösen Auflösung im Kreislauf der Natur, als Rückkehr in organische Kreisläufe zu lesen, ist mit Blick auf Canettis Denken wenig kohärent. Er verwehrte sich einerseits selbst explizit dagegen: „Mir ist es wichtig, daß niemand Leben als Tod sehen könnte oder vermuten könnte, daß es eine höhere Synthese zwischen beiden gäbe, daß diese beiden Gegensätze zum Beispiel aufzuheben wären in einem Höheren, wozu nicht wenige religiöse Theorien neigen.‟, heißt es bei Canetti in einem Interview mit Joachim Schickel über seine Todfeindschaft (ARG, 258). Andererseits ist der Zustand einer Welt ohne Tod innerhalb seiner Experimente auch kein „höherer‟, erleuchteter, mystischer. Er ermöglicht vielmehr – und dies ist anhand der einzelnen Aufzeichnungen beobachtet worden – alternative, andere Gesellschafts-, Sprach- oder Lebensmodelle, die innerhalb der Mikro- und Miniaturfiktionen denkbar werden sollen. Matt: Nachwort, S. 325.
Laboratorien sind Sichtbarmachungsräume: Ihre Versuchsreihen zielen darauf ab, einen bestimmten Gegenstand durch seine Performanz, also durch seine spezifische Handlung, erst erkennbar und so definierbar zu machen. Aus dem Zusammenspiel von theoretischer Ausgangshypothese, mit der die Versuchsleiter*innen das Laboratorium betreten, dem Aufbau einer künstlichen Welt, in der ein Gegenstand verschiedenen Prüfungen und Bedingungen unterworfen wird, damit er seine Leistung zeigen kann, und dem abschließenden textuellen Bericht über das Experiment, emergiert im besten Fall ein bis dahin unsichtbares Element. Vgl. Andréa Belliger, David J. Krieger (2006): Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. In: Dies. (Hgg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: Transcript, S. 13–50, hier S. 31f.
Eine Pointe der Relektüre von Canettis Aufzeichnungen gegen den Tod liegt nun darin, dass in ihnen und ihrer wechselseitigen Hervorbringung von Versuchsanordnung und Tod aktuell virulente Diskurse vom textuellen Laboratorium, von Literatur und Experiment bereits theoretische Konturen annehmen. Der Tod, den Canetti im radikalen Gegensatz zu thematisch ähnlich gelagerten, zentralen sprach- und kulturtheoretischen Annahmen des 20. und 21. Jahrhunderts aus seiner Abwesenheit heraus zu verstehen versucht, konnte dadurch hier anhand seiner Texte weniger als absoluter Bruch und gesellschaftliche Störung betrachtet werden, denn als ein Akteur unter anderen, der erstens anziehende und abstoßende Wirkung entfaltet und dabei in seiner eigenen zirkulären Aporie gefangen bleibt; der zweitens Zeit-, Raum- und Gesellschaftsordnungen strukturierende Kraft besitzt; und drittens die Grenzen des Menschen zum Tierischen bestimmt und alternative, zur Vielheit geöffnete Entwürfe jenseits des Individuums verunmöglicht. Legt man die exemplarischen Probeläufe der Miniaturversuche nebeneinander, zeichnet sich eine Reihe von Funktionen, Eigenschaften, Wirkungen für Mensch, Tier, Denken und Gesellschaft ab, die sich zur Gestalt des Todes zusammensetzen lassen. Die Versuche innerhalb des Laboratoriums, das sich miniaturhafter Fiktionen und narrativer Elemente bedient, ermöglichen seine Emergenz. Im Text bekommt das „Ding‟ zudem eine schriftliche Spur. Vgl. Latour: Gebt mir ein Laboratorium, S. 126.
Ex negativo wird so der Tod bei Canetti als eine Figuration des Imaginären mittels des experimentellen Einsatzes der Fiktion sichtbar, zugleich sensibilisieren Canettis Versuchsanordnungen für die Prozesse im Inneren der (natur-) wissenschaftlichen Erkenntnisfabriken. Gerade an diesen Prozessen sind auch Überlegungen zum Experiment von literatur- und kulturwissenschaftlicher Seite interessiert. Sie gehen wie Canetti davon aus, es sei möglich, Menschen, (Experimental-)Praktiken, Räume wie das Laboratorium und Dinge wie den Gegenstand des Experiments mit textuellen Experimenten oder Gedankenexperimenten zu vergleichen. Ihr Ziel ist es dabei einerseits, die Fiktion als Erkenntnismedium, als Ursprung für Innovationen und als Möglichkeitsraum im Herzen von Wissenschaft und Literatur gleichermaßen Wie etwa Sigrid Weigel, die die Gleichursprünglichkeit von Literatur und Wissenschaft in der „facultas fingendi‟ vermutet: Sigrid Weigel (2004): Das Gedankenexperiment. Nagelprobe auf die Vgl. Thomas Macho, Annette Wunschel (2004): Mentale Versuchsanordnungen. In: Dies. (Hgg.): Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur. Frankfurt a. M.: Fischer, S. 9–14, hier S. 9f.
Canettis Aufzeichnungen reflektieren ihren sprachlichen Laboratoriumscharakter nun selbst immer schon mit und stellen ihn aus: Die Vorstellung verräumlichter Zeit jenseits der Sklaverei des Todes, in dem „einem nichts wirklich mißlingen‟, sondern „in immer neuen Versuchen‟ ([1949] BgT, 45) ein bestimmter Gegenstand so lange befragt werden kann, bis er sich schließlich zeigt, beschreibt nichts anderes als eine klassische Laboratoriumssituation. Dort denkt Canettis typische „Er‟-Erzählinstanz innerhalb einer Versuchsanordnung darüber nach, wie ein Raum geschaffen werden könnte, in dem sich dieser Probemodus verallgemeinern ließe. Dabei löst sich das Modell des Laboratoriums vom Tod ab und impliziert bereits die Möglichkeit, Versuchsreihen zur Emergenz anderer Akteure zu konzipieren. In einer Weltordnung, die den Tod überwunden hat, wäre dies vor allem ein gänzlich neues Menschen- und Gesellschaftmodell jenseits der Macht. Innerhalb der Miniaturfiktionen wird das Laboratorium demnach als allgemeines Weltmodell inszeniert. Zugleich weiß die Erzählinstanz immer schon, dass es noch nicht so weit ist, dass hier zwar ein Raum anderer Regelhaftigkeit erschaffen wird, dies aber eben immer nur in Sprache und Fiktion, in einer sprachlichen Welt im Kleinen. Durch ihren selbstreflexiven Einsatz von Fiktion und Versuch verweisen Canettis Texte auf die Mechanismen, Möglichkeiten und Grenzen sprachlicher Laboratorien.
Die Fiktion als Erkenntnisverfahren ist dann aus ihrer engen Verknüpfung mit der Literatur gelöst. Sie zielt weniger auf die Herstellung einer vollständigen innerfiktionalen Welt wie die literarische Fiktionalität, Andreas Kablitz schlägt in seiner Theorie der Literatur vor, die saubere Trennung der Begriffe von Fiktion und Fiktionalität zum elementaren Ausgangspunkt literarischer Fiktionstheorie zu erheben. Fiktion bezeichnet dann den ontologischen Status des Dargestellten als etwas Erfundenes, Ausgedachtes. Damit ist Fiktion gerade nicht auf die Literatur beschränkt, sondern umfasst im Wortsinn von Niklas Luhmann: (1997): Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 104.
Aus diesen Gründen ist im Zuge der noch immer anhaltenden literaturwissenschaftlichen Debatte um (das) Wissen und/der/in der Literatur das Experiment stark in den Fokus gerückt. Es gilt als „die Figur zugleich von Einheit und Differenz‟ Nicolas Pethes (2004): Poetik/Wissen. Konzeptionen eines problematischen Transfers. In: Neumann, Gerhard/Brandstetter, Gabriele (Hgg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 341–372, hier S. 371. Michael Gamper (2009): Zur Literaturgeschichte des Experiments. Eine Einleitung. In: Ders./Wernli, Martina/Zimmer, Jörg (Hgg.): „Es ist nun einmal zum Versuch gekommen‟. Experiment und Literatur I 1580–1790. Göttingen: Wallstein, S. 9–30, hier S. 13.
Canettis Aufzeichnungen stehen an der Schnittstelle zeitgenössischer Geistes- und Naturwissenschaften und versuchen, vor allem die Verfahren der Letzteren, unter anderem also Experiment und Versuch, für eine Untersuchung kultureller Phänomene, insbesondere des Imaginären zu nutzen. Zudem reflektiert, das ist immer wieder angeklungen, seine wissenschaftlich-literarische Experimentalpraxis bereits selbst die Funktionsweise und die theoretischen Implikationen des Experiments als „Medium einer Grenzüberschreitung‟. Pethes: Poetik/Wissen, S. 371.
Bei Canetti führt dieser punktuelle Einsatz, da wo er ihn von klassischen literarischen Formen wie etwa dem Drama löst, zu einer radikalen Verknappung der Form. Es lassen sich bei Canetti andere Verhandlungen des Experiments finden, die nicht mit formaler Verknappung einhergehen: Insbesondere seine Dramen, allen voran Hartmut Böhme (2006): Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 90. Vgl. auch Böhmes Zuspitzung des Experimentbegriffs, ebd., S. 85: „Experimente sind insofern Veranstaltungen, in denen sich auf kontrollierbare Weise menschliche Interventionen und Interessen mit den stummen Resonanzen der Dinge überkreuzen und zu historischen Gleichgewichten finden: Diese nennen wir Erkenntnisse‟.
Der emergente Tod zeigt sich als das Einzelne, das Unumkehrbare, das Starre und Finale. Dagegen setzen die Texte in scheinbar unendlichen neuen Anläufen das Vielgestaltige, Wandelbare und Plurale, gedoppelt und gespiegelt vom jeweiligen textuellen Verfahren. Canettis Aufzeichnungen weisen auf sprachliche Möglichkeiten hin, die sich der Fiktion bieten, gerade weil sie zwischen poetischem und experimentellem Gebrauch wechseln kann: Über eine Beobachtungsebene zweiter Ordnung ist es mit ihr möglich, Grenzen zu überschreiten, die sonst als gesetzte gelten, sich in der selbstreflexiven Beobachtung diese Transgressionen zunutze machen, um schließlich auch über die „letzte Grenze‟, die Grenzen des Lebens, hinauszugehen. Eine solche Sprache des Todes hat die Möglichkeit, ihre eigenen Grundbedingungen zu unterwandern und bleibt damit notwendigerweise immer auch utopisches Sprechen.
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