Der 54. Deutsche Geographentag fand im Herbst 2003 auf Einladung der Schweizer Kollegen in Bern statt. In Anbetracht einer langen Tradition des Forschungsfeldes Alpen wurde als Leitthema „Alpenwelt – Gebirgswelten: Inseln, Brücken, Grenzen“ gewählt. Die Schirmherrschaft hatte die „Deutsche Gesellschaft für Geographie“ inne, unterstützt durch den „Verband Geographie Schweiz“ und die „österreichische Geographische Gesellschaft“. Ein Jahr nach dem von der UNO ausgerufenen „Int. Jahr der Berge 2002“ boten zahlreiche Fachsitzungen, Vorträge, Exkursionen und Ausstellungen die Gelegenheit, wissenschaftliche Ergebnisse der Alpenforschung zu präsentieren und zu diskutieren. Einmal mehr erwies sich der Alpenraum, auch im Staatsgrenzen überschreitenden Bezug, als geeignetes Forschungsobjekt für das Studium von Mensch-Umwelt-Systemen.
Eine eigene Diskussionsveranstaltung war dank der Initiative von W. Bätzing dem Thema „Alpenkonvention – ein Schritt in Richtung einer europäischen Berggebietspolitik?“ gewidmet. Dabei sollte vor allem ihre Bedeutung aus der z.T. sehr divergierenden Sicht der verschiedenen Alpenländer angesprochen werden. An der Podiumsdiskussion nahmen unter der Leitung von Prof. Dr. W. Bätzing als Experten der einzelnen Vertragsstaaten teil:
Dr. Françoise Gerbaux, CNRS Grenoble Dr. F. Dollinger, Abt. Raumplanung, Salzburg, ehemaliger Experte Österreichs beim EUREK-Prozess Prof. Dr. A. Gosar, Inst. für Geographie, Univ. Koper/ Ljubljana R. Gschöpf, Wiss. Referent der Grünen im öst. Parlament, Wien Prof. Dr. Dr. h.c. K. Ruppert, Inst. für Wirtschaftsgeographie, Univ. München, Mitglied des Landesplanungsbeirates Bayern Prof. Annibale Salsa, Univ. Genua, Vizepräsident des Italienischen Alpenclubs CAI
Vorbereitend waren als Grundgerüst für die Diskussion drei Leitfragen formuliert, von denen zwei einer intensiven Aussprache zugeführt wurden:
Welches sind die Gründe für die Blockade der Alpenkonvention (Ak) aus der Sicht des jeweiligen Staates? Dabei sollten auch das Problem ihrer „integrativen“ Dimension, ihres Stellenwertes im staatlichen Kontext, außenpolitische Schwierigkeiten und die Bedeutung des mentalen Bildes der Alpen für die Ak angesprochen werden. Wie können die Blockaden bei der Alpenkonvention überwunden werden? Hier sollte der Bezug zu verschiedenen politischen Ebenen hergestellt werden. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Ak und alpenweiten Initiativen bzw. Netzwerken wurde vom Diskussionsleiter aufgrund der Ergebnisse der Vorbefragung zurückgestellt.
Ohne hier näher auf den Inhalt der Ak eingehen zu können sei zur Orientierung für den Leser nur daran erinnert, dass die sich schon Jahrzehnte hinziehende Diskussion um eine Alpenkonvention (seit Beginn der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts) zu einem völkerrechtlichen Vertrag führte, einer Rahmenkonvention „Übereinkommen zum Schutz der Alpen (Alpenkonvention), die von den Vertragspartnern Österreich/ Schweiz / Deutschland / Frankreich / Italien / Liechtenstein / Slowenien und der EU, am 7.11.1991 in Salzburg auf der 2. Alpenkonferenz unterschrieben wurde, später auch von Monaco. Sie trat im Laufe der 90er Jahre in Kraft.
Neben den Formalia der Zusammenarbeit, Beschlussfassung usw. wurde als Anwendungsbereich eine eigene Gebietsabgrenzung festgelegt. Den wesentlichen Inhalt benennen Allgemeine Verpflichtungen (Art. 2), die „…eine ganzheitliche Politik zur Erhaltung und zum Schutz der Alpen unter ausgewogener Berücksichtigung der Interessen aller Alpenstaaten…“ auch unter Betonung einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zum Ziel haben.
Art. 2 (3) bestimmt ferner, dass die Vertragsparteien Protokolle vereinbaren, in denen die Einzelheiten zur Durchführung des Rahmenvertrages fixiert werden. Bisher wurden folgende Protokolle erstellt:
Raumplanung und nachhaltige Entwicklung Berglandwirtschaft Naturschutz und Landschaftspflege Bergwald Tourismus Bodenschutz Energie Verkehr Beilegung von Streitigkeiten
Für die weiter vorgesehenen Bereiche: Bevölkerung und Kultur / Luftreinhaltung / Wasserhaushalt / Abfallwirtschaft fehlen bisher entsprechende Aussagen. Derzeit sind lediglich in Deutschland/Österreich und Liechtenstein alle Protokolle in Kraft getreten. Einen guten Überblick über Entwicklung, Inhalt und Stand (2003) gibt das von P. Hasslacher herausgegebene VADEMECUM Alpenkonvention sowie die viersprachige COLLECTIO Alpenkonvention (2004). Zur weiteren Information sei u.a. auf die Autoren Hasslacher (2003), Köhler (2003), Speer (2001) verwiesen, im Anschluss an das „Int. Jahr der Berge 2002“ auf Ruppert 2003.
Die Ak wurde in den ersten Nachkriegsjahrzehnten vor dem Hintergrund sich rasch verändernder Raumstrukturen konzipiert. Die Befürchtung, dass die zunehmende Freiflächeninanspruchnahme, beschleunigte Prozessabläufe und irreversible Veränderungen die alpine Raumsituation nachteilig beeinflussen würden, rief zahlreiche Initiativen ins Leben, die vor allem den Schutz und die Erhaltung, weniger die Entwicklung der Alpen zum Ziel hatten. Das wachsende Umweltbewusstsein bot in zahlreichen Kongressen, Publikationen, Zusammenschlüssen usw., die allerdings oft nur ephemeren Charakter trugen, einen günstigen Resonanzboden. Deutlicher machten sich die Initiativen der Schutzverbände, insbesondere die Aktivitäten der CIPRA bemerkbar.
Von Bayern wurde bereits 1972 im Vorgriff auf das erste Landesentwicklungsprogramm als Rechtsverordnung der „Teilabschnitt Erholungslandschaft Alpen“ in Kraft gesetzt – oft missverständlich als „Alpenplan“ bezeichnet – der die Bayerischen Alpen in drei Zonen unterschiedlicher Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur gliederte, zweifellos ein Erfolg für die ordnende Hand der Landesentwicklung. Eine gemeinsame Bekanntmachung des Innen- und des Landesentwicklungsministeriums 1972 schrieb die Berücksichtigung der Erfordernisse der Landesplanung auch für die Bauleitplanung zur Steuerung der Sielungsentwicklung in den Alpen und im Alpenvorland vor. Beide Verordnungen trugen schon zu Beginn der 70er Jahre dem Schutzgedanken Rechnung.
Im Gegensatz zum Text der Rahmenkonvention, der sehr allgemein gehalten – ohne allzu große Schwierigkeiten akzeptiert wurde, waren und sind die Durchführungsprotokolle in den einzelnen Ländern in unterschiedlicherweise einer heftigen Diskussion ausgesetzt. Während das Bemühen um die Erhaltung eines ökologisch sensiblen Raumes allgemein eine positive Resonanz erfuhr – es ist zweifellos das Verdienst der CIPRA auf diese Problematik immer wieder hingewiesen zu haben – machte sich andererseits die Sorge vor zu erwartenden Einschränkungen und besonders das Fehlen des Entwicklungsgedankens bei der Alpenbevölkerung bemerkbar. In der Schweiz war gar von einer „Ballenbergisierung“ (Ballenberg = Heimatmuseum im Kanton Bern) die Rede. Das Spannungsverhältnis zwischen Schützen und Nützen bestimmt oft noch heute die Diskussion.
Vor diesem Hintergrund fand auch die Berner Diskussion statt. Aus der zumeist kritischen Sicht der Diskutanden kam besonders die Schutzlastigkeit des Vertrages zur Sprache. Mehrfach wurde die Sorge um die Einschränkung lokaler Kompetenzen durch übergeordnete Instanzen sichtbar. Dabei sprach die italienische Seite den besonderen Status der Autonomen Regionen und deren hohe Selbstständigkeit an, die französische Seite die Bedeutung der durch das Berggebietsgesetz den Regionen eingeräumten selbstständigen Entscheidungsmöglichkeiten. Auch der fehlende Bezug zu staatlichen Gesetzen und Planungen trat offen zu Tage, ebenso die ungenügende Berücksichtigung der unterschiedlichen föderalen Strukturen der Alpenstaaten. Generell wurde davor gewarnt, die Bedeutung der Ak zu überschätzen, da ihre Bewertung sogar in den eigentlichen Alpenstaaten nicht an erster Stelle der Agenda steht.
Aus dem speziellen Blickwinkel der einzelnen Vertragsstaaten wurden u.a. noch zusätzlich als wichtige Fakten genannt:
Umsetzungsschwierigkeiten bei den Durchführungsprotokollen in Österreich, auch die Abstinenz der EU, die Sorge vor weiteren Top-down-Instrumenten und der Einschränkung der Wirtschaft in der Schweiz, neben den Überschneidungen mit den durch das Berggebietsgesetz gewährten Befugnissen besonders die Nichtbeachtung der lokalen Behörden und Interessenvertreter in Frankreich, die vorwiegend auf den mediteranen Raum ausgerichtete Sichtweise Italiens, die sinkende Bedeutung der Ak, die früher ein wichtiges Bindeglied zum Westen war, durch die Aufnahme des Landes in die NATO und die EU in Slowenien, die weiterreichenden Festlegungen im Bayerischen LEP, das selbst in der 4. Fassung 2003 keine Einarbeitung der Ak für nötig befand.
Leider konnten in der Diskussion nur allgemeine Themenschwerpunkte angesprochen werden, kaum der Inhalt der Protokolle. Von deutscher Seite wurde diesbezüglich noch zu Bedenken gegeben, dass
die Berücksichtigung der für den Alpenraum so typischen regionalen Differenzierung, jenes Mosaik von Physis, Lebensraum und Mentalität der Bevölkerung, zumeist fehlt, Entwicklungsgesichtspunkte (z.B. Arbeitsmärkte/ Siedlungsstrukturen usw.) mit Ausnahme des akzeptablen Raumplanungsprotokolls nicht ausreichend angesprochen werden, das Fehlen einer Konfrontation der Protokollinhalte ein nicht gering zu schätzendes Versäumnis darstellt (vorbildlich die Leitbilddiskussion in der Schweiz zu Beginn der 70er Jahre) und die fehlende Widerspruchsfreiheit u.a. in der unterschiedlichen Interpretation des sowieso problematischen Nachhaltigkeitsbegriffs in den Protokollen Naturschutz/ Raumplanung/Verkehr sichtbar wird, die Bedeutung überregionaler Verflechtungen mit den alpenperipheren Räumen zu kurz kommt, nicht alle Protokolle genügend wissenschaftlich durchdacht sind, wie sich z.B. in einer Formulierung des Art. 17 des Naturschutzprotokolls bezüglich eines Ansiedlungsverbotes zeigt, wo es heißt „… die Vertragsparteien gewährleisten, dass wild lebende Tier- und Pflanzenarten, die in einer Region in einer überschaubaren Vergangenheit nicht natürlich Vorkommen, dort nicht angesiedelt werden… “, genauere Angaben über die Bereitstellung finanzieller Mittel durch die Öffentliche Hand fehlen, die zur Verwirklichung bestimmter Forderungen nötig sein sollen.
Schließlich muss immer wieder betont werden, dass die Raumsituation in den Alpen nicht losgelöst von den Sorgen des gesamten Lebensraumes der einheimischen Bevölkerung gesehen werden darf, die bei der Entfaltung ihrer Grunddaseinsfunktionen den alpinen Raum unter Beachtung ökologischer Grenzsituationen gestalten. Leider wird auch bisweilen übersehen, dass die Alpengebiete oft sehr unterschiedlichen Gesetzesnormen unterliegen. Die alpine Identität, die durch einheitliche zentrale Vorgaben überall und in gleicher Weise gesteuert werden könnte, gibt es nicht. Überdies ist die Behandlung der Alpen als „bien commun“, wie es Raffestin (1996) zurecht diskutierte, mehr als problematisch.
Wenn in der Berner Diskussion die kritischen Gesichtspunkte überwiegend im Vordergrund standen, so wird man doch respektieren, dass durch die Ak für das Nachdenken über problematische Raumsituationen im Alpenraum eine Plattform geschaffen wurde, ein verbesserter Informationsfluss möglich ist, eine Hilfe bei der Durchführung von Entwicklungsprojekten geboten werden kann. Zur Beseitigung von Blockaden ist aber die betroffene Bevölkerung viel stärker in die Diskussion einzubeziehen. Hier muss noch viel Misstrauen u.a. durch bessere Verdeutlichung der Ziele der Ak ausgeräumt werden. Man wird aber auch dann nicht übersehen, dass die Ak eine „…sorgfältige Raumordnungspolitik der Alpenländer nicht ersetzt“ (Lendi 1999 S.189). Ein Alpenentwicklungsplan oder eine überall und in gleicher Weise anwendbare konzeptionelle Raumordnungsvorstellung ist sie nicht.