Much has been written about dreaming, but deep, dreamless sleep still seems to receive little attention within cultural studies and social science. This article analyses Georges Perec's
Keywords
- Schlaf
- Dissoziation
- Transformation
- traumloser Schlaf
- Bewusstsein
- Verschwinden
- Verwandlung
- Rückzug
- Abwesenheit
- Phänomenologie des Schlafs
Viel wurde in den Kultur- und Sozialwissenschaften über das Träumen gesagt Siehe etwa: Krozova, Alfred / Walde, Christine (Hgg.) (2014): Traum und Schlaf. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: J. B. Metzler; Kreuzer, Stefanie (2014): Traum und Erzählen. Paderborn: Wilhelm Fink; Lenk, Elisabeth (1983): Die unbewußte Gesellschaft. Über die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum. München: Matthes & Seitz; McNamara, Patrick (2008): Nightmares. The Science and Solution of Those Frightening Visions during Sleep: Westport: Praeger. Eine Ausnahme: Ahlheim, Hannah (2018): Der Traum vom Schlaf im 20. Jahrhundert: Wissen, Optimierungsphantasien und Widerständigkeit. Göttingen: Wallstein.
In Georges Perecs Später kommt der Tag deiner Prüfung, und du stehst nicht auf. Es ist kein vorbedachtes Handeln, es ist übrigens gar kein Handeln, sondern ein Nichthandeln, ein Handeln, das du unterläßt, das du vermeidest. Du hast dich früh schlafen gelegt, dein Schlaf ist friedlich gewesen, du hattest den Wecker aufgezogen, du hast ihn läuten hören, du hast mindestens einige Minuten darauf gewartet, daß er läutet, bereits von der Hitze geweckt oder vom Licht oder vom Lärm der Milchmänner, der Straßenkehrer oder von der Erwartung. Dein Wecker läutet, du rührst dich überhaupt nicht, du bleibst im Bett liegen, du machst die Augen wieder zu. Perec, Georges (2002): Ein Mann der schläft. München: dtv, S. 16.
Am Ende wird sich sein Rückzug als bedeutungslos herausgestellt haben. Eines Tages wacht der Student auf und kehrt in die Außenwelt zurück. Draußen ist alles so geblieben wie vor seinem Exil. Perec lässt seinen Helden daraus schließen, nichts aus seinem Rückzug gelernt zu haben. Perec 2002, S. 138. Perec 2002, S. 140.
Der Schlaf ist keine Verweigerung, kein Widerstand gegen etwas. Schlaf zu finden, das heißt, verschwinden zu können, in einem Rhythmus aufzugehen, der weder dem der anderen, noch ganz dem eigenen zugehörig ist. Für den Schlafenden verschwinden alle gesellschaftlichen Unterscheidungen und Grenzziehungen, wie sich auch alle persönlichen Gedankenspiralen und Obsessionen auflösen; trotzdem gibt es in diesem Zustand weder Widerstand noch Affirmation, fehlt doch das Subjekt, von dem Widerstand oder Affirmation ausgehen könnten. Und doch scheint dem Schlaf etwas Subversives innezuwohnen, verweist er doch, ohne in einer abschließenden Entscheidung aufzugehen, auf die Einheit der Differenz von Negation und Affirmation.
Offenbar erzielt der Schlaf diese Leistung unter anderem dadurch, dass er uns passiviert. Potenziell macht er jeden zum unbemerkt beobachtbaren und verletzlichen Objekt. Gerade deshalb ziehen wir uns zurück, wenn wir schlafen wollen und versuchen mitunter sogar, den Blicken der anderen zu entgehen; der Schlaf ist eine intime Angelegenheit, die nach einem privaten Raum verlangt. Es handelt sich um eine Auffälligkeit, die sich in ihrer ganzen Bedeutung gerade bei den Ausnahmen von dieser Regel erschließt: Jene, die während des Schlafs beobachtet werden, sind üblicherweise entweder Kinder oder durch totale Institutionen Infantilisierte (zum Beispiel Kranke, Pflegebedürftige oder Gefängnisinsassen). Hinzu kommen Menschen mit geringem sozioökonomischem Status, darunter natürlich vor allem Obdachlose: Menschen also, die dazu gezwungen sind, im öffentlichen Raum zu schlafen Vgl. dazu: Taylor, Brian (1993): Unconsciousness and Society: The Sociology of Sleep. In: International Journal of Politics, Culture and Society, 6/3, S. 466. „Ich verliere meine Zeit und gewinne meinen Raum.‟ (Schmitt, Carl (2015): Glossarium. Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1958. Berlin: Duncker & Humblot, S. 45)
Der Aufschub, den der Schlaf zu gewähren, die Kluft, die er zwischen einem Vorher und einem Nachher aufzureißen und fast spurlos zu schließen vermag, bleibt daher nicht immer ohne Wirkung. Montaigne erinnert in seinem kurzen Essay Montaigne, Michel de (1908): Über das Schlafen. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Zweiter Band. Essays 1. Buch. Siebenundzwanzigstes bis siebenundfünfzigstes Kapitel. Herausgegeben von Otto Flase Wilhelm Weigand. München/Leipzig: Georg Müller, S. 206–207. Montaigne 1908, S. 207. Montaigne 1908, S. 207. Vgl. Montaigne 1908, S. 209.
Nicht immer erschöpft sich also das Erwachen in der Erkenntnis darüber, dass der Rückzug in den Schlaf vergeblich war. In Ottessa Moshfeghs Moshfegh, Ottessa (2018): My Year of Rest and Relaxation. New York: Penguin, S. 26. Diese Vorliebe erinnert an eine Passage in der Lobpreisung des Schlafs in Nietzsches Zarathustra. Nachdem Zarathustra zu „Ehre und Scham vor dem Schlafe!‟ aufruft, gibt er auch einen Ratschlag, wie der „Mohn der Seele‟ herbeizuführen sei: „Sehr gefallen mir auch die Geistig-Armen: sie fördern den Schlaf. Selig sind die, sonderlich wenn man ihnen immer Recht gibt.‟ (Nietzsche, Friedrich (1999 [1891]): Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen. München: Wilhelm Goldmann, S. 25) The cadence of her speech was as familiar and predictable as the audio from any movie I’d watched a hundred times. That’s why I’d held on to her this long, I thought as I lay there, not listening. Since I’d known her, the drone of what-ifs, the seemingly endless descriptions of her delusional romantic projections had become a kind of lullaby. Moshfegh, 2018, S. 137.
Weshalb lässt sich das Bewusstsein vom Schlaf verführen, was drängt es zum Rückzug in die zum Dinglichen erstarrte Welt der Nacht? Moshfeghs Tagediebin scheint sich darüber nicht im Klaren zu sein, zumindest weiß sie keine überzeugenden Gründe für ihren Wunsch nach Ruhe anzugeben. Der existenzielle Abgrund, der sich vielleicht eröffnete, würde er ständig mit Betäubungsmitteln und dumpfer Unterhaltung zugeschüttet, wird zum Entspannungsbedürfnis trivialisiert und mit der emotionalen Wucht eines Wellness-Wochenendes versehen:
I took upwards of a dozen pills a day. But it was all very regulated, I thought. It was all totally aboveboard. I just wanted to sleep all the time. I had a plan. […] This is my year of rest and relaxation. Moshfegh 2018, S. 11.
Das „Einfach schlafen-wollen‟ benötigt keine nähere Begründung, da das Schlafbedürfnis in den meisten Fällen selbstevident ist – was spricht dann dagegen, diese Selbstevidenz auch künstlich herzustellen? Niemand wundert sich außerdem über ein besonders ausgeprägtes Schlafbedürfnis, scheint es doch der natürliche Konterpart zu dem Stress zu sein, den wir unseren Mitmenschen in einer von der Ideologie der Arbeit besessenen Gesellschaft aus Gewohnheit oder Höflichkeit unterstellen.
Beachtlich ist die sture Beharrlichkeit, mit der die Protagonistin versucht, sich dem Wachzustand zu entwinden; ihre Verbissenheit könnte an ein in die Falle geratenes Tier erinnern, das sich in seiner Verzweiflung zu retten erhofft, indem es die Gliedmaße amputiert, die es gefangen hält. Nur, dass in Moshfegh 2018, S. 179.
Die Protagonistin ist sich darüber bewusst, dass dieser Schlaf auch den Tod bringen könnte, und doch sollten keine voreiligen Schlüsse gezogen werden. Der Winterschlaf, den Moshfeghs Tagediebin anstrebt, mag das Symptom einer tiefen, unerkannten Depression sein, man machte es sich aber zu einfach, dieses unbedingte Schlafenwollen als Todessehnsucht, als einen die Trägheit auskostenden Suizidversuch abzustempeln. Schon der junge Foucault hob vor allem die affirmativen, zum Leben strebenden Elemente des Schlafs hervor, als er feststellte:
Der Schlaf geht auf das Leben zu, das er vorbereitet, skandiert und begünstigt. Wenn er dem Tod ähnelt, so ist das eine List des Lebens, das nicht sterben will. Der Schlaf spielt den Toten – aus Angst vor dem Tod; er gehört zur Ordnung des Lebens. Foucault, Michel (1992 [1954]): Einleitung. In: Binswanger, Ludwig: Traum und Existenz. Bern/Berlin: Gachnang & Springer, S. 53.
Auch deshalb, so Foucault, sei „[...] nichts irreführender als die traditionelle naturalistische Auffassung vom Schlaf als Anschein des Todes‟. Foucault 1992 [1954], S. 55. Husserl, Edmund (2006): Späte Texte über die Zeitkonstitution (1929–1934). Die C-Manuskripte. Dodrecht: Springer (= Husserliana; 8), S. 103.
Wenn der Schlafende erwacht, wird er, selbst wenn die Dunkelheit ihn seiner biographischen Erinnerung beraubt haben sollte, aufgrund seiner leiblichen Wiedererinnerung zu sich zurückkehren. So berichtet der Psychologe Marc Wittmann von einem morgendlichen Erwachen, zu dessen Beginn er nicht gewusst habe, „[...] wer ich war und wo ich war. Ich war. Daran erinnere ich mich. Aber ich wusste nicht, wer erwachte‟. Wittmann, Marc (2015): Wenn die Zeit stehen bleibt. Kleine Psychologie der Grenzerfahrungen. München: C. H. Beck, S. 7. Wittmann 2015, S. 9.
Die Aussicht darauf zu erwachen, in gewisser Weise sich selbst zu überleben und doch auch derselbe zu bleiben, ruft eine interessante Möglichkeit hervor, über deren Realität hier vielleicht weniger zu sagen ist als über ihre phantasmatische Kraft: Ist es vorstellbar, dass der Schlaf, zusammen mit dem Vergessen, das er bringt, die Entzweiung unserer psychosozialen Identität von unserer leiblichen Erfahrung wieder zu schließen ermöglicht, dass er die tiefe – durch die Kluft der biographischen Traumata oder die Verstrickung in Narrative entstandene –Entfremdung von Ich-Identität und leiblichem Kernselbst zu mildern vermag?
Moshfeghs Roman gibt auf diese Frage eine klare Antwort und sollte in meinen Augen als Erkundung dieser Möglichkeit gelesen werden. Ihren Winterschlaf gestaltet die Schläferin denkbar radikal: Im Gegensatz zum ersten Teil des Romans, in dem sie dem Schlaf kontinuierlich mehr Raum in ihrem Leben einräumt, verzichtet sie von nun an auf die Ablenkung mithilfe von Filmen und Trash-TV; kein Gesicht, keine Geschichte, nichts soll sie in ihrer Eremitage stören können. Sie geht sogar so weit, ihre Wohnung leerzuräumen: Die Wände sollen weiß und leer sein, blank wie der betäubte Verstand. All das, was eine Erinnerung ermöglichen, einem Gedanken zuträglich sein könnte, verschwindet in schwarzen Müllsäcken: „The deep sleep I would soon enter required a completely blank canvas if I was to emerge from it renewed.” Moshfegh 2018, S. 174.
Das Ziel des Schlafs, wie er in Moshfeghs Roman angestrebt wird, ist eine Dekonstruktion, die von einer Wiedergeburt und einem Erwachen begleitet werden soll. Perecs Protagonist und Moshfeghs Heldin eint der Wunsch nach tiefem Schlaf; aber die beiden ähneln sich auch aufgrund ihrer dahinschwelenden Traumata, die sich kaum fassen lassen, da sie uns als Lesern allenfalls wie in Watte verpacktes Glas präsentiert werden, entrückt und vor jeder Berührung geschützt. Beide Charaktere werden uns als schwer fassbare Zeitgenossen präsentiert: Perecs Protagonist erlebt eine Entfremdung, die kaum begründet wird, es sei denn durch einen existentialistisch angehauchten Lebensüberdruss; im Fall von Moshfeghs Protagonistin erfahren wir vom erst wenige Jahre zurückliegenden, tragischen Tod beider Eltern; die Heldin quittiert diesen Schicksalsschlag mit der Bemerkung, ohnehin nie eine besonders innige Beziehung zu ihren Eltern gehabt zu haben. Beide Protagonisten befinden sich in einem Schwebezustand, der sie nicht nur von der Welt, sondern von ihren Gefühlen losgelöst hat, als seien sie damit der Gefahr entgangen, zum Spielball emotionaler Kräfteeinwirkungen zu werden, die aufgrund ihrer unerträglichen Gewaltsamkeit in einen Bereich außerhalb jeglicher bewussten Wahrnehmbarkeit verbannt werden mussten.
In der Psychoanalyse wird der ursprünglich von Pierre Janet eingeführte Begriff der Dissoziation verwendet, um diesen Zustand zu beschreiben: Es handelt sich um einen Zustand, in dem Gedanken, Gefühle und Erinnerungen von der bewussten psychischen Tätigkeit abgespalten werden. Berlin, Heather A./Koch, Christof (2009): Consciousness Redux: Neuroscience Meets Psychoanalysis. In: Scientific American Mind, 20/2, S. 18. Dissoziation ist ein früher Abwehrmechanismus, der als solcher daran beteiligt ist, die Selbstgrenzen sicherzustellen und aufrechtzuerhalten. (Northoff, Georg (2011): Neuropsychoanalysis in practice: Brain, Self and Objects. Oxford: Oxford University Press, S. 281) Bromberg, Philip M. (2011): The Shadow of the Tsunami and the Growth of the Relational Mind. London: Routledge, S. 15.
Dieser Umstand legt nahe, sich zu überlegen, wie die beiden Schlafenden in unseren Romanen mit ihrer Dissoziation umgehen. Beide erleben ihre Dissoziation nicht nur als ein temporäres Symptom, als das Resultat eines Traumas, das bewältigt werden kann, vielmehr gehen sie ein Verhältnis mit ihrer Dissoziation ein, bejahen diese, identifizieren sich mit ihr sogar. Sie legen es darauf an, selbst zu der Leere zu werden, die sie fühlen. Und wie könnte sich diese Leere sowohl im Leben als auch in der Literatur besser herstellen und repräsentieren lassen als durch den traumlosen Schlaf? Der Schlaf ist Abspaltung, Dissoziation von Tagleben und biographischem Selbst, aber der Schlaf ist auch in neuro-biologischer Hinsicht ein dissoziativer Zustand, insofern er mit der Desintegration, Entdifferenzierung bzw. Modularisierung von Hirnaktivitäten über die verschiedenen Gehirnregionen hinweg einhergeht Hobson, Allan J.(2014): Lecture III: Philosophy. In: Hobson, Allan J./Tranquillo, Nicholas (Hgg.): Dream Consciousness. Allan Hobson’s New Approach to the Brain and Its Mind. Cham, Heidelberg New York, Dordrecht, London: Springer, S. 58–59. Siehe auch: Demertzi, Athena/Whitfield-Gabrieli, Susan (2016): Intrinsic Brain Activity and Consciousness. In: Laureys, Steven/Gosseries, Olivia/Tononi, Giulio (Hgg.): The Neurology of Consciousness. Cognitive Neuroscience and Neuropathology. Amsterdam/Boston/Heidelberg/London: Elsevier, S. 106.
Auch in phänomenologischer Hinsicht sind die Leere und die Selbstaufgabe, die der Schlaf einfordert, nachvollziehbar. So hat Maurice Merleau-Ponty eindrucksvoll beschrieben, wie wir während des Einschlafens in gewisser Weise selbst zu unserem Schlaf werden, indem wir diesen nachahmen, bis wir eine ununterscheidbare Einheit mit ihm bilden:
So gibt es einen bestimmten Augenblick, in dem der Schlaf ‚kommt′: er überlagert sich jener Nachahmung seiner, die ich ihm darbot, es gelingt mir zu werden, was ich zu sein fingierte: diese blicklose und fast gedankenlose Masse, wie festgenagelt an einen Punkt des Raumes. Merleau-Ponty, Maurice (1965): Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: Walter de Gruyter, S. 196.
Wenn wir unseren Schlaf nachahmen, um in ihm zu versinken, fällt die Leere, die manche von uns auch im Wachzustand empfinden, ineins mit dem dimensionslosen Nichts des Schlafs.
In I sensed Reva’s misery in the room with me. It was the particular sadness of a young woman who has lost her mother—complex and angry and soft, yet oddly hopeful. I recognized it. But I didn’t feel it inside of me. The sadness was just floating around in the air. It became denser in the graininess of shadows. Moshfegh 2018, S. 92.
Moshfegh arbeitet sehr genau heraus, auf welche Weise ihre Heldin den Horror dieses Augenblicks gerade nicht empfindet: Die Protagonistin nimmt die Gefühle ihrer Freundin zwar wahr, empfindet sie aber nicht, sie werden nicht Teil ihres Erlebens, sie führen weder zu Anteilnahme noch zur Trauer über die eigenen Verluste. Die immer wieder von Schüben klarster Reflexionsfähigkeit heimgesuchte Protagonistin gelangt zu dem Schluss, dass ihre Gefühle nur eine intellektuelle Existenz gehabt hätten: „I felt nothing. I could think of feelings, emotions, but I couldn’t bring them up in me. I couldn’t even locate where my emotions came from. My brain? It made no sense.‟ Moshfegh 2018, S. 94. Moshfegh 2018, S. 126. Husserl 2006, S. 98. Husserl 2006, S. 98.
Die Entkopplung von dem Wachzustand, dessen Ruhe und Gleichgewicht potenziell immer durch einen Hagelsturm von Reizen und Gefühlen bedroht ist, scheint aus dieser Perspektive ein naheliegender Wunsch zu sein. Aber der Wunsch nach Schlaf ist auch nicht einfach mit einem wie auch immer interpretierten Todestrieb gleichzusetzen. Denn wer schläft, kann auch erwachen.
Das ist die Wette: Der Schlaf impliziert die Möglichkeit eines radikalen Erwachens. An einem Tag ihrer 120 Tage währenden Quarantäne wird die Heldin von einem Rinnsal an ihrem Hals geweckt: Die Tagwandlerin schließt daraus, geweint zu haben. Moshfegh 2018, S. 186. [...] im Augenblick der völligen Passivität des Helden, da gleichsam die tragische Zeit wie eine Blume aufbricht [...]. Denn nicht selten sind es die völligen Ruhepausen, gleichsam der Schlaf des Helden, in dem sich das Verhängnis seiner Zeit erfüllt, und gleichermaßen tritt die Bedeutung der erfüllten Zeit im tragischen Schicksal in den großen Momenten der Passivität hervor: im tragischen Entschluß, im retardierenden Moment, in der Katastrophe. Benjamin, Walter (1991): Trauerspiel und Tragödie. In: Ders.: Gesammelte Schriften Band II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 135.
Wie Perecs Protagonist beendet auch Moshfeghs Tagwandlerin ihr selbstgewähltes Exil, um nach draußen zu gehen, doch die Lehren, die Perecs Held zieht („[...] du hast dich nicht geändert. Die Gleichgültigkeit hat dich nicht anders gemacht‟), verkehrt sie in das Gegenteil:
There was majesty and grace in the pace of the swaying branches of the willows. There was kindness. Pain is not the only touchstone for growth, I said to myself. My sleep had worked. I was soft and calm and felt things. This was good. This was my life now. […] I could move on. Moshfegh 2018, S. 194.
Und doch handelt es sich – schon aufgrund der Katastrophe, die am Ende der Erzählung steht – um kein märchenhaftes Ende, um keinen Dornröschenschlaf. Dagegen ist es vielleicht vielversprechender, die Nicht-Identität des Schlafenden mit seiner Wach-Identität in einem Wechselspiel zu denken, das auch die Entwicklung eines Bruchs ermöglicht. Denn es ist doch beachtenswert: Die erste Unterscheidung, die durch den Schlaf ermöglicht wird, ist nicht in erster Linie die Unterscheidung zwischen Realität und Traum, sondern zwischen
In der Religionsgeschichte ist diese Theorie, die Nähe von Traum- und Wachzustand, seit jeher bekannt. Gnostische Strömungen legen so etwa nahe, dass der Mensch im Wachzustand nichts anderes sei als ein Schlafwandler, der nichts von seinem Schlafen weiß. Jonas, Hans (2008): Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes. Frankfurt a.M.: Verlag der Weltreligionen, S. 97. Zitiert nach: LaBerge, Stephen/Rheingold, Howard (2014): Träume, was du träumen willst. Die Kunst des luziden Träumens. München: mvg, S. 22–23. Llinás, Rudolfó R./Paré, David (1991): Of Dreaming and Wakefulness. In: Neuroscience, 44/3, S. 531.
Wenn Träumen und Wachen nicht scharf voneinander geschieden werden können, wenn diese Zustände Geschwister sind, kommt es dem traumlosen Schlaf vielleicht nicht nur zu, eine allzu innige Verbindung aufzutrennen, sondern auch, das eigentliche Andere dieser Verbindung zu sein. Die Ich-Erzählerin in I didn’t talk to myself in my head. There wasn’t much to say. This was how I knew the sleep was having an effect: I was growing less and less attached to life. If I kept going, I thought, I’d disappear completely, then reappear in some new form. This was my hope. This was the dream. Moshfegh 2018, S. 59.
Im traumlosen Schlaf wird der Körper objektiv, er geht nahezu vollkommen in der Welt auf und verfällt einem vegetativen Seinsmodus. Der Schlafende ist ganz Körper. Aber ein Körper, den niemand mehr hat. Der Schlaf entkoppelt uns auf denkbar radikale Weise von der Welt, unseren sozialen Verbindungen und unserer Subjektivität, die ihrerseits ein Effekt verschiedenster soziokultureller und psychischer Kräfteeinwirkungen ist. Erinnert sei an dieser Stelle auch an Agilulf, den unsichtbaren Ritter in Italo Calvinos Roman: Der unsichtbare Ritter schläft niemals, da er reine Funktion ist. (Vgl. Calvino, Italo (2004): Der Ritter, den es nicht gab. München: dtv. Zur Frage nach der Erinnerungsfähigkeit und Bewusstheit des traumlosen Schlafs: vgl. Thompson, Evan (2015): Waking, Dreaming, Being. Self and consciousness in neuroscience, meditation, and philosophy. New York: Columbia University Press 2015.
Während unseres Erwachens erleben wir, wie wir selbst in das Medium der Wahrnehmung zurückkehren, wie sich das Wahrnehmungsfeld ausdehnt, gelenkt von unseren Affekten und Bedürfnissen. Wir verorten uns zeitlich und räumlich und flechten unsere Erinnerungen und Erwartungen, unsere sozialen und psychischen Identitäten wie einen Zopf um das Erleben unserer Gegenwärtigkeit. Husserl stellt so etwa fest:
Erwachend springe ich auf und springe sozusagen in meinen Willen hinein [...] der Wahrnehmungsakt ist zugleich meine Vorhabe, fundierend als die, in der ich durch den Schlaf [...] unterbrochen bin. Husserl 2006, S. 305.
Wie Husserl schreibt, erscheint uns ein waches Gegenüber keineswegs nur als Körper, sondern als erfahrendes, von einem Innenleben beseeltes Subjekt, in dem sich „Horizonte möglicher Erfahrungen‟ abzeichnen. Wenn wir einen Schlafenden vor uns haben, stellt sich dieser daher vor allem als schiere „Potenzialität des Erwachens‟ dar. Husserl 2006, S. 418. Nun muss ich aber scheiden: sozusagen mein ernstliches Ich-Vermag (die wirkliche Könnensgewissheit) und ein merkwürdiges Nicht-Ernstliches. Wenn ich schlafe, schlafen meine Vermögen; im Schlaf kann ich eigentlich‹ nicht – nur so, dass ich erwachen könnte oder geweckt werden könnte von Anderen, aber das ist nicht mehr das vermögliche Können. Husserl 2006, S. 429.
Der Schlaf ist aus dieser Perspektive betrachtet zugleich totale Beschränkung und totaler Überschwang an Möglichkeiten. In Moshfeghs Heldin drückt sich diese Dialektik auf besonders eindrucksvolle Weise aus: Die junge Frau hat die alltäglichen Beschränkungen des Wachens – wie sie aus unseren Persönlichkeitsstrukturen, sozialen Verpflichtungen oder ideologischen Verstrickungen hervorgehen – verschlafen.
Der tiefe Schlaf konsumiert das Ich wie eine Flamme, aber wir könnten auch fragen, was von diesem Verbrennungsvorgang übrigbleibt. Schon Leibniz schreibt über den traumlosen, weitgehend jeder Perzeptionsfähigkeit beraubten Schlaf, dass „die Seele‟ sich in diesem „[...] nicht merklich von einer einfachen Monade‟ Leibniz, Gottfried W. (1998): Monadologie. Stuttgart: Reclam, S. 21.
Eine interessante Möglichkeit entsteht etwa dann, wenn eine Leibidentität, die eine Art von Protoselbst und eine primordiale Wahrnehmungsfähigkeit herausbildet, von einem alltäglichen Selbst unterschieden wird. Husserl spricht diesbezüglich von der Möglichkeit, dass es ein „Schlafend-Sein als monadisches und ichliches Sein‟ geben könnte, auch wenn wir uns an dieses nicht erinnern. Husserl 2006, S. 445. Thompson 2015, S. 295. Vgl. auch: Fuchs, Thomas (2017): Self across time: The diachronic unity of bodily existence. In: Phenomenology and the Cognitive Sciences, 16/2, S. 291–315. Thompson 2015, S 295. Vgl. auch George Gillespies gleichartige Beschreibung des Tiefschlafs in den Upanishaden: Gillespie, George (2002): Dreams and dreamless sleep. In: Dreaming, 12/4, S. 200–201. Thompson 2015, S. 296. Thompson 2015, S. 304. Thompson 2015, S. 304. Thompson 2015, S. 307. Thompson 2015, S. 308. Tononi, Giulio/Laureys, Steven (2008): The Neurology of Consciousness: An Overview. In: Dies. (Hgg.): The Neurology of Consciousness. Cognitive Neuroscience and Neuropathology. Amsterdam: Elsevier, S. 388.
Im Vergleich dazu: Die Schlaflosigkeit führt zum Verlust von Identität und Welt. In der Schlaflosigkeit verliere ich mich. Aber es handelt sich um ein sich Verlieren, das vom Schlaf different ist.
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